Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

V. Wolkoff - Kritik

Wolkoff trat 1905 in mein Leben ein, da ich den Spätherbst und einen Teil des Winters in Venedig zubrachte. Im März des Jahres war ich an einem Typhus schwerster Art beinahe gestorben. Doch wie in so vielen Fällen bedeutete auch bei mir das Überstehen dieser merkwürdigen Krankheit den Beginn neuen Lebens. Ich erstand gleichsam gereinigt von den während meiner Studienjahre in meinem Organismus aufgehäuften Schlacken wieder und fühlte mich nach dieser Krisis verjüngt und von neuer Kraft beseelt. Von der Zeit vor der Krisis nahm ich das Gefüge der Welt hinüber, das im Februar 1906 erschien, genau wie ich später das Reisetagebuch von der Vorkriegszeit hinübernahm und zuletzt Das Buch vom Ursprung aus der Zeit des zweiten von mir erlebten großen Krieges in die Welt, für die ich mich eigentlich geboren fühle. Aber damals, in Venedig, empfand ich vor allem die zweckfreie Lebensfreude des gerade Genesenen. Und so genoß ich, so wie ich selten je genossen habe, den Verkehr mit den vielen besonders seltsamen und als outsiders doch für Venedig und nur Venedig prädestinierten nicht-Italienern, die dort kolonisierten. Den Ausgangspunkt bildete das winzige, bijou-artige Häuschen des Bruders meiner Wiener Gönnerin, der Fürstin Marie Taxis, Prinz Fritz zu Hohenlohe. Er lebte ganz en marge de la vie, wirkte auf mich wie eine Art erratischer Block aus der Zeit, wo das im Sinn des 18. Jahrhunderts stilisierte Österreich Norditalien beherrschte. Der größte Teil meiner Bekannten aber waren Briten, und unter diesen gab den Ton an der schottische Essayist und Dichter Horatio Brown. Der war in Venedig richtiggehend verliebt. Wie er mich später einmal in Rom besuchte und wir gemeinsam herrliche Weinfahrten durch die Campagna machten, umwölkte sich plötzlich sein wallroßartiges und doch so zartes Antlitz und er sagte: Ich muss zurück. Ich fühle, dass ich Venedig untreu zu werden beginne. Er gehörte der Gattung von Romantikern an, wie es einmal Musset und George Sand waren und deren es gerade unter Briten immer wieder gibt. In diesem Kreise, den nur gelegentlich auch realistische Italiener frequentierten, unter denen mir einer, als köstlichen Kontrapunkt zum irrealen Leben der hyperboreischen Kolonialen, in die Archive der Vergiftungs-Abteilung des großen Rates Alt-Venedigs Einblick gewährte, spielte ich, grenzenlos verwöhnt, die Rolle eines sozusagen bestallten, geistigen Feuerwerkers. Geistreich im Sinne des Glänzens sind Angelsachsen nämlich beinahe nie: so fragte mich einmal einer der nächsten Freunde Oscar Wildes offenbar ehrlich, er wundere sich, dass wir Kontinentalen ihn so schätzten: Bei Ihnen gibt es doch genügend Geister dieser Art; nur bei uns war Oscar einzig. Während jener Wochen und Monate regnete es in Venedig beinahe unaufhörlich. Aber gerade dieser trübe Rahmen passte für mein Gefühl besonders gut zur Folge glänzender Bühnenbilder, als welche ich mein damaliges Leben als Kunstbetrachter einerseits und gebender Gesellschafter andererseits erlebte.

Doch aus diesem leichten und spielerischen Leben trat ich beinahe jeden Nachmittag in die Atmosphäre eines ganz anders gearteten hinaus: es war die der vollkommenen Abgeschiedenheit Wolkoffs. Sein Palazzo in San Gregorio befand sich dicht neben meiner Bude. Damals wurde er gerade renoviert, war höchst ungemütlich, und so lebte Wolkoff ganz abgeschlossen und eingesponnen in seinem Arbeitszimmer, in dem er unablässig an seinem Buche schrieb. Er nahm mich sehr freundlich auf, erstens weil mein Großvater Kurator in Dorpat gewesen war, als er dort studiert hatte, dann weil die Gräfin Wolkenstein, seine alte Bayreuther Freundin, mich ihm zuführte. Damit aber hörte der Spaß auf; es begann ein Ernst des Lebens auf dem Gebiet des Denkens und des Erkennens, wie ich ihn mir nie hätte träumen lassen. Und so sehr es mich, den seit frühesten Tagen Verwöhnten, wunderte, ohne jede Rücksicht auf gesellschaftliche Konvention von Satz zu Satz, ritsch, ratsch, wie im Rapiergefecht, geistiger Unzulänglichkeit überführt zu werden — ich erkannte gleich, dass ich in Wolkoff just den Menschen gefunden hatte, dessen ich bedurfte, um als kritischer Philosoph, als der ich mich nun einmal vollenden wollte, voranzukommen. Über das Gefüge der Welt war ich, wie im Falle jedes Buches, mit dem Augenblick des Geschrieben-Habens hinaus. Ich sah klar, dass ich exakter und kritischer werden musste, als Chamberlain es war, um höhere Ziele zu erreichen. Doch die Beschäftigung mit Wissenschaft und die Betätigung als Forscher lag mir nun einmal nicht. Nicht nur kritische Naturwissenschaft, auch kritische Kunstbetrachtung, wie ich sie in Paris versucht hatte, konnte mich nicht fesseln. Und was einen nicht innerlichst interessiert, gelingt einem nimmer. So riet ich schon lange nach einer anderen Einstellung des Kritikers in mir herum. Der Kontakt mit Wolkoff nun leitete diesen Prozess innerer Umstellung ein.

Menschen, die nicht gewohnt sind, ihr inneres Wachstum ähnlich bewusst zu dirigieren, wie ich es von jeher getan habe, wird, trotz der grundsätzlichen Erklärungen, welche ich früher gab, nicht leicht klar zu machen sein, warum Wolkoff, welcher kaum anderen Ähnliches bedeutet hat wie mir, so fruchtbaren Einfluss auf mich ausüben konnte; zumal Wolkoff mich seinerseits kaum überhaupt verstanden und meine Bücher, außer der einen kleinen Schrift Individuum und Zeitgeist, nie positiv beurteilt hat. Dies lag gerade daran, dass Wolkoffs geistige Anlage der meinen in den meisten Hinsichten nahezu antipodisch entgegengesetzt war. Wolkoff hatte so gut wie gar keine Einbildungskraft, er war gar nicht synthetisch veranlagt, vom Sinn verstand er nichts, überhaupt fehlte ihm alle metaphysische und religiöse Begabung. Sogar seine sehr erhebliche Musikalität war rein formalen Charakters. Um so mehr bedeutete mein Zusammenleben mit Wolkoff die Polarisierung, die ich im Weltfrömmigkeitskapitel des Buches vom persönlichen Leben und vorher, deutlicher noch im Kapitel Du mystère de la polarisation von Sur l’art de la vie als einzigen Weg zu echtem Mehrwerden geschildert habe. Dass ich schon 1906 in der Unsterblichkeit ungleich bessere kritische Fähigkeiten beweisen konnte als in dem im Jahr zuvor vollendeten Gefüge der Welt, dass ich schon 1907 den Inhalt der späteren Prolegomena zur Naturphilosophie im wesentlichen so vortragen konnte, wie ich sie 1910 veröffentlichte, verdanke ich Wolkoff, wie denn der Vortrag Vom Ideal des philosophischen Denkens ohne seine Anregung ungeschrieben geblieben wäre. Die Keime meiner späteren Einsichten in das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck und das Wesen der richtig gestellten Bezeichnung und was damit zusammenhängt, sind in jenen Venezianer Gesprächen zu suchen, wie denn der Aufsatz des Jahres 1911 Das Wesen der Intuition und ihre Rolle in der Philosophie, in welchem ich erstmalig das richtige Verhältnis des begrifflichen Denkens zur Intuition zu bestimmen suchte, noch ganz deren Geist trägt — obgleich Wolkoff selbst kaum ein Wort davon gebilligt hätte, da er persönlich an die Existenz von Intuition nicht glaubte. Ja meine ganze spätere Wendung zum radikalen Realismus, zum Ideal der integralen Offenbarung, mein ganzes späteres Bekenntnis zum Mut des Ertragens aller Wirklichkeit, so wie sie wirklich ist, zur Bejahung des noch so Schmerzlichen, das ein Nicht-Scheuen unangenehmer Eindrücke voraussetzte, hat ihren ersten Ursprung in jener Zeit, da ich mich mit dem Bilde Wolkoffs polarisierte. Mit seinem Bilde — denn natürlich handelte es sich auch hier an erster Stelle darum, nicht um die empirische Wirklichkeit. Dies erklärt wohl, warum er in seinen Memoiren so sehr viel weniger freundlich über mich geschrieben hat, als jeder erwartete, der uns zusammen gesehen hatte und von meiner Verehrung für Wolkoff wusste. Dieser verstand mich gar nicht. Vielleicht störte auch meine überschwengliche Art seinen nüchternen Geist. Jedenfalls fühlte er sich irgendwie durch mich irrealisiert — um eines anderen willen anerkannt, als er für sich war. Und in letzterem hatte er freilich nicht ganz unrecht. Aber mich stört sogar das nicht sehr Schöne, was Wolkoff mir nach seinem Tode angetan hat, gar nicht; jedenfalls weniger als wie weniger Gravierendes im Falle anderer Menschen; ich gab ihm innerlich so gut wie alles vor und das impliziert auch selbstverständliches Vergeben. Im Kassner-Kapitel dieser Erinnerungen habe ich meine Überzeugung davon bereits ausgeführt und begründet, dass es ein Verstehen zwischen Menschen buchstäblich genommen gar nicht gibt. Das damals Gesagte sei hier noch durch die folgenden Betrachtungen ergänzt: jede Beziehung zwischen Menschen, auch die allerinnigste, führt nur dann nicht schließlich zu Unheil, wenn ein möglichst weites Bereich Reservat der Spielregel Let’s agree to differ bleibt. Und je weniger Gleichgesinntheit erwartet wird, je weniger Recht auf Enttäuschung sich einer demgemäß von vorneherein zugesteht, desto weniger Enttäuschungen wird er erleben, desto mehr von vielen Menschen haben. Bei der wesentlichen und letzten Einzigkeit jedes Einzelnen kann es tiefe Beziehungen überhaupt nur in Form der Ergänzung und nicht der Gleichschaltung geben. Genau so wenig wie ein liebender Mann die Geliebte als Mann vorzustellen wünscht und umgekehrt, genau so wenig sollte irgendeiner je in seinen menschlichen Beziehungen Gleichgesinntheit fordern. Um solche Beziehung zwischen Ungleichen zu ermöglichen — dazu ist ja die schöne und damit neutralisierende, zum Teil sogar irrealisierende Lebensform erschaffen worden. Wolkoff nun war schlechterdings schonungs- und rücksichtslos, so seigneurial höflich seine äußeren Formen waren. Aber ich fühlte seinen Wert für mich so tief, dass ich sogar diesen Umstand als Schulungsmittel ansah und damit zu solchem umschuf.

Nach all diesen vorbereitenden Betrachtungen kann ich vielleicht doch einigermaßen deutlich machen, warum Wolkoff mir, so wie er und so wie ich war, persönlich so unvergleichlich viel bedeuten konnte. Dies lag nicht allein daran, dass er dem in mir lebenden Sinnbild ein entsprechendes Substrat bot; dieser Umstand ermöglichte es mir nur, mich überhaupt seinem Einfluss rückhaltlos hinzugeben. Das spezifisch Produktive dieser Polarisierung beruhte darauf, dass Wolkoff mehrere der besten Eigenschaften des russischen Geistes in selten vollkommener Ausprägung besaß und dieser Geist mir dank dem, dass auch mein Vater ihn besessen hatte, besonders sympathisch war. Von Hause aus war ich nicht allein (wie schon anfangs gesagt) mehr phantasievoll als exakt, sondern auch äußerst suggestibel, sehr leichtgläubig, auf Grund einleuchtenden ersten Eindrucks zur Übernahme von Unhaltbarem geneigt; meine in meiner Jugend durch keine anderen Eigenschaften balancierte Sensitivität machte mir Widerstand schwer und Zähigkeit in geistigem Kampf unmöglich. Ich intuierte als erstes augenblicklich den Zusammenhang, innerhalb dessen der Andersdenkende recht hatte, und darum fielen mir im Augenblick nie Gegenargumente ein; oder fielen sie mir ein, so vermochte ich nicht für sie zu kämpfen. Denn abgesehen von allem Gesagten fehlte mir ursprünglich jene elementare Freude am Kampf, jener instinct combatif vollständig, welcher den meisten jungen Menschen-Männchen nicht weniger wie Stierkälbern eignet. Auf die Dauer habe ich wohl meistens durchgesetzt, was ich ernstlich wollte, und wo dies unerlässlich war, auch dafür gekämpft. Aber wenn irgend möglich tat ich das schriftlich oder durch Vermittlung Dritter, die ich genau instruiert hatte; suchte ich je unter Einsatz meiner Person zu leisten, was ich von früh an in richtiger Erkenntnis der Grenzen meiner Anlage anderen zu tun übertrug, so erreichte ich meist weniger, weil ich unwillkürlich jeden Einwand eines Gegners auf seine geistige Wahrheit und nicht in Rücksicht auf meine Interessen prüfte, was natürlich richtiges Kämpfen unmöglich machte, oder aber aus Angst vor der eigenen Schwäche zu schroff und undiplomatisch insistierte. Dementsprechend war mein Urteil bei Debatten und Diskussionen unsicher — nicht aus Mangel an Urteilsvermögen, sondern weil ich lebendigen Eindrücken zunächst verfiel. Mein Kritikvermögen äußerte sich unbefangen nur, wenn niemand und nichts mein seelisches Gleichgewicht störte. Wolkoff nun eignete in allerhöchstem Grad jener unbestechliche Realismus, der vor allen Dingen die Größe der russischen Literatur bedingt; jener kompromisslose Positivismus, der alle Vorspiegelung und allen Schwindel sofort durchschaut und die Hauptursache dessen ist, dass die soziale Frage in Russland, trotz seiner Rückständigkeit, kaum dass sie auftauchte, schärfer erfasst wurde als irgendwo sonst; endlich jener logische Radikalismus, der jeden Gedanken unbarmherzig-zäh zu Ende denkt. Damit verkörperte Wolkoff im höchsten Grade jene Aufrichtigkeit, welche dem Russen immer mehr bedeutet hat als alle absolute Wahrheit. (So fand Kerenski bei seiner großen Offensive gegen Deutschland keine Gefolgschaft, weil ihn die Soldaten nicht als aufrichtig empfanden, während Lenin hauptsächlich durch seine schlichte Aufrichtigkeit die Massen überzeugte.) Diesen radikalen Realismus nun inspirierte Wolkoffs kritische Auseinandersetzung mit den Problemen der bildenden Kunst, in welcher er in dem Jahre, wo die Begegnung mit ihm für mich Epoche machte, vollständig aufging. Was Wolkoffs kritische Leistung objektiv bedeutet, mache ich am besten klar, indem ich kurz auf den Inhalt seines Buches eingehe, obgleich er als Schreibender, wie schon gesagt, nie auch nur annähernd die gleiche Höhe erreichte wie als Causeur. In diesem Buche setzt sich, kurz gesagt, in einer Atmosphäre ebenso rein malerischer Sachlichkeit, wie diese in Leonardos Trattato della pittura herrscht, ein echter Geistesverwandter des großen Florentiners mit der modernen ästhetisierenden Kunstkritik auseinander. Zu dieser stand Wolkoff schlechthin negativ, und das konnte bei seinem absoluten Malertum auch gar nicht anders sein. Selten haben Künstler Verständnis dafür, was ihre Schöpfungen geistig bedeuten mögen: aufrichtig interessieren sie sich nur dafür, wie eine Vision verkörpert wird, also für Technik im weitesten Verstand. Umgekehrt erscheint Ästheten das Technische irrelevant im Vergleich zu dem, was mittels seiner dargestellt wird. Hieraus ergibt sich Unvereinbarkeit der Grundanschauungen überall, wo die Typen einigermaßen rein gezüchtet auftreten und ohne gegenseitige Beeinflussung aufgewachsen sind. Jeder unbefangene Maler und Bildhauer von eindeutigem Talent wird Leonardo da Vincis Trattato della pittura, in welchem ausschließlich von Nachahmung der Natur die Rede ist, gegenständlicher finden als die Kategorien, die ein Simmel und ein Berenson bei der Beurteilung von Kunstschöpfungen anwenden; wogegen es diesen nicht auszureden ist, dass Leonardo auf das, was bildende Kunst geistig bedeuten kann, in seiner unsterblichen Abhandlung überhaupt nicht eingegangen ist. Was nun den Wert einer gegebenen Kunstbetrachtung betrifft, so hängt dieser hier wie dort von ihrer Gegenständlichkeit ab — von dem Grade objektiver Einsicht, der in ihr zum Ausdruck gelangt; hier wie dort hat nur das zugleich Wahre und Wahrhaftige Wert. Dies hat denn zur Folge, dass die kunstkritischen Leistungen der Maler, so beschränkt das Feld auch war, das sie beherrschten, im Durchschnitt mehr Wert haben als die der Ästheten: während jene, der Lage ihres Standpunktes gemäß, kaum umhin können, Richtiges zu bemerken, laufen diese ständig Gefahr, an Stelle von Erkenntnissen subjektive Meinungen zu äußern. Je nachdem nun, ob Schöpfer oder Versteher einer Epoche ihren Charakter aufprägen, herrscht die Anschauungsart dieser oder jener vor. Während zur Zeit der Renaissance diejenige der Maler dominierte, überwog im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts die der Ästheten in einem Grad, der vielleicht einzig dasteht in der Weltliteratur. Sie überwog so sehr, dass auch unsere echten Meister mit seltenen Ausnahmen vom Ästhetengeiste imprägniert waren und so redeten und schrieben, als ob sie keine Meister wären. Diese Einstellung und Auffassung nun war Alexander Wolkoff ein Greuel. Und so stellte sein Buch sich die Aufgabe, zu untersuchen, welche objektiven Kriterien bei der Beurteilung von Werken der bildenden Kunst in Frage kommen, genau und im einzelnen aufzuzeigen, worauf es beim Malen wirklich ankommt, sowohl was die Begabung als was die allgemeine Technik und das zu erreichende Ziel betrifft; endlich und vor allem hinsichtlich der in seinen Augen vagen Begriffe Schönheit, Genie, Nachahmung, künstlerische Wirksamkeit, Geschmack, Inhalt, Ausdruck, Vortrag festzustellen, welcherlei empirische Verhältnisse sie umschreiben. Dies ist ihm, soweit dies sein Ausgangspunkt erlaubt, tatsächlich gelungen. Mit leonardesker Hellsichtigkeit, mit Voltairehafter Verstandesklarheit hat er diese dunklen Probleme durchleuchtet, so dass jeder, der sich unbefangen seiner Führung überlässt, reichen Gewinn davonträgt. Da Wolkoff gar keine Augen für das Sinnhafte hatte, so konnte sein Gesamturteil als Kritiker sowohl wie als Künstler häufig ungerecht sein. Aber falsch war es gleichwohl nie und jedem wirklich großen Künstler ist Wolkoff trotz der Einseitigkeit seiner Schau gerecht geworden. Von bleibendem Wert sind unter allen Umständen seine an unzähligen Beispielen vorgenommenen Feststellungen bezüglich der Ungenauigkeit und Mangelhaftigkeit der Beobachtungen, auf welchen viele der berühmtesten Kunstkritiker ihre Betrachtungen und Urteile begründet haben, und seine Gedanken über das Entwertende solcher Inexaktheit. Von bleibendem Wert ist ferner Wolkoffs Nachweis dessen, wie viele landläufige Anschauungen über Idee und Wert von Kunst und Künstler jeder empirischrealen Grundlage entbehren. Was nun Wolkoff, dem, wie gesagt, die Gabe des Schriftstellers fehlte, in seinem Buch trocken und anmutlos niederlegte, das sprühte er im Gespräch aus mit unvergleichlicher Lebendigkeit. Und gar in Kirchen, Paläste und Galerien mit ihm zu gehen, war ein Hochgenuss wegen der Schärfe und Unbestechlichkeit seines Auges und der spontanen Einsicht der empirischen Ursachen bestimmter Eindrücke. Bei Wolkoff war es beinahe Manie, bei jeder Gelegenheit festzustellen, ob jemand wirklich sieht — immer wieder fragte er von einem Menschen: a-t-il l’œuil? oder behauptete er: il n’a pas l’œuil! Natürlich meinte er, mir fehle das Auge, und obgleich darin gerade mein geringster Fehler bestand, ließ ich’s mir doch schmunzelnd gefallen, weil sich Wolkoff so immer wieder Mühe gab, meine Aufmerksamkeit zu wecken, zu konzentrieren und zu differenzieren. Und dank Wolkoffs wahrhaft phantastischer, mir so nie wieder begegneten Schärfe in der Beobachtung, gepaart mit der Fähigkeit, sich über das Gesehene genaue Rechenschaft abzugeben, gelangte ich viel schneller, als ich sonst, wenn überhaupt, dazu gelangt wäre, dahin, in der Aufmerksamkeit überhaupt die Grundtugend des Verstehen-Wollenden und aus Verstehen heraus handelnden Menschen zu erkennen. In der Vie Intime erst habe ich ausführlich gezeigt, warum dasselbe Wort Aufmerksamkeit die innere Voraussetzung exakter Beobachtung und höflichen Benehmens ist, und im Zusammenhang damit erklärt, was die Bedeutung der französischen Wendung offenser le Bon Dieu ist: es ist selbst für die Gottheit kränkend, nicht bemerkt zu werden, wo sie einmal da ist. Alle Erfahrung setzt in der Tat Aufmerksamkeit voraus. Je intensiver einer aufmerken kann, desto mehr erlebt er an Wenigem. Insofern ist Aufmerksamkeit sogar der Nerv echter und tiefer Liebe: wer tief und echt liebt, bemerkt immer Neues und Herrliches an vom Standpunkt anderer immer Gleichem, und er, nicht der Detachierte, hat recht. Ja, ich könnte mir vorstellen, dass absolute Aufmerksamkeit das Weltall in einem Tropfen enthalten fände. Wolkoff lehrte mich nun direkt vor allem Vorder- und Hintergründe zusammenzuschauen, vom Ganzen her den Wert des Einzelnen zu beurteilen, die Abhängigkeit des Eindrucks jeder Farbe vom Nebeneinander anderer Farben einzusehen — an sich technische Dinge, deren Kenntnis mir jedoch in deren Transposition, wie das nächste Kapitel zeigen wird, für mein eigenes Darstellen von höchster Bedeutung wurde. Ich kam nun damals, 1905, selber gewissermaßen von der bildenden Kunst her. Nachdem ich in Wien mit der Naturforschung abgeschlossen hatte, hatte ich mich in Paris zwei Jahre lang hauptsächlich mit Kunst beschäftigt und mit Künstlersinnen zu erleben versucht, was mir bei meinem ursprünglichen Talent für bildende Kunst sehr leicht fiel. Ich hatte alles an künstlerischen Eindrücken aufgenommen und verarbeitet, was sich mir darbot. Ich hatte dort ja auch nur in Künstlerkreisen verkehrt oder aber in der so wesentlich kunstsinnigen und -kennerischen französischen großen Welt. So war es gerade Wolkoffs Spezialität, die mir an jenem Wendepunkt das Tor öffnete zur Einsicht in das Grundsätzliche, auf das es mir für mein eigenes Schaffen ankam. Von Wolkoffs konkreter Schau her fand ich schneller den Weg zu der Exaktheit, die mir von meinem geistigen Standort aus allein Ziel sein konnte, als von der Naturforschung oder der abstrakten Dialektik her: nämlich der Exaktheit, welche das Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck fordert und deren idealer Ausdruck die richtiggestellte Bezeichnung im chinesischen Verstande ist.

Denn deren Exaktheit gehört, formal geurteilt, der Ebene der Kunst und nicht der Wissenschaft an. Eben sie hatte ich schon in meiner Pariser Zeit intuiert; daher der Titel des ersten Vortrags, den ich überhaupt hielt (es war im Nietzsche-Archiv) Philosophie als Kunst. Dieser Vortrag, der, wenn ich mich recht erinnere, ins Jahr 1906 fällt, baut sich nämlich auf Pariser Aufzeichnungen der Jahre 1903 und 1904 auf. Wolkoffs Fragestellung nun wies mir den Weg zu der mir einzig gemäßen, an sich ganz anderen, und seine Gegenständlichkeit in der Schau und Schärfe im Denken lehrten mich entsprechende Imperative für mich selber anerkennen. Mir fehlte gewiss von jeher jeder Sinn für das Zwischenreich des Schwindels und des Schmus. Insofern war ich immer kritisch gewesen. Aber ohne dass ich durch Wolkoffs harte Schule gegangen wäre, hätte ich meine früher aufgezählten Schwächen schwerlich so weit überwunden, als zuletzt geschehen ist.

Hier wurde mir denn das besonders förderlich, was alle anderen, von denen ich weiß, bei Wolkoff nur getadelt haben: seine phantastische Rücksichtslosigkeit beim Diskutieren. Wolkoff zwang mich, jeden Gedanken zu Ende zu denken, jedes eigene Vorurteil zu entlarven, mich zu verteidigen, meinerseits anzugreifen. Dadurch, dass ich ihm zugestand, mich hart anzufassen, konnte er mir dazu helfen, meiner angeborenen Neigung, Schwierigkeiten lieber auszuweichen als sie auszufechten, eine Neigung, in der mich Chamberlain in wirklich gefährlicher Weise bestärkt hatte, langsam Herr zu werden. Kurzum: dadurch, dass ich mich Wolkoff ganz öffnete, wurde soviel von den Schwächen des Denkers und Verstehers in mir geheilt, als eben zu heilen war. Dank Wolkoff wurde ich zum erstenmal selbstsicher in meiner Kritik, in meinem Behaupten und Ablehnen. Zwar habe ich zeitlebens im sogenannten Kampf der Geister meine Überzeugung überbetont und apodiktischere Behauptungen aufgestellt, als ich sie meinte — dies musste sein, um meiner Empfänglichkeit für jede fremde Behauptung ein Gegengewicht zu schaffen — aber von dann ab sah ich die Möglichkeit überhaupt, mich im Gespräche wirklich, durch überzeugende Argumentation, durchzusetzen, und seither pflegte ich das Durchsetzerische in mir. Ein Meister der Diskussion bin ich trotzdem nie geworden — Gegenrede und Angriff empfinde ich psychologisch dermaßen unangenehm, dass ich leicht viel zu heftig reagiere. Doch seit der geschilderten Schulzeit wurde das alles sehr viel besser, als es früher gewesen war. So kam es, dass Wolkoffs Einfluss, nach dem von Houston Stewart Chamberlain, der wichtigste meines Lebens geworden ist. Wies mir Chamberlain den Weg zur Universalität, zeigte er mir durch sein Beispiel, wie es gelingen kann, eine widerspruchsreiche Vielfalt von Anlagen zu schöpferischer Einheit zusammenzufassen, so danke ich Wolkoff vor allem die Ausbildung des Triebs zu klarer Fassung, zur Überwindung des à peu près, des Ungefähr und somit des Siegens mittels geistiger Waffen. Ein kritischerer Geist als er ist mir niemals begegnet. Das heißt: im Sinn der einzigen Art von Kritik, die ich als Positivum anerkennen kann. Kritik soll und darf Grenzen schaffen. Die absolut höchste Kritik in diesem Sinne ist ihrer Intention und Grundrichtung nach diejenige Kants. Kritik soll und darf ferner richtig unterscheiden lehren und damit dem zuführen, was die Chinesen richtige Bezeichnung heißen. Sie soll und darf endlich Werte herausarbeiten und hervorheben. Der letztere Umstand berechtigt sie sekundär, Minderwertiges als solches zu erweisen. Aber nie, niemals darf das notwendig Destruktive der Kritik Selbstzweck bedeuten. Kritik hat unbedingt konstruktiv zu sein, sowohl der grundsätzlichen Einstellung als der besonderen Absicht nach. Gleichwie das Nein überhaupt das Negativ des Ja ist und insofern das Formgebende, weil Grenzschaffende bei aller Schöpfung, so hat kritische Fähigkeit und Kritik als Disziplin Existenzrecht lediglich sofern sie dient und nicht insofern sie sich souverän gebärdet. Denn Kritik in ihrem konstruktiven Aspekt kann nur einen Sinn haben: zu diskriminieren, das heißt zu unterscheiden. Unterscheiden aber kann man nur zwischen dem, was an sich und vorher schon da ist. Das Dasein ist nun unter allen Umständen ein Substantielleres als das Nicht-Dasein: diese eine Erwägung erledigt die Prätention des Kritikers, über dem Schöpfer zu stehen. Zeitlebens habe ich es als direkte Unverschämtheit empfunden, wenn ein Kritiker, was ja in neunzig von hundert Fällen der Fall ist, ein Werk zu beurteilen wagt, bevor er es verstanden hat, und als Ungeheuerlichkeit, dass dem Kritiker mehr Autorität (auctoritas = Urhebertum!) zugestanden wird als dem Schöpfer. Das Unterscheiden ist freilich eine der Hauptaufgaben des Bewusstseins; die entsprechende Funktion macht bewusste Orientierung überhaupt möglich. Doch wir wissen heute, ein wie geringes das Bewusstsein im Haushalt der Psyche bedeutet. Die psychische Wirklichkeit ist viel weiter und tiefer als alles, was bewusst wird, und erst recht als alles, was nach den zur gegebenen Zeit vom Bewusstsein anerkannten Normen beurteilt werden kann. Alles Schöpferische aber entstammt einer Region jenseits des Bewusstseins. Darum hinkt die Kritik der Schöpfung unabänderlich um Jahre, wenn nicht um Jahrhunderte, nach. In meiner Jugend nun genoß der Kritiker größeres Prestige als der Schöpfer: das konnte schwer anders sein am Ende des Bildungszeitalters und dazu einer Periode, wo die Wissenschaft jede Frage restlos vollständig beantworten zu können wähnte und Philosophie nur für ernst galt, sofern sie Erkenntniskritik war. Oscar Wilde und Walter Pater hatten den Begriff eines Kritikers als Künstler geprägt, als welchen der in seiner Jugend von diesen Engländern stark beeinflusste Kassner sogar den Platoniker, den abendländischen Prototyp des Innewerdens, missverstand, welchen er damals eben als Kritiker dem Dichter als gleichwertig gegenüberstellte. Ich selber habe an diesem Zeitgeist teilgehabt. Dass ich über ihn in einer Richtung hinauswuchs, die nicht zur Kritiklosigkeit führte und auch nicht zu neuem primitivem Dogmatismus, verdanke ich vor allem meiner Polarisierung mit Wolkoff.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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