Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

I. Vorfahren - Wanderfalke

Die besondere Perspektive, welche chinesische Landschaftsbilder zeigen, ist dadurch bedingt, dass jede Aussicht wie von hohem Bergesgipfel überblickt gemalt wird. An diese besondere Konvention muss ich allemal denken, wo ich versuche, Geschlechter früherer Zeitrechnung in die meine hineinzubeziehen. Mir will es nicht gelingen, mit Kindesaugen geschaute Erwachsene jemals ebenso zu sehen wie Zeitgenossen. Gerade Zeitgenossen waren nämlich die Erwachsenen, die man als Kind als bedeutsam erlebte, nie, und so können sie es auch nie mehr werden. Möge, im Fall von Langlebigkeit, späte Erfahrung das frühe Bild noch so gründlich überschichten: kaum ist der unmittelbare Kontakt mit fortlebenden Vorfahren aufgehoben, jedenfalls also, sobald sie tot sind, verdrängt das erste Bild vollkommen alle späteren.

Diese erstgeschauten Erwachsenen sind in der Tat wesentlich Vorfahren, nicht Zeitgenossen. Sie gehören einer anderen Daseinsebene an. Zunächst erscheinen sie mir noch heute größer, als ich es je geworden bin; sie waren buchstäblich hohe Ahnen. Als Kind erlebt ein jeder so, wie jene Primitiven, die Bedeutung und Macht im Sinnbild körperlicher Größe darstellen. Womit ich aber, wohlgemerkt, nicht behaupte, dass aus dem Formatunterschied geistig-seelisches Prestige entsteht, sondern dass beide notwendig zusammengehören; körperliche Größe steigert das Seelenbild und Ehrfurcht wiederum steigert die Ausmaße des Geschauten. Dank diesem Umstand idealisiert man freilich unwillkürlich — aber andererseits sieht man als Kind auch die wirklichen Eigenschaften vergrößert und insofern deutlicher. Ich glaube nicht, dass ich als Erwachsener von irgendeinem Menschen je ein so exaktes Bild gewonnen habe, wie als Kind von allen, die ich damals kannte. Das reine Bild war damals dermaßen deutlich, dass ich über ein halbes Jahrhundert später an der Erinnerung schlüssigere Überlegungen anstellen kann, als an irgendeinem später gekannten und noch so genau studierten Menschen. Diese ursprüngliche Neigung, Menschen anderer Zeitrechnung anders zu sehen als Zeitgenossen, bleibt freilich durchs ganze Leben hindurch bestehen. Dies vor allem bedeutet der instinktive Antagonismus zur väterlichen Generation und die ebenso instinktive Verehrung für die großväterliche, sobald die empirischen Verhältnisse nur im geringsten das Einsetzen dieser Bereitschaften ermöglichen. Doch die Scheidung zwischen Vorfahren- und Zeitgenossen-Welt, die für das Kindesbewusstsein bestand, kehrt gleich bedeutsam im Privatleben nicht wieder. Daher ist die Sehnsucht nach ihrer Fortdauer der eigentliche Lebensnerv des Historikers sowie aller derer, welche gern Geschichtliches lesen. Niemand interessiert sich ernstlich für Geschichte, welchem es darum allein zu tun ist zu wissen, wie genau es einmal war: jeder solcher will eine größere Vorfahrenwelt evozieren oder evoziert haben, innerhalb welcher er primordiale Neigungen ausleben kann. So gruppieren sich in schlechthin aller Geschichte die Minderwertigen, die es als Schatten des Lichts natürlich geben muss, um einige Überlebensgroße. Unwillkürlich werden die alltäglichsten Hantierungen als symbolische Handlungen beschrieben und geschaut, so wie die Madonna mit dem Kind ganz unwillkürlich als ein wesentlich anderes aufgefasst wird, als eine beliebige Zeitgenossenfamilie. So wird die Geschichte eines beliebigen Mannes aus alter Zeit so groß rekonstruiert, als handle es sich um Julius Caesar. Aus ähnlichen Motiven wird Lucrezia Borgia rehabilitiert oder Friedrich II. der Hohenstaufe noch grausamer und insofern ehrfurchtgebietender dargestellt, als er tatsächlich war. Ja, das Interesse für Geschichte beweist wesentlich Sehnsucht nach der Vorfahren- im Gegensatz zur Zeitgenossen-Welt. Darum schelte man weder die Idealisierung noch die Verzeichnung.

Die Sonderheit meiner persönlichen Vorfahren­welt war wohl mehr als die der meisten durch das Äußerliche und das Prestige körperlicher Größe und Vitalität beherrscht. Mein Vater war ein Riese, nicht allein mehrere Zoll über sechs Fuß hoch, sondern auch gewaltig korpulent; die Brüder und Vettern meiner Mutter waren ihrerseits in allen Hinsichten großmächtige Herren. Daraus ergab sich für meine Vorfahren­welt eine eigentümliche Gliederung. Es impo­nierten mir nur Große und Mächtige. Sie allein waren echte Verwandte. Alle Fremden, bis auf wenige Ausnahmen, waren klein und schwach. Und so imponierte mir auch das tatsächlich berühmteste, bedeutendste und auch verehr­teste Familienmitglied, so lange es persönlich lebte, wenig: ich meine meinen Großvater Alexander Keyserling. Dank seiner Gelehrt­heit und für einen so lebendigen Knaben, wie ich es war, schwer erträglichen Pedanterie, gehörte er — so lieb ich ihn andererseits hatte, denn er war zu uns Enkelkindern reizend — zur Welt der Lehrer, die mir die unsympathischsten unter den Fremden waren; mir waren sie viel fremder als die Leute — auch eine ganz bestimmte und einheitliche Kategorie von Bewohnern meiner Vorfahrenwelt, die ich aber durchaus als der Familie zugehörig empfand. Sie konnten auch groß sein, ohne deshalb im selben Sinn groß auf mich zu wirken wie Vater und Onkel; sie waren im genauen Wortsinn dienstbare Geister. Vollendet abgerundet ward meine Vorfahrenwelt durch die zahllosen wilden Tiere, die mich in meiner Kindheit umgaben. Richtige Haustiere habe ich niemals gemocht. Zumal der Hund als solcher — es gibt Ausnahmen, zumal unter Bernhardinern, diesen merkwürdigen, mehr Löwen- als Hunde-artigen Geschöpfen; aber die Ausnahmen meine ich hier nicht — hat von früh an perverser auf mich gewirkt, als das schlimmste menschliche Entartungsprodukt. Seine würdelose, in Selbstpreisgabe bestehende Liebe zum Herrn empfand ich als schmutzige Parodie menschlicher Religiosität, seine Treue als Verfallenheit an einen Fetisch, seine Gelehrigkeit als Parodie menschlichen Gelehrten- oder Technikertums. Dafür liebte und verstand ich wilde Tiere, insonderheit Raubvögel, in meiner Kindheit mehr, als ich jemals Menschen verstanden und geliebt habe, zu denen kein außergewöhnliches nahes persönliches Verhältnis bestand. Und sie erwiderten meine Liebe und mein Verstehen. Mein Paradies im altgriechischen Verstande des Wortes entstand, da ich ungefähr sieben Jahre alt war, so, da mein Vater, welcher Tiere wenig mochte, mir verbot, die von Förstern wieder und wieder heimgebrachten jungen Vögel im Käfig zu halten; er hoffte, so würden sie mich schnell genug verlassen. Das Gegenteil trat ein. Sobald sie flügge waren, nächtigten sie zwar im Walde, kamen aber tagsüber auf den Herrenhof, und oft flog irgendein großer Vogel während des Essens unbefangen ins Speisezimmer hinein. Zurückblickend erkenne ich diese Tiere genau als das, was die Begleit- und Attribut-Tiere der Götter waren. Zwar gehörten sie tatsächlich zu mir und nicht zu den göttlich Großen. Doch sie bevölkerten meine Vorfahren- und nicht meine Zeitgenossenwelt, und deshalb bedeuteten sie mir so viel mehr als alle Menschenkinder, mit denen ich zusammenkam. Diese empfand ich ursprünglich nur als lästig. Sie waren nichts als Tatsachen. Ich habe schlechte Geruchsnerven, seitdem mir ein Nasenarzt in frühen Kindestagen eines Polypen halber die Nasenhöhle allzu gründlich ausbrannte. Nichtsdestoweniger assoziiere ich heute noch kindliche Altersgenossen und sie allein mit unerfreulichem Geruch. Ich ertrug sie einigermaßen nur so weit, als sie mir zuhörten, wenn ich ihnen von meinen imaginären Reisen erzählte. Demgegenüber waren meine Adler, Falken, Eulen, Kraniche, Störche, Möwen, Raben und Füchse Geister. In meiner Beziehung zu ihnen lebte ich dem Zugehöriges aus, was sich in meiner Beziehung zu meinen Vorfahren auslebte.

Heute sehe ich ziemlich klar, was die Beziehung bedeutete. So wie sonstige Geistige oft einen unüberwindlichen Gegensatz zum Bürger spüren, fühle ich eine ursprüngliche Spannung zwischen mir und den Menschen überhaupt. Wie ich das Tibetanische Totenbuch las, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, dass mein normales Bewusstsein am meisten demjenigen Verstorbener gleicht, so wie es jenes Buch schildert: primär sehe ich an den Menschen das, was jenseits der materiellen Festlegung lebt. Im gleichen Sinne steht mir meine Vorfahren-Welt noch heute näher als die meiner Zeitgenossen. Doch auch die wilden Tiere gehören naturnotwendig in jene geistige Welt hinein. Sie verkörpern viel reiner als Menschen die Elementartriebe, die in diesen meist nur verbildet und verkrüppelt leben, und so gehören sie wirklich der elementaren Geisterwelt an, während Haustiere und schon allzu zahm gewordene, ursprünglich wilde Tiere bestenfalls gefallene Geister darstellen. Mir bedeuten die klugen Pferde von Elberfeld, die so phantastisch gut Quadratwurzeln auszogen, das Prototyp aller wirklich gezähmten Pferde, bedeutet das Hausschwein das Urbild des raffenden und ausnutzenden Bürgers und die Hausgans, dieses schwatzhafte, im Sinn übertrumpfender ehrbarer Höhergestelltheit hochnäsige, nichts bemerkende, stockdumme Vieh, das genaue Gegenteil der stolzen, klugen, überlegenen, schnellen und weitsichtigen Wildgans; jene ist mir das Urbild der kleinstädtischen Klatschpastete.

Es bestehen überhaupt ganz andere Beziehungen zwischen Mensch und tierischen Gefährten, als solche anerkannt werden. Nichts erschien mir einleuchtender, als wie ich von der Aussage eines Zuchthauswärters hörte, leidenschaftliche Liebe zu Kanarienvögeln sei ein Differenzialkennzeichen des Vatermörders. So bedeutet Hundeliebe bei Frauen beinahe immer uneingestandene Neigung zu Laster. Pferdeliebe bedeutet hauptsächlich deshalb nicht notwendig Übles (so oft sie dies faktisch tut), weil das edle Pferd in keinem anderen Sinne zähmbar ist wie jedes wilde Tier, und gleiches gilt von der Katze. Aber es hat seinen guten Grund, wenn alle ernstzunehmende Mythe wilde Tiere als Gefährten übermenschlicher Wesen vorstellt, zu denen auch noch die Heiligen gehören, als welche wohl Löwen und Hirsche, nie jedoch Hunde und Kanarienvögel zur Umgebung hatten. Jene hohe Elementarwelt, welcher einerseits Götter und Vorfahren, andererseits wilde Tiere angehören, trat zum letztenmal beglückend in mein tatsächliches Leben im Jahre 1916 ein. Mir war damals, etwas spät zur Erziehung, ein junger Wanderfalke gebracht worden; kaum eine Woche nachdem ich ihn erhielt, konnte er schon fliegen. Ich ließ ihn frei, und er verließ mich nicht. Wohl überflog er tagsüber Wald und Feld und nächtigte im Walde. Doch bei jeder Mahlzeit, die ich damals am Steintisch unter der alten Linde im Klostergarten von Rayküll einzunehmen pflegte, baumte er über mir auf, und kaum dass ich fertiggespeist hatte, setzte er sich auf meine Schulter in der Erwartung, nun aus meiner Hand Atzung zu erhalten. Darauf wurde ich, freilich nur auf eine Denunziation hin zu erneuter ärztlicher Untersuchung, welche negativ ausfiel, auf eine Woche von der russischen Heeresleitung eingezogen. Kaum war ich fort, verließ der Falke Rayküll und ward für immer wild. Andere Menschen als mich erkannte er nicht an. Nicht anders hielten es die Adler des Zeus und Wotans Raben.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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