Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

VII. Kosmopathische Seelen - Kosmosbewusstsein

Selbstverständlich habe ich innerhalb des mir zugänglichen Erfahrungsraumes überall vor allem nach anderen kosmopathischen Menschen gefahndet. Deren sind mir denn auch immer wieder welche begegnet, entweder persönlich oder in ihrem schriftlichen Niederschlag. Leider aber erlebten die meisten unter ihnen jeweils nur Fragmente der ganzen Wirklichkeit und rekonstruierten nachher das Ganze, meist eher unglücklich mit ihren Verstandeskräften; dies ist nur zu natürlich, da ja die Gabe der Intuition bei den allermeisten nur intermittierend disponibel ist und das sie verknüpfende Band im Unbewussten bleibt; da ferner die Tugend der Selbstbescheidung den meisten fehlt sowie der Charakter, dessen es bedarf, um dem niederen Verallgemeinerungstrieb nicht nachzugeben. Überdies sind die meisten Ganzheitsschauer und -erleber ganz besonders Wort-unbegabt. Entweder sind sie, wenn sie schreiben, Kopisten unabhängig vom sprachlichen Ausdruck wahrgenommener Schauungen, und Kopien sind nie Originale, niemals echt; oder sie drücken sich absichtlich ungegenständlich oder kryptisch aus, oder endlich ihnen fehlt jeder Sinn für die Bedeutung des Ausdrucks überhaupt. Ausdrucksfähige Erleber größter Zusammenhänge, wie zum Beispiel Meister Eckhart, Hegel, Lao-Tse und Dschuang-Tse sind buchstäblich weiße Raben. Dann aber ist kosmische Ganzheit tatsächlich schwer gegenständlich und verständlich zugleich in Worten auszudrücken. So habe ich bei den meisten meiner Bekannten oder der Schriftsteller, die ich las und die ich in diesem Zusammenhang meine, mehr intuiert, dass sie Kosmopathen waren, als dass ich dies an dem, was sie herausstellten, nachweisen konnte. Chamberlain war freilich ausdrucksfähig, aber gerade seine Begabung für das Wort hat ihn andererseits gehindert, der Sprache Unfassbares aufzunehmen, wie gleiches noch von vielen Größeren gegolten hat. Die Gabe des klaren Ausdrucks macht nämlich insofern dümmer, als es des klaren Ausdrucks Unfähige häufig sind, als jene Gabe zum physiologischen Korrelat die Schwierigkeit hat, vorläufig Ausgedrücktes zu verstehen: daher der Drang zur Klarheit.

Zu den irgendwie Kosmosbewussten, die ich gekannt habe, gehören natürlich in erster Linie die Träger ungewöhnlicher, zumal sogenannter okkulter Begabung, deren es im 20. Jahrhundert, zumal in Europa, mehr gibt als seit Jahrhunderten. In Europa besitzen heute buchstäblich Unzählige, und gerade unter solchen, denen man es ob ihrer Nüchternheit gar nicht zutrauen würde, ungewöhnliche Gaben. Und wie häufig sie immer noch in Asien sind, darüber geben die Reiseaufzeichnungen von Hans Hasso von Veltheim-Ostrau das beste Bild. Leider aber sind die meisten Okkultisten ihrer Anlage nach noch engere Spezialisten, als es moderne Wissenschaftler sind; wohl besitzen sie Organe für den meisten nicht wahrnehmbare kosmische Kräfte, aber den Zusammenhang übersehen sie nicht, sie überschätzen vielmehr ihr Sonder-Erleben — was in Anbetracht von dessen Ungewöhnlichem verständlich ist — mehr noch als Menschen ohne Sonderfähigkeiten, und der große Zusammenhang, aus dem heraus sie zu künden scheinen, ist nicht erlebt, sondern konstruiert. Wahrscheinlich werden wir dann erst zu einer Neu-Einverleibung des sogenannten Okkulten ins normale Leben gelangen, wenn der Zen-Geist mit seiner Ablehnung aller Tradition und Bildung und seiner ausschließlichen Bewertung persönlicher Erfahrung, mit seiner Höherwertung der Haltung gegenüber der Weltanschauung gesiegt hat und damit eine neue Unbefangenheit möglich wird. Wer sich zum Beispiel, anstatt von dem zu künden, was er aus persönlicher Erfahrung wirklich weiß, mit Engelskunde befasst oder im Rahmen irgendeiner theosophischen Theorie dogmatisiert, ist als Kosmopath — auch wenn er über seltene Sonderfähigkeiten verfügt — über sein Spezialgebiet hinaus nicht ernster zu nehmen als ein Termitenforscher. Kosmopath ist, noch einmal, der allein, der aus der Ganzheit als solcher heraus ursprünglich lebt. Darum darf ich von den eigentlichen Okkultisten in vorliegendem Zusammenhang ganz absehen. Unter denen, die ich erlebt habe, wüßte ich keinen, der wirklich aus Kosmosbewusstsein heraus gesprochen hätte. Gerade die Berühmtesten unter ihnen waren persönlich letztlich Sektenhäuptlinge, und das Persönliche ist immer das, was letztlich zählt. — Der echteste Ganzheitserleber auf bestimmt umgrenztem Gebiete, welchen ich nahe gekannt habe, war Leo Frobenius: dieser erlebte wirklich Kulturkreise ursprünglich als Ganzheiten, er konstruierte nicht, so gewissenhaft er a posteriori seine Intuitionen zu belegen trachtete. Nur darum hat er in unglaublich vielen Fällen a priori wissen können, wo er welche Monumente finden würde. Frobenius ist der einzige Mensch meiner Bekanntschaft, von dem ich behaupten könnte, er habe auf kulturellem Gebiet den Instinkt eines Zugvogels besessen. Darüber hinaus sei noch das Folgende über ihn und seine Beziehung zu mir gesagt: es muss 1920 oder 1921 gewesen sein, als mich Oswald Spengler dem damals in Nymphenburg residierenden, doch in einem afrikanischen Tukulu lebenden Forscher zuführte. Dieser hatte eine Hose aus Ziegenfell an, wie sie die Mexikaner tragen, um sich vor Kakteenstichen zu schützen. So war der erste Eindruck, welchen das Äußere von Kopf bis zu Fuß vermittelte, der, dass ich überhaupt keinen Menschen, sondern ein Gott-Pan-artiges Wesen vor mir hatte. Wie ich Frobenius dann näher kennenlernte, da vertiefte sich nur der gleiche Eindruck: fast nichts, jedenfalls nichts Wesentliches hatte Frobenius mit den Menschen der geologischen Unterschicht, deren Leitfossile wir Westländer sind, gemein. Er schien einerseits der letzte überlebende jenes Zeitalters des Sonnengotts zu sein, das er nur darum so einleuchtend evozieren konnte, weil es ihm ganz entsprach; andererseits ein Naturwesen mit einem Ahnungs- und Orientierungsvermögen, welches nur noch bei Tieren Regel ist. Endlich aber schien er in Embryonalform gleichsam übermenschliche Zukunftsmöglichkeiten zu verkörpern. Wieder und wieder schossen gleich Scheinwerferstrahlen Intuitionen aus ihm hervor, die heutigen Menschen kaum verständlich sind, zumal Frobenius sich in Begriffen nie richtig ausdrücken konnte: dem Zeitalter des begrifflichen Denkens gehörte er einerseits noch nicht an, andererseits nicht mehr.

Dass Frobenius unter diesen Umständen in den Rahmen der Fachwissenschaft nie richtig hineinpasste, versteht sich von selbst. Sein mit den Jahren immer mehr betontes Bestreben, nur exakteste Tatsachen zu sammeln, bedeutete, psychologisch gesehen, richtige und schwerste Askese, und seine Seele kannte nur selten Zeiten, die für sie nicht tragische Konflikte beherbergten. Wahrscheinlich kannte er solche nur auf seinen Forschungsreisen in der Wildnis: dort allein konnte er seinen eigenen Gesetzen folgen, dann allein sich die Umwelt schaffen, die er für sich brauchte. Aber vielleicht darf ich hinzufügen, dass seine Seele tragische Konflikte auch in unserem Hause nicht spürte: denn so oft er kam — und jahrelang war er einer unserer häufigsten Gäste —, stellte ich mich Frobenius-ähnlich ein, und so entstand ein psychologisches Kraftfeld, das ihm für kurze Stunden das Gefühl vollkommener Bewegungsfreiheit sicherte. Ich glaube nicht, dass er irgendwo anders so regelmäßig, so schön und tief gesprochen hat; immer suchte er sonst durch Witze ablenkender Art gefühlte Spannungen aus der Welt zu schaffen, immer war etwas Krampfhaftes an seiner Äußerung, immer mutete er sich zu, was ihm eigentlich nicht lag. Und so ist er denn auch gestorben, schneller als sonst der Fall gewesen wäre, weil er das erfolgreiche Eingespanntsein in eine ihm wesensfremde Dynamik nicht aushielt. Solange er um Anerkennung kämpfen musste, konnte er sich wenigstens einbilden, auf Sonnengottzeitalter-gemäße Art auf dem Kriegspfade zu sein.

Aus dem Gesagten geht hervor, wie wenig man Frobenius gerecht wird, wenn man ihn nach seinen noch so großen wissenschaftlichen Leistungen beurteilt. Er war viel, sehr viel mehr, als er im Rahmen seines Berufes sinngemäß herausstellen konnte. Er war aber durchaus nicht etwa ein Anreger, welchen andere in Form endgültiger Leistung vollenden könnten: er war, wenn man will, ein magisches Sein von unheimlicher Strahlkraft, das älteste Vergangenheit und Zukunft in einmaliger Embryonalphase organisch zusammenfasste. Dieses Sein hat, den allermeisten völlig unbewusst, auf alle gewirkt, mit denen er in Lebensgemeinschaft trat. Möglicherweise wird man am meisten davon in noch ungeborenem afrikanischen Menschentum spüren. Frobenius gehörte zu den wenigen schon fleischgewordenen Antizipationen der Zeit nach der Revolte der Erdkräfte, nach der Erschöpfung aller mechanischen Impulse, nach der vollendeten Auswirkung alles heute massenhaft Wirksamen: wo der heutige Mensch einem neuen Platz gemacht haben wird, einem intuitiveren persönlicheren, von nicht-Lebendigem entnommenen Kategorien unbeherrschten. Daher seine ungeheure Bedeutung. Daher auch Frobenius’ tiefe Verbundenheit mit der Schule der Weisheit, die er so oft im Gespräch einen Kulturausdruck (im Gegensatz zu Anwendung) ersten Ranges hieß. Daher unsere persönliche Freundschaft. Ohne es aussprechen zu müssen, redeten wir beide unwillkürlich von der Zukunft aus in die Gegenwart hinein, als läge sie schon hinter uns. Wie zwei verbündete Häuptlinge fühlten wir uns, deren Gebiete fernab voneinander lagen, die sich selten begegneten, doch sofort zueinander standen, wenn es einen Feldzug zu gemeinsamem Ziele galt.

Ein Kosmos-bewusster Mensch anderer Art war Richard Wilhelm. Dieser war keine schöpferische, ja kaum eine irgendwie bedeutende Persönlichkeit. Aber er hatte sich zu einem beinahe perfekten Medium der chinesischen Urweisheit ausgebildet, und so konnte er zu guten Stunden, indes er sich selber ganz vergaß, am besten Geist des chinesischen Universismus teilhaben und aus diesem heraus reden und wirken; so habe ich niemand gesehen, der so fehlerfrei aus dem I Ging (dem Buch der Wandlungen) heraus prophezeite. Wilhelm erlebte, also eingestellt, wirklich kosmisches Werden; er wusste dann unmittelbar, was in weitesten Zusammenhängen schicksalbildend vor sich ging. Richard Wilhelm war mit dem medialen Teil seiner Seele wirklich Chinese geworden. Zwar war er es nicht als persönliche Selbstheit, nicht als das, was ich in früheren Schriften im Gegensatz zum Gefäß für Höheres Meister geheißen habe, sondern eben als Medium; Es sprach dann etwas aus ihm, was mit seiner Person wenig gemein hatte. Dieses Es war aber wirklich der Geist des tiefsten China. Mit Richard Wilhelm war in China Ähnliches passiert, wie mit einer Frau, welche heiratend nicht allein ihren Namen, sondern sogar ihre Nationalität wechselt und dabei ihre persönliche Erfüllung findet. Dass es bei Frauen echte Bekehrung zu etwas, was sie ursprünglich nicht waren, normalerweise gibt, kann jeder wissen. Ihre persönliche Tiefe aber verwandelt solche Bekehrung selten oder nie; als Witwen schlagen sie meist zu dem zurück, als was sie geboren wurden — aber einstweilen sind sie, aus übernommenem fremden Geiste lebend, echt. Wilhelm nun war für China prädestiniert wie eine Frau für einen bestimmten Mann. Darum war ich, wenn die Rede darauf kam, dass Wilhelm für die Dauer nach Deutschland heimkehren sollte, sofort äußerst besorgt: ich fürchtete, dieser Mann, dessen ganze Stärke, echt chinesisch, in der Weichheit und im Nachgeben lag, möchte in unserer Welt recht eigentlich zerspringen. Eben das ist denn allzubald geschehen. Seine tödliche Krankheit war nichts als der äußere Ausdruck der inneren Unmöglichkeit für ihn, das Leben, das er in Deutschland führen musste, auszuhalten. Und doch kann man nicht sagen, dass Richard Wilhelm zu früh gestorben wäre — so vieles Bedeutende er bei einem längeren Leben sicher noch geleistet und so wohltätig sein Sein weiter ausgestrahlt hätte: sein Werk hat er vollbracht. Die Befruchtung, die der europäische Geist durch den chinesischen überhaupt erfahren konnte, hat dank Richard Wilhelm stattgefunden. Für sein wichtigstes Werk, die Verdeutschung des I Ging, hat er selber noch die lebendige Tradition des Verstehens schaffen können. Überaus vielen der einzelnen, die dazu vorherbestimmt waren, den besonderen lebendigen Impuls, den er vermitteln konnte, zu empfangen, hat er diesen tatsächlich gegeben. Das spezifisch chinesische Ganzheitserleben, welches darauf beruht, dass China zwischen Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit, Wille und Schicksal nicht scharf unterscheidet, sondern einen Standpunkt der Mitte einnimmt, von dem sich schlechthin alles in seiner natürlichen Auswirkung durch intuitives Verstehen und künstlerische Behandlung harmonisieren lässt, sofern man nur das Pathos in sich stärker als das Ethos betont und im Nachgeben die sicherste Form der Eroberung sieht, war zu Richard Wilhelms echt-persönlicher Lebensform geworden. Und da er eben doch Abendländer und dazu Deutscher war, mit dem deutschen Bedürfnis nach wissenschaftlichem Verstehen, so konnte er den europäischen Geist recht eigentlich organisch, im Sinn der Aufpropfung, durch den chinesischen bereichern. Und zwar ist das, was in diesem Zusammenhang geschehen ist, ausschließlich Richard Wilhelm zu danken. Seit seinem Tode soll ja, das China-Institut besser organisiert, soll gründlichere Arbeit in ihm geleistet worden sein; es soll seither auch philologisch bessere Übersetzungen der chinesischen Klassiker geben: als ob es darauf ankäme! Das Sein allein entscheidet; das allergrößte sinologische Können braucht nicht die allergeringste Teilhabe am Geiste Chinas zu implizieren. Es war eine meiner vielen betrüblichen Erfahrungen, auch in diesem Falle feststellen zu müssen, wie sehr meiner Zeit der Sinn für das Wesentliche fehlt. So lange Richard Wilhelm lebte, wurde er von vielen über Gebühr verehrt; er wurde für allerhand gehalten, was er nicht war. Wahrscheinlich genoß er diese Verehrung gerade, weil alle fanden oder ahnten, dass er keine große Persönlichkeit war und darum keinen Lebensneid weckte. Kaum war er jedoch tot, da glaubten die Bessermacher ihre Zeit gekommen, und seither ist die China-Kunde wieder zu der bloßen Wissenschaft geworden, die sie vor Eingreifen Richard Wilhelms ins lebendige Weben der europäischen Geistigkeit war.

Kosmopath ist auf seinem Gebiet jeder wirklich große Arzt. Es ist undenkbar, dass einer unmittelbar wissen könnte, welche Mineralmischung und die Schaffung welcher allgemeinen Situation gerade diesem Kranken in dieser Lage helfen könnte, ohne dass er aus seinem großen Ganzen heraus lebte. Die größten Kosmopathen unter Ärzten waren natürlich die unwissenschaftlichen, durch Tradition und Experimentiermöglichkeit nicht unterstützten Pioniere der Medikation. Als deren letzter ganz Großer auf unserem Kontinent muss Paracelsus gelten. Doch unter den Medizinmännern anderer muss es noch viele geben; hier empfehle ich besonders die Untersuchungen des Rockefeller-Instituts über afrikanische Wunderheiler, welche der Verlag Stock in Paris unter dem Titel L’Empire des serpents, zu einem spannenden Buch verarbeitet, herausgegeben hat. Kosmopathie scheint unter echten Ärzten häufiger als unter anderen Menschentypen vorzukommen, weil der für sie eigentümliche, ursprüngliche Heiltrieb — wem dieser fehlt, kann nie ein bedeutender Arzt werden, und wisse und könne er noch so viel — beschwörend auf die erdhaften Tiefenkräfte wirkt. — Unterwegs zum Kosmos-Bewusstsein auf dem allerdings sehr weiten Sondergebiet der erdbedingten Psyche befindet sich C. G. Jung; von ihm wird eine Sonderstudie handeln. Der reinst typisierte Ganzheitsmensch jedoch, von dem ich zur Zeit, da ich dieses schreibe, unter Lebenden weiß, ist Hanns Fischer, und zur Verdeutlichung des ganzen Problems drucke ich hier einen Brief ab, den dieser mir über seine persönliche Psychologie geschrieben hat:

Aus Mienenspiel und Gebärde in ihrer Stummheit spricht das Wesen des Menschen. Gebärde und Mienenspiel sind aber Wesensbestandteile der ganzen Natur (aus einem Gerät, einer Waffe, die im Sinne des Wesens der Natur gestaltet sind, und die Alten gestalteten im Gegensatz zur unwissenden Zeit seit etwa Dürer die Dinge so und nicht anders, kann darum jeweils eine ganze Kultur abgelesen werden!). Mienenspiel und Gebärde wirken auf mich, sprechen seit frühester Jugend zu mir, auch wenn ich ihrer gar nicht achte. Doch habe ich sie vernommen. Sie sind in mich eingegangen. Jede Anregung, die mir die Natur dann bewusst gibt, jeder Einfall, der mich dann bewegt, lösen eine schier endlose, vielverzweigte Folge von Schauungen aus, in denen zum Wachbewusstsein kommt, was an unbeachteten Eindrücken in mir lag. Hinzutritt das Erlebte, das Erfahrene im Bereich des Bewussten. Bei der Niederschrift schießt all das wie die Kristalle in einer übersättigten Lösung zusammen. Dann ergeben sich Folgerungen, um die kaum jemand weiß, die in der Natur sind und sein müssen, für die ich auch immer die Erscheinungen entdecke, die ihre Richtigkeit erweisen. Vor allem ergeben sich Bestätigungen in und über den ungeheuren Schatz des Welt- und Lebenswissens der Ahnen, das als Aberglaube verlacht, als Brauchtum missverstanden, darum auch erst in mir wiedererschlossen wurde. — Kaum einem Problem ging ich mit Absicht zu Leibe. Ich warte, bis es sich mir, zuweilen erst nach langen Jahren, löst. Und die Lösung muss kommen und sie kommt, weil mir die Welt Ausdruck eines durchaus klaren Lebensvorganges, weil sie mir ein Organismus ist. Vierzig Jahre engster Verbindung mit der ländlichen Natur, ihr immer-wieder-Betrachten, also das echte Erlebnis der Heimat; Abgeschiedenheit von störenden Zeitereignissen, natürliche und sehr bescheidene Lebensform erlauben mir, wo und wann ich mich stiller Betrachtung hingebe, Neues zu entdecken, das organisch zum Ganzen gehört und passt. Stille inmitten meiner Bücher, eine schöne und im Rhythmus kräftig aufgebaute Landschaft; ein kurzer Gang durch den Garten fördern Schau und Einfälle. Ihrer sind so viele, dass sie im einzelnen zu wenden, zu betrachten, aus ihnen alle Folgerungen zu ziehen oder sie gar ins Rampenlicht von Entdeckungen zu stellen, mir gar keine Zeit bleibt. Inmitten des ewigen Lebensstromes fühle ich mich als dessen Teil; irgendwie ist mir alles vertraut; und von wo aus ich mich auch treiben lasse — immer lande ich an jener letzten Küste, hinter der die Gottheit wohnt.

Über seine Schriften, welche sämtlich auf dem Wege möglichst exakter Forschung die kosmische, nicht nur tellurische Bedingtheit des Menschen zu erweisen streben, sei noch so viel gesagt: sie befassen sich, wie es nicht anders sein kann, an erster Stelle mit den Einflüssen von Wetter und Klima. Dass diese kosmisch und nicht bloß tellurisch bedingt sind, ist sicher und ebenso ihr ungeheurer Einfluss auf das Leben. Alle geologisch-paläontologische Veränderung im Großen lässt sich auf diese Faktoren zurückführen, und gleichsinnig ist das Klima im weitesten Verstand der wichtigste Faktor bei Erkrankung und Heilung. In der Bibliothek der Schule der Weisheit fand ich um 1939 zufällig (ich wusste nichts davon, dass es uns gestiftet worden war) Hanns Fischers Buch In mondloser Zeit, auf den Spuren vormondlicher Kulturen, Versuch zur Begründung einer kosmischen Kulturgeschichte: selten las ich etwas so aufregend Anregendes. Von Hörbigers Welteislehre ausgehend, die, wie aus der dank ihr zum erstenmal möglich werdenden nicht nur plausiblen Deutung vergangener Klimawechsel, sondern auch der Vorausbestimmung künftiger Geschehnisse erhellt, sehr viel Richtiges enthalten muss, wenn sie auch keine vollständige Erklärung gibt — von Hörbigers Lehre ausgehend, zeigt Fischer für mich einleuchtend, dass eine Reihe der ältesten Kulturen zu einer Zeit geblüht haben müssen, wo es keinen Mond gab. Er gibt die erste mir wahrscheinlich erscheinende Deutung des Atlantis-Mythos und erweist im übrigen, dass und wieweit die Sintflutsagen wahrheitsgemäß sein müssen. Sonst hat Hanns Fischer noch Rhythmus des kosmischen Lebens und Hörbigers Welteislehre, Auf der Fährte des Schicksals, Gedanken um Erde, Wetter, Mensch und Leben in ihrer kosmischen Verbundenheit. Der Weg ins Unbetretene, Aberglaube oder Volksweisheit?, der wahre Sinn der Bauernbräuche und Das Vermächtnis geschrieben. Wem die Mondlose Zeit zusagt, wird auch die anderen Bücher gern zur Hand nehmen, denn sie alle sind voll von fruchtbaren Anregungen. Für weitere Forschungen am wichtigsten dünkt mich Das Vermächtnis, denn dieses Buch enthält die erste einleuchtende Deutung des an sich offenbaren Zusammenhangs zwischen tierischer Vorfühligkeit und menschlicher Hellsichtigkeit. Hanns Fischer führt alles Hierhergehörige auf die Existenz von Strahlungen zurück, für die sich entsprechende Antennen teils immer vorfinden (festgelegte Instinkte), teils durch physische Umstellung (zum Beispiel Wechsel der Höhenlage beim Fluge der Vögel), teils durch psychische Umstellung (Veränderung der Bewusstseinslage durch Meditation, Versenkung, Tempelschlaf, Samadhi, Ekstase) jeweils entstehen. Wegweisend scheint mir hier unter anderem, was Fischer über den Zusammenhang bestimmter Erlebnismöglichkeiten mit bestimmten Orten (Himalaja, Delphi, Tibet, heilige Quellen im allgemeinen usw.) sagt. Weiterer Stellungnahme zu einzelnem möchte ich mich ganz enthalten, da es sich so sehr um Neuland handelt, dass Kritik von überkommenen Vorstellungen her allzu leicht vorbei urteilt. Zunächst handelt es sich darum, aufzumerken und sich in die eröffneten positiven Möglichkeiten zu versenken, bis dass sich die entsprechenden neuen Begriffe bilden: Begriffe sind nämlich nie anderes als Erkenntnisorgane, und neue Erkenntnis fordert darum zu ihrer Assimilierung grundsätzlich neue Begriffe.

Kosmopathen sind auf ihrem Gebiet natürlich alle echten, das heißt unmittelbar erlebenden, nicht bloß nachrechnenden Astrologen; mit einem von ihnen wird sich das nächste Kapitel kurz befassen. Unter echten Astrologen verstehe ich solche, die eine ursprüngliche Beziehung zur Gestirnwelt haben gleich jener Makarie, welche Goethe in Wilhelm Meister schildert, die eine Armillarsphäre in sich getragen hätte, dank der sie über die jeweilige Konstellation und über die Bedeutung für sie und ihre Nächsten genau Bescheid wusste. Ich meine nicht die allzuvielen Astrologie-Beflissenen, die an Systeme als solche glauben und an die bestimmte ein für allemalige Bedeutung des Einflusses dieses oder jenes Planeten, der womöglich erst kürzlich entdeckt ward, so dass nicht einmal eine Überlieferung über seine Eigenschaften vorliegt, theoretisieren. Es mag viel Wahres an der uralten Tradition sein, aber das ändert nichts daran, dass sie nur dem innerlich zu ihr Berufenen nützt. Ich weiß aber von mehreren Zeitgenossen, welchen die Sternensprache ursprünglich gemäß ist und die tatsächlich aus der Gestirnstellung herauslesen, was bei anders Veranlagten direkte Schau der Seelen wahrnimmt. Dass es sich hier um ursprüngliche Kosmopathie handelt, die sich hier nur eines durch spezifische Veranlagung bedingten sonderlichen Koordinatensystems zur Fixierung ihrer Ergebnisse bedient und nicht um die Anwendung erlernter Wissenschaft, wird für mich dadurch bewiesen, dass aus den verschiedenst gestellten, ja nachweislich falschen Horoskopen von zur Sternensprache Berufenen Richtiges herausgelesen wird. Ich habe überhaupt recht viele gekannt, aus deren sonderlichem Können, meist ohne dass sie eine Ahnung davon hatten, Kosmopathie sprach; sogar unter Politikern, von denen manche nie so ungeheure Wirkungen erzielt hätten, wenn sie ihre Sonderziele nicht aus real erfasstem weitesten Zusammenhang heraus verfolgt hätten. Man vergesse nie, wie wenig der Erfolgreiche persönlich für seinen Erfolg kann: konvergieren nicht zahllose andere Kausalreihen mit der, welche er persönlich verkörpert, so hat er keinesfalls das, was man Glück heißt, und ohne dieses geht es nicht; darum glaubte Napoleon, dieser überreiche Geist, so sehr an die Übermacht der forces des choses. — So viel hiervon. Aber alles in allem war kein so oder anders kosmos-Bewusster als solcher, von dem ich unter Zeitgenossen wüßte, als Persönlichkeit umfassend und weltoffen genug, um den Zusammenhang der Teile der kosmischen Wirklichkeit, für die er das Organ hatte, mit anderen Teilen richtig zu übersehen. Darum stellten ihre totalen Weltbilder, soweit sie solche aufstellten, Verzerrungen, wenn nicht gar künstliche Konstruktionen dar, die sie eigentlich nicht verantworten konnten. Sie alle waren zum mindesten Illustrationen der Wahrheit, die ich auf der großen Darmstädter Tagung des Jahres 1923 Weltanschauung und Lebensgestaltung fundiert habe: der Wahrheit nämlich, dass jeder und jedes Einzelne und Sonderliche, vom höchsterreichbaren Standort aus gesehen, eine Abstraktion darstellt aus dem Menschheitskosmos, die nur insoweit, als sie sich richtig in dessen Ganzheit einstellt, in antizipierter Bereitschaft zur Ergänzung durch andere, gültige Erkenntnis vermitteln und wohltätig wirken kann. Mich nun verzehrte seit Wien schon der Ehrgeiz, zu allumfassender Ganzheitsschau zu gelangen und diese in entsprechendem Ausdruck herauszustellen. Und seit der Konzeption des Reisetagebuches hegte ich die noch höhere Ambition, in der Verwandlung alles, was überhaupt wirklich ist, am eigenen Leibe und in der eigenen Seele zu erleben. Zeitweilig ließ Hybris gar die Hoffnung in mir hochkommen und großwerden, ich könnte dereinst fähig werden, nicht nur in Form theoretischer Annäherung, sondern praktisch in Form totalen Erlebens das Integral des differenziert in die Erscheinung tretenden Weltalls zu realisieren. Von dieser Hoffnung legt unter anderem der letzte Abschnitt des Amerika-Teils des Reisetagebuches Zeugnis ab.

De facto aber stieß ich auf jeder Etappe in neuer Form auf unüberschreitbare Grenzen, die meine Natur mir setzte. Ich war nicht nach allen Richtungen hin gleich empfänglich, geschweige denn produktiv. Die philosophische Anlage bei Fehlen gleichwertiger dichterischer ließ mich wieder und wieder mein Erleben abstrakter fassen, als ich es meinte und vor allem: als es dem Sinn meines Erlebens entsprach. Dann entgingen meiner Aufmerksamkeit viele kleinere und doch wichtige Zusammenhänge; nicht nur für Kleines und Enges konnte ich mich sehr schwer interessieren, nein, schon für Besonderes als solches. Eine der Grenzen, welche solche Anlage bedingt, habe ich im Kapitel Der natürliche Wirkungskreis von Wiedergeburt ausführlich behandelt: dort habe ich unter anderem gezeigt, dass es Menschen gibt, deren sonderliche Qualität nur Fernwirkung, gleichsam von Stern zu Stern, andere, deren besondere Psychologie nur Nahwirkung, gleich wie von Molekül zu Molekül, ermöglicht. Ich nun bin nicht nur im wörtlichen Verstande telepathisch, sondern auch unabänderlich weitsichtig, mit allen Nachteilen dieser Perspektive belastet. Da nun alle menschlichen Begriffe und Worte auf geringere Distanz eingestellt sind und verständliche Sprache darum Zentrierung auf Näherliegendes und damit schärfere Belichtung derselben erfordert, als mir ursprünglich entspricht, so habe ich das, was ich zutiefst erlebe oder innerlich schaue, bisher nie für mich wirklich befriedigend aussprechen können. Und darum empfinde ich es auch nicht als Ungerechtigkeit, dass mein Wesentlichstes eigentlich noch nie verstanden worden ist. Ich bin immer wieder Relativist gescholten worden: dass ich nur wirklich und wesentlich Vorläufiges, worin andere fälschlich Absoluta sehen, relativiere, und dieses zum Zweck der Begründung oder als Mittel zur Realisierung eines unbedingt Positiven auf höherer Ebene, habe ich bisher nicht genügend deutlichzumachen verstanden. 1942 habe ich wohl im Buch vom Ursprung das Integral zu allen Differenzierungen meiner Erlebnissphäre bestimmen und herausstellen können, aber hierbei handelt es sich doch nicht um das Konkrete, das ich letztlich meine; vielleicht bedarf es dazu einer Offenbarung religiöser Art, die mir bis 1944 nicht zuteil geworden ist. Da es mir allein für mich nicht gelang, die konkrete höhere Einheit oder Mannigfaltigkeit höherer Ordnung, aus welcher heraus ich seit dem Reisetagebuche schrieb und wirkte, als solche herauszustellen, erfand ich 1922 den Stil der orchestrierten Darmstädter Tagungen, deren Grund-Sinn der folgende war: sintemalen jeder bestimmte Geist, sofern er echt ist, mit der ihm gemäßen Problemstellung eine sinngerechte Abstraktion aus dem Menschheitskosmos darstellt und die verschiedenen in Wahrhaftigkeit vertretbaren Einstellungen einander auf höherer Ebene nicht ausschließen, sondern ergänzen, muss es möglich sein, durch das Zusammenspiel verschieden eingestellter Geister eben diese höhere Ebene konkret zu bestimmen, also polyphon ein Oberhalb aller bisherigen Weltanschauungen und Lebensgestaltungen in die Erscheinung hineinzubeschwören, wie dies durch monophone Darbietung nicht gelingt. Das hierzu notwendige Zusammenspiel aber erfordert ebenso peinlich genaue Komposition und Orchestrierung in Harmonie und Kontrapunkt nur je die Fuge eines Bach, und eben diese Kunst wurde auf den Darmstädter Tagungen ausgeübt. Nicht zwar in objektiver Herausstellung, wohl aber in den Hörern und Miterlebern dieser Tagungen entstand wahrhaftig das, was ich meinte, und so haben diese großen Tagungen die behandelten Probleme tatsächlich von einer höheren Ebene gestellt und sie so bis zu einem gewissen Grade gelöst, was noch kein einzelner Philosoph vermocht hat. Doch der Sinn meiner Tagungen ist, so tief sie nachweislich gewirkt haben, bisher noch gar nicht verstanden worden. Aber man versteht den Sinn des Lebens eines Strebenden ja immer erst, nachdem es abgeschlossen ist: so habe ich keinen Anlass zur Klage. Und was mein eigenes noch-weit-entfernt-Sein vom bisher intuierten noch ach! so vorläufigen Ziel betrifft, so gilt in der Übertragung die Lehre Alt-Indiens auch hier: Gott kann man erst schauen, nachdem man Gott geworden ist. Hier nun aber besteht für mich eine besondere Schwierigkeit. Meiner noch in meinen sechziger Lebensjahren in keiner Weise abgeklärten oder sonst beruhigten Natur in ihrer Gespanntheit und mit ihrem Übermaß an Gegensätzen und Widersprüchen fällt Harmonisierung und Sublimierung besonders schwer. Das merkt natürlich jeder, und so ist mir immer wieder verübelt worden, dass ausgerechnet ich die Plattform meines Wirkens in die Weite Schule der Weisheit hieß. 1921 entwaffnete Richard Wilhelm auf einer Tagung ernstwerdenden Widerstand, indem er zum Staunen vieler erklärte, die Chinesen bezeichneten den Weisen durch eine Kombination der Ideogramme für Wind und Blitz: weise sei nicht der abgeklärte alte Mann, welcher alle Illusion verlor, sondern der, welcher dem Winde gleich unaufhaltsam vorwärtsstürmt und an keiner Station zu fassen ist: welcher dem Blitz gleich die Luft reinigt und, wo es gerade nottut, einschlägt. Nicht anders meinte ich es damals selbst. Aber das ändert nichts an dem Tatbestand, dass es einer Natur wie der meinen besonders schwerfällt, Erdhaftes und Geistiges, Materielles, Seelisches und Spirituelles in dauerhaften Einklang zu bringen. So mag ich ganz anders enden, als ich’s mir vorgestellt hatte: als wahrscheinlich wohl erster, sehr vorläufiger bescheidener Wegbereiter meines eigenen Weges.

Blicke ich von hier aus zurück, so darf ich meinen Weg im Zusammenhang des vorliegenden Kapitels, dessen Rahmen über das Jahr 1927 im ganzen nicht hinausreicht, folgendermaßen beschreiben. Als Kind war ich soweit kosmopathisch, als meine damalige Merkwelt gestattete. Geistig gereift, strebte ich zuerst nach Kosmos-Bewusstsein in der Sphäre des Verstehens dessen. welcher, indem er alles und jedes Außer-Sich durchschauend erlebt, sich in Wahrheit nur um die eigene Achse dreht. Das war die Periode des Reisetagebuches. In Darmstadt zum Impulsgeber geworden, versuchte ich mein eigenes Verstehen auf einer Ebene höherer Ordnung, als es diejenige aller Sonderweltanschauungen ist, auf andere zu übertragen. Dies geschah auf vielen Wegen, von welchen nach und nach ausführlich die Rede sein wird, in den ersten Jahren aber vor allem durch das Mittel der großen Tagungen der Schule der Weisheit, die als Ganzheiten Meditationssymbole sein wollten. Die geglückteste große Tagung, die des Jahres 1927, welche den Titel Mensch und Erde trug, war zugleich die letzte dieser Art. Nachher wurde es mir aus äußeren Gründen unmöglich, meine Darmstädter Tätigkeit auf gleiche Weise fortzusetzen. Da sich die Darmstädter Tagungen vor allem in den Seelen der Teilnehmer und Zuhörer abspielten, waren sie schriftlich nicht festzuhalten und wiederzugeben. Die verschiedenen Leuchter-Bände, in denen die Einzelvorträge abgedruckt wurden, geben ebensowenig ein wahrhaftiges Bild, wie sich aus der Partitur einer Symphonie deren Aufführung durch den einmaligen Furtwängler herauslesen lässt. Aber irgendeinmal wird eine Wiedergeburt dessen erfolgen, was sieben Darmstädter Jahre so herrlich füllte. Es ist soviel Material da, dass es nur des Erstehens eines kongenialen Geists bedarf, um mein damaliges Werk in genau gleichem Stile fortzusetzen. Ich wollte vor allem ein Sinnbild schaffen, und das ist geschehen. Was aber meine eigenen Vorträge betrifft, so habe ich diese als ausgesprochene Bruchstücke eines größeren Ganzen, als welche sie komponiert waren, in Schöpferische Erkenntnis und Wiedergeburt aufgenommen. Diese Vorträge sind allesamt Torsos: aber eben darum regen sie zur Ergänzung an. Und sie sind nicht nur Torsos — sie sind literarisch unvollkommen. Denn in jenen Jahren frenetischen Schaffens (von 1920 bis 1927 schrieb ich jedes Jahr zwei Hefte Weg zur Vollendung, mindestens ein Buch, veranstaltete ich Tagungen, wobei ich die erforderliche Orchestrierung im Falle jeder Stimme sorgfältig durch Briefe vorbereiten musste, redigierte ich den Leuchter, für welchen ich nicht allein meine eigenen Tagungsvorträge in schriftlicher Gestalt von der Rede zur Schreibe umgestalten, sondern anderen bei gleichem so weit zu helfen hatte, dass der Einklang der mündlichen Veranstaltung soweit als möglich gewahrt blieb; hinzu kamen alljährlich zahllose sonstige Vorträge und viele Aufsätze) — in jener Zeit frenetischen Schaffens fand ich ganz einfach nicht die Muße, irgend etwas so ausgereift in die Welt zu setzen, wie ich’s so gerne wollte. Doch meiner Kosmopathie habe ich sicher durch diese unvollkommenen Leistungen wahrhaftigeren Ausdruck verliehen, als wenn ich es auf vollkommene Kunstwerke abgesehen hätte. Vielleicht könnte Gott den Sinn seiner Schöpfung in einem einzigen Sonett erschöpfend wiedergeben: entsprechende menschliche Leistungen gibt es nicht. Die Größten haben sich bei Fragmentarischem beschieden, und dieses sicher bewusst: ihnen war klar oder sie ahnten wenigstens, dass, wenn ein gemeintes Positiv nicht direkt darzustellen ist, die Darstellung unter Umständen durch Mitberücksichtigung des Negativs in der Zusammenschau beider gelingt. So komponierten die Griechen ihre Tempel in die Landschaft hinein, und vom delphischen Apoll hieß es: er sagt nichts, er verschweigt auch nichts, sondern er deutet an.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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