Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

VIII. Städter und Urnaturen - Zwischenreich

Die Stadt ist also ein qualitativ anderes als das Land — letzteres Wort hier als Inbegriff verstanden aller Natur und Naturbezogenheit, handele es sich um Feld, Wald, Wiese, Steppe, Wüste oder Meer. Und für mich besteht kein Zweifel, dass sich der zivilisierte, und das will heute sagen: technisierte Mensch immer mehr dahin spezialisiert, dass er immer mehr nur als Städter im weitesten Verstande leben kann. Die wachsende Neigung zur Anlage weit ausgedehnter Gartenstädte widerstreitet dieser Erwartung nicht. Erstens gibt es Gartenkunst nur von nicht naturbezogener, also dem Sinne nach städtischer Grundeinstellung aus; darum ist sie überall von Höfen zuerst gepflegt worden. Dann aber ist diese neue Art von Extensivität nur möglich auf Grund des selbstverständlichen zur-Verfügung-Stehens modernster technischer Verkehrsmittel für jedermann. Am modernen Boston zuerst erfasste ich den Sinn der neuen Weiträumigkeit: ohne Kraftwagen zu leben, ist in dieser Stadt unmöglich, denn alle Entfernungen sind in bezug auf dessen Geschwindigkeit berechnet, nicht, wie in alten Städten, in bezug auf die des Fußgängers. (Wird je das Flugzeug zum normalen Verkehrsmittel, dann werden tausend Kilometer Entfernung nächste Nachbarschaft bedeuten und alle bisherigen Grenzen sinnlos und darum unhaltbar geworden sein.) Wie nun, wenn es auf einmal keinen Kraftwagen und keinen elektrischen Strom mehr gäbe? Rom war, wenn ich mich recht erinnere, noch eine Millionenstadt, als der sie belagernde Gotenkönig Totila auf den Gedanken kam, die Aquädukte zu zerstören. In Rom fand sich keiner mehr, der diese, so wie sie waren, wiederherstellen konnte: so schrumpfte die Einwohnerzahl bald auf einige zwanzigtausend zusammen. Wenn im heutigen Europa und Amerika durch Ausrottung der Intelligenz oder auch nur ein Aussetzen der Geburt oder der Möglichkeit der Ausbildung großer technischer Talente in genügender Anzahl die künstlich aufgebaute Umwelt, die der moderne Massenmensch als ebenso selbstverständliche Gegebenheit ansieht, wie jedermann die Natur auffasst, auf einmal aus den Fugen geriete oder ihr Fundament verlöre, dann wäre die Katastrophe noch sehr viel größer. Aus diesen Erkenntnissen folgere ich nun aber nicht, dass dem Menschen­geschlechte Rückfall in die Barbarei droht, sondern dass der Selbsterhaltungstrieb sich immer mehr auf die Erhaltung städtischer Lebensmöglichkeiten konzentrieren wird. Wohl mögen einige Völker ihre Zivilisation verlieren — bleiben nur andere und genügend mächtige übrig, in welchen die Überlieferung von Wissenschaft und Technik fortlebt, dann wird der Rückfall bald von außen her ausgeglichen sein. Es werden nur Machtverschiebungen eintreten. Seit der Überwindung des Raumes und der Zeit durch die Technik haftet das Ganze der Erde zwangsläufig für den Einzelteil, und Autarkie hört augenblicklich auf, von innen heraus der Möglichkeit nach unterhöhlt, sobald ein Land nicht auf der Zeitgeist-gemäßen technischen Höhe bleibt. Im übrigen rede keiner mir mehr von einem Untergang der Zivilisation, seitdem das bolschewistische Russland, in welchem ein Vierteljahrhundert entlang alle Vertreter und Nachkommen der alten Kulturschichten ausgerottet wurden, während des zweiten Weltkriegs erwies, wie schnell traditionell völlig Unvorbereitete lernen können. Dass zerstörte Städte beinahe in Windeseile wieder aufzubauen sind, konnte man schon seit dem Erdbeben von San Franzisko wissen.

Wer in der Kulturgeschichte bewandert ist, der weiß, dass schlechthin jede Neuerung lange Zeit hindurch von weiten und mächtigen Kreisen als Verbrechen oder Laster bekämpft worden ist; gegen den Tee und hochgeschlossene Damentoiletten mit kunstvollen Halskrausen ist zeitweilig mehr, besonders von den Kanzeln gewettert worden, als je in historischer Zeit gegen den seit Noah bekannten Alkohol. Seit dem Siegeszug der Technik soll in dieser das Verderben liegen. Ist es denn niemand aufgefallen, dass die Welt des Menschen, soweit sie vom Verstande gelenkt wird, eine Welt der Künstlichkeit ist? Dass wir den heute ach! so geschmähten Intellekt nicht verleugnen können, weil der Mensch die Instinkte nicht besitzt, die ihn auf andere als intelligente Weise den Anforderungen des Daseinskampfes gewachsen machen könnten, und dass die Gabe der Intuition vorläufig nur Ausnahme­menschen eignet? Dass auch keine Kultur jemals erwachsen ist ohne technische Grundlage und keine gesiegt hat ohne irgendeine Form von technischer Überlegenheit über andere? Es scheint nicht. Im Rahmen einer geplanten Umgießung der Prologomena zur Naturphilosophie zu einem neuen Werk schrieb ich 1938 in skizzenhafter erster Fassung ein Kapitel, betitelt Das Ideal der Künstlichkeit, nieder, das die den vorliegenden Betrachtungen zugrunde liegenden allgemeinen Fragen im Zusammenhang beantwortet. Diese Skizze wollte ich bei der ersten Fassung des vorliegenden Kapitels im März 1940 als Fortsetzung abdrucken (der Kuriosität halber sei übrigens bemerkt, dass ich schon 1903 in Paris unter dem Titel Der Idealautomat, eine hyperphysische Utopie eine mehr dichterisch gehaltene längere Studie über das gleiche Problem niedergeschrieben hatte: so früh schon ahnte ich, was ich spät erst einigermaßen zeitgerecht artikulieren konnte). Seither nun, im Februar 1942, kam mir die Eingebung dessen, was wohl mein Hauptwerk bleiben wird (in wie vielen Büchern habe ich zeitweilig mein Hauptwerk gesehen!), nämlich des Buchs vom Ursprung. Was ich dort in den Kapiteln Die Welt der Künstlichkeit und Das Zwischenreich über die spezifische Welt des Menschen-Tiers und des Menschen als zweiweltlichen Wesens geschrieben habe, verleiht dem so vollständig und abschließend Ausdruck, was ich in weit vorläufigerer Form als Fortsetzung des bisherigen Inhalts von Städter und Urnaturen ausführen wollte und damals auch niedergeschrieben habe, dass ich nichts Besseres tun kann, als auf diese zwei Kapitel des späteren Werks zu verweisen. Dass das in vorliegendem Kapitel Dargelegte andererseits eine Einführung in jene beiden grundsätzlichen und -legenden Kapitel darstellt, wird jeder Kenner derselben merken. Es liegt indes Menschen Erd-Natur, Künstlichkeiten zu schaffen, wie es in der Natur der Spinne liegt, Netze zu spinnen. Schon darum ist das Städtebauen und in-der-Stadt-Leben dem Menschen gemäß. Vor allem aber ist die eigenste Ebene seiner Existenz das Zwischenreich, weder dem Geist, noch der Erde zugehörig, sondern ein substantielles Zwischen denselben verkörpernd — und alle vollartikulierten Zwischenreiche sind in urbanem Milieu geboren worden und gedeihen dort am besten. Auf dem Lande tritt bei den meisten das Naturhafte in ihres Bewusstseins Vordergrund. Das menschliche Zwischenreich existiert ursprünglich als ebenso bestimmte und weder weiter zurückführbare noch aufzulösende Einheit wie das Reich des Tierischen und ist darum als Urtatsache hinzunehmen. Es ist nicht so, dass diese Sonderebene der menschlichen Existenz vom Geist oder der Natur her zu deuten oder auf einem von beiden zu begründen wäre, sondern: alle in Frage kommenden Gegensätzlichkeiten samt all ihrer irdischen Problematik entfalten sich aus dem für sich unproblematischen Zwischenreich heraus. Diese von mir im Ursprung genau bestimmte und erläuterte Beziehung — die letzten und die nächstfolgenden Sätze sind Zitate aus diesem Buch, S. 63 ff. — hat den Vorzug, die Urparadoxie des Menschen­zustandes schon im Wortlaut festzuhalten. Logisch setzt die Vorstellung eines Zwischen das Vorherbestehen des Angrenzenden voraus: beim Menschen ist gerade völlig unbezweifelbar dieses Zwischen die als solche unproblematische Urgegebenheit. Sie ist genau im gleichen Sinne unproblematisch, wie die Gelbheit des Schwefels und das Ätzende des Königswassers, woraus unter anderem die Verfehltheit des Unterfangens einleuchtet, das Normensystem der Logik als universale Norm und Maßstab zu postulieren. Demgegenüber sind alle Regionen, zwischen welchen das Zwischenreich vermittelt, problematisch. Alle Geschichte beweist es. Es kann nicht nur die Existenz Gottes, der Götter, des Geistes, der Seele, des Guten usf. ohne petitio principii und ohne Denkfehler in Frage gestellt werden — auch die Materie, auch die mittels der Sinne erfassbare und mittels des Denkens greifbare Natur ist problematisch durch und durch. Je weiter kritische Physik und Biologie vordringen, desto mehr verflüchtigen sich alle Gewissheiten des Naiven. Nun mag der losgelöste Verstand oder die freispekulierende Vernunft auf der Ebene der Vorstellungen freilich auch die Existenz des Zwischenreichs in Frage stellen. Doch das ist möglich nur als verantwortungsloses Vorstellungsspiel: die erlebnismäßige Realität des Zwischenreichs steht gar nicht in Frage, da alle Fragen sich allererst von ihm aus stellen.

Zum Abschluss dieses Abschnittes sei noch das Folgende über die Welt der Künstlichkeit aus der ersten Skizze zum späteren Kapitel gleichen Namens angeführt.

Der Weg der Künstlichkeit ist im Fall des Menschen der Weg der Erfüllung seiner Naturbestimmung. Seine Künst­lichkeiten spielen in seinem Falle die grundsätzlich gleiche, nur eine noch viel vielseitigere und umfassendere Rolle als bei der Spinne das Netz. Betrachten wir von hier aus zunächst noch einmal die Grundproblematik der Technik und der Wissenschaft. Nur mittels erfundener Werkzeuge meistert der Mensch seine Umwelt ebenso gut, wie andere Wesen mittels ihrer angeborenen Organe. Diese Werkzeuge sind zunächst das Nächstliegende unmittelbar meisternde Apparate. Bei höherer Entwicklung der Intelligenz entstehen dann Werkzeuge mächtigerer Art, die sich nicht unmittelbar auf Nächstliegendes beziehen, wie Allgemeinbegriffe und Theorien; diese ermöglichen die Erfindung neuer und komplizierterer Werkzeuge. So und nicht anders verhält sich die wissenschaftliche Forschung zur Technik: die Zweckfreiheit jener ist die Voraussetzung der Erfindung beliebig vieler Zweckbezogenheiten. Aber das ganze Gebäude der Wissenschaft ist letztlich Apparatur, Erkenntnismittel und nicht Wahrheitsausdruck. Nun lässt sich aber an aller spezifisch menschlichen (im Unterschied zu seiner tierischen) Lebensäußerung des Menschen durch Abstraktion eine Seite feststellen, die den Begriffen der Technik und der Wissenschaft untersteht; auch an den irrationalen, den Empfindungs-, Gefühls- und Intuitions-Geborenen, und damit am gesamten Gebäude seiner Kultur und Zivilisation. Was nicht spontaner Naturausdruck ist, und das allermeiste am nicht-organischen Menschen­leben ist dieses nicht, gehört sonach der Sphäre dessen an, was von unserer Fragestellung aus als die des Künst­lichen und der Künst­lichkeit bestimmt werden muss. Ich sage absichtlich allemal Künst­lichkeit und nicht Kunst, denn in der echten Kunst in ihrem weitesten Verstande, und in ihr allein, wirkt sich Spontaneität gleicher Art aus, wie sie der Natur eignet. So können wir denn abschließend die folgende These aufstellen: die eigentliche Daseinsebene des über die Tierheit hinaus­ge­wach­senen Menschen ist die des Künst­lichen und der Künst­lichkeit: weder die der Natur, noch die des schöpferischen Geistes… Es ist darum lächerlich falsch, die moderne Intellektualisierung und Mechanisierung und Technisierung als Entfremdung von der Natur zu verurteilen: sie bedeutet, umgekehrt, vollendete Ausgestaltung der Menschen­natur, so wie sie heute ist. Der Mensch als Tier dieser geologischen Unter-Schicht vollendet sich allererst als denkendes und damit technisches Wesen. Im Kapitel Das Tierideal meines Buches über Nordamerika und zum Teil auch im Buch vom persönlichen Leben habe ich ausführlich auseinandergesetzt, dass und inwiefern wir heute im geologischen Zeitalter des Menschen leben, dessen Leitfossil der Mensch in genau dem gleichen Sinne ist, wie für frühere Zeitalter der Saurier, und dass das vornehmste Differenzial­kenn­zeichen dieser Epoche eben die technische Meisterung der Erde ist aus dem Geist der Wissenschaft. Diese Meisterung nun aber besteht, biologisch geurteilt, in dem, dass die Natur, wie sie sich ohne den Menschen darstellt, von diesem theoretisch und praktisch in Künst­lichkeiten eingefasst, von Künst­lichkeiten überschichtet, ja durch Künst­lichkeiten ersetzt wird. Während des Weltkrieges belustigten sich die Entente-Völker über den deutschen Ersatz, welches Wort seither in die meisten Sprachen aufgenommen ward. Mittlerweile ist aus dem Ersatz der Kunststoff geworden, und alles spricht dafür, dass diesem in der menschlichen Ökonomie immer mehr das Übergewicht gehören wird. Auf der großen deutschen Chemieausstellung des Jahres 1937 erklärte ein Professor, indem er den neuen deutschen Kunstgummi pries, ungefähr das Folgende: da Gott den Gummibaum schuf, hatte er nicht den Kraftwagen als Ziel im Auge; kein Wunder daher, dass der Naturgummi nicht allen Anforderungen des Fahrers genügt. Für diesen Zweck hat der Mensch neuerdings einen besseren Gummi erfunden, und so wird es auf die Dauer auf allen Gebieten kommen. Der Mann hatte grundsätzlich recht. Die eigentliche Welt des Menschen­tieres ist eine Welt der Künstlichkeit.
Künstlichkeiten zu schaffen, nicht die Wahrheit zu erkennen — dazu ist das Denken ursprünglich da: diese letzte These fasst denn alle bisher gewonnenen Erkenntnisse von deren tiefstem Sinne her zu simultaner Evidenz zusammen. Alles Künstliche ist ein Mechanismus im Gegensatz zum Organismus: darum ist das Mechanischeste am Geistesleben, das Denken, das für Weltmeisterung in Wissenschaft und Technik Wichtigste. Keine menschliche Künst­lichkeit (im Gegensatz zur Kunst) kommt auf instinktivem oder intuitivem oder organisch-plastischem Weg zustande wie bei Tieren und Pflanzen; der Weg ihres Zustandekommens ist ganz und gar vom Denken vorgezeichnet und darum ist das Niveau der technischen Leistung beim Menschen der Denkfähigkeit proportional. Scheint das irgendwo anders zu sein, so bedeutet dies allemal, dass frühere Geschlechter das Künstliche erdachten und dass spätere es gewohnheitsgemäß und darum gedankenlos weiter verfertigten. Zu diesen Künst­lichkeiten gehören sämtliche Gedankensysteme, nicht zuletzt die philosophischen: nichts an der gegebenen Wirklichkeit legt Vereinheitlichung im Rahmen von Systemen nahe; das Denken jedoch verlangt solche aus eigenem innerem Gesetz und darum ist jeder Denker physiologisch Systematiker. Jedes System nun ist ein der gegebenen Natur gegenüber anderes, eben ein Mittel, um sie zu bewältigen und zu meistern. Darum ist klar, dass Wissenschaft sich, je weiter sie fortschreitet, desto mehr in ihren Systemen von der Natur entfernen muss. Die Begriffe der allervorgeschrittensten Physik erheben überhaupt keinen Anspruch mehr darauf, ermittelte Wirklichkeit abzubilden, ja auch nur Vorstellbares zu behaupten. Immer und überall ist Ziel des Denkens der Aufbau eines Künst­lichen, nicht das Verstehen der natürlichen und noch weniger der übernatürlichen Welt.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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