Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

IX. Dichter und Zwischenreichs-Künstler - Konvention

Ich habe, in der Tat, ursprünglichen Sinn nur für ursprüngliche Natur und ursprünglichen Geist. In späteren Kapiteln dieses Werkes werde ich immer neue Aspekte des gleichen Grundthemas behandeln und variieren können, aber dieses bietet besonders günstige Gelegenheit, das Ungeistige der meisten Kunst herauszuarbeiten. Aus eigener Erfahrung wusste ich früh, wie wenig angeborene Talente mit echtem Geist zu tun haben; diese sind bloße Ausdrucksmittel, welche im Grenzfalle gar nichts auszudrücken haben. So gab die bildende Kunst in Italien mit dem Ende der Renaissance recht eigentlich ihren Geist auf, obwohl dieses Land und Volk an künstlerischen Natur-Begabungen heute noch genau so reich ist wie vor einem halben Jahrtausend. Ähnliches gilt von den Niederlanden und von Deutschland insofern, als hier neuerdings Abertausende nicht nur von Dichtern, sondern sogar von Philosophen auftreten, welche nichts von Belang zu sagen haben. Die Talente sind eben bloße Naturanlagen ohne direkten und notwendigen Bezug auf den Geist; deren Produkte aber liegen ursprünglich auf keiner höheren Ebene als auf derjenigen des Zwischenreiches. Was genau dieses ist und darstellt, darüber lese man das Kapitel gleichen Namens meines Ursprungs nach. Hier nur soviel zum besten derer, die es nicht schon vor Lektüre dieses gelesen haben sollten und welchen das, was in den beiden vorhergehenden Kapiteln dieses Buches darüber stand, zum grundsätzlichen Verstehen nicht genügt hat. Das Zwischenreich ist ein reales und substantiell zwischen den Daseinsebenen von Natur und Geist und die natürliche Daseinsebene des Menschen im Unterschied vom Tier. Die Norm dieses Reiches ist die Konvention im weitesten Verstande des Wortes. Das Zwischenreich ist an sich vollkommen unproblematisch; von ihm aus erstellen sich sämtliche Probleme — sofern sich solche stellen; die allermeisten Menschen haben nämlich nie im Ernste Probleme gestellt, sondern sich einfach bei den geltenden Zwischenreichsgestaltungen, das heißt Konventionen beschieden. Hier kann man soweit gehen zu behaupten: von der Kollektivität her beurteilt, hat das Zwischenreich zur geistigen Hauptaufgabe, das Dasein zu entproblematisieren. Es ist eben so, und nicht anders soll es sein; wer gegen diese oder jene Konvention, sei diese künstlerisch, gesellschaftlich, sozial, juridisch, politisch, kriegerisch, geschäftlich, religiös verstößt, macht sich zum mindesten unmöglich, und damit basta. Hier hat aller Dogmenglaube, hat alle Erkenntnis- und Neuerungsfeindschaft ihre tiefste Wurzel. Wer da in einem vorgefundenen Zwischenreich ganz aufgeht, fühlt sich wesentlich geborgen, auch wenn die jeweilige Norm Todesbereitschaft fordert, wie bei den Menschenopfern der mittelamerikanischen Kulte, aber auch im Fall jenes besonderen Zwischenreichs, welches die soldatische Norm aller Völker und Zeiten aus sich heraus schafft. Man kann nun nicht sagen, dass die Bedeutung der Konvention als letzter Instanz mit fortschreitender Zivilisierung abnehme, im Gegenteil: sie nimmt zu, insofern bewusstes Leben im Zwischenreich immer mehr zum Ersatz ursprünglichen Lebens wird. Bei echten, nicht entarteten Primitiven in ihrer Undifferenziertheit hängen Natur, Zwischenreich und Geist unauflöslich zusammen; daher der Tiefsinn ihrer Spiele und Zeremonien und andererseits die Naturnähe ihres noch so Konventions-Beherrschten Daseins. So global kann kein heutiger Europäer und Amerikaner, kann auch kein modernisierter Inder oder Chinese mehr erleben. Er unterscheidet, ob er es weiß oder nicht, zwischen Natur und Konvention und wiederum zwischen dieser und substantiellem Geist. Ist nun aber der Sinn für letzteren weitgehend verlorengegangen, wie das seit dem Siege der naturwissenschaftlichen Weltanschauung die Regel ist, dann realisiert er desto mehr und bitterer die aller Menschenwünsche spottende Eigengesetzlichkeit der Natur, und so wird ihm das Aufgehen im Zwischenreich zum Lebensersatz. Solche Menschen — je jüngeren Volksschichten sie entsprossen, desto mehr — konzentrieren ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, was das Erleben der Naturwirklichkeit abblendet. Daher der amerikanische und der russische Optimismus, welcher in beiden Fällen echt ist, obgleich alle Tatsachen, welche jedem vor Augen liegen, ihn widerlegen. Daher der amerikanische Glaube, dass Gottesnähe und Erfolg auf Erden einander entsprechen müssen und andererseits die russische Gleichgültigkeit allem Wohlleben, ja selbst dem Sterben gegenüber. Aber auch in Europa wird die Zahl derer immer größer, welche es nicht aushalten, das Leben so zu sehen, wie es wirklich ist. Der erste Stil-begründende Ausdruck dessen war der englische Victorianismus, welcher dem Bürgertum aller Völker im 19. Jahrhundert so phantastisch einleuchtete; dieser erlaubte, das Leben wesentlich rosa zu sehen, auch wo es pechrabenschwarz war. Ein geistigerer Ausdruck des gleichen war der zuerst vornehmlich französische, dann deutsche Ästhetizismus, dem die Betrachtung und deren Niederschlag in gefälliger Form das wirkliche Leben irrealisierte. Der Ästhet dieses Typus, welcher zu Beginn dieses Jahrhunderts den Ton angab, hielt die Herausstellung des Vorgestellten für wichtiger als das Erleben, wonach dann jede Kunst, auch die schlechteste, für wichtiger galt als das Leben selbst. Je weiter das 20. Jahrhundert nun fortschritt, desto mehr dienten Schlagworte, Programme und Planungen dem gleichen Ziele der Entwirklichung. Von hier aus erkennt man denn, ohne weitere Erläuterung, die Rolle der Kunst, wie sie Allerwelts-Dichter und -Maler und -Theaterspieler samt deren genießerischen Entsprechungen verstehen. Meist reden diese hochtönend vom Erlösenden der Kunst: von Erlösung kann nur dort die Rede sein, wo etwas geschehen ist, von dem man erlöst sein will. Demgegenüber spielt die sogenannte Erlösung durch die Kunst gerade dort die allergrößte Rolle, wo nichts erlebt wurde und dem Erleben durch Kunst vorgebeugt werden soll. Und das will sagen: den meisten bedeutet Kunst nicht Erlösung, sondern Ersatz. Dieser Ersatz gehört aber in die Branche der Konserven, welche der Amerikaner frischen Lebensmitteln vorzieht, weil sie unbegrenzte Zeit hindurch verwendbar sind. Oft habe ich die Vermutung ausgesprochen, dass die Archäologen kommender Jahrtausende die verschiedenen Schichten der heutigen Zivilisation an den jeweils vorherrschenden Konservenbüchsen beurteilen werden, wie Geologen diejenigen der Erdgeschichte nach deren Leitfossilien.

Das hemmungs- und rücksichtslose Versemachen unzähliger Deutscher hat hier seinen tiefsten Grund. Erst seit 1933, wo jeder Gau möglichst viele Dichter als Vertreter seiner Landschaft herauszustellen beflissen war, ist notorisch geworden, wie viele Dichter es in Deutschland gibt, welche als solche ernst genommen werden wollen. Rechnet man hierzu noch die Hunderttausende von Versemachern ohne Prätention, dann mag einen leicht Schwindel überkommen. Mir aber wurde von jeher, in Wilhelm Buschs Sprache, blümerant zumut, wenn ich aus Dichtermund den Dichter preisen hörte, als sei er ipso facto der höchste Mensch schlechthin, als welchen ihn Schiller in einem unbewachten Augenblicke pries — ähnlich, wie manche Mütter ekstatisch über die übernatürlichen Fähigkeiten und Tugenden der Mutter reden, wobei auffällt, dass die Betreffenden meist besonders unzulängliche Mütter sind. Sogar ein echter Mensch wie Rudolf G. Binding, der zwar ein kleiner Geist, jedoch ein echter Künstler war, hat dergestalt geschrieben und anscheinend nicht gemerkt, wie lächerlich er sich damit machte. Soll der Dichter wirklich der höchste Mensch sein, so kann dieses Werturteil nur auf der Konvention beruhen, dass das Irreale und Irrealisierte ernster genommen werden soll als das Reale. Dichter sind nämlich selten persönlich tiefe Menschen, viel seltener als solche, denen kein Gott gab zu sagen, wie sie leiden. Durch das Sagen reagieren sie ihr Erleben ab und haben damit ihren Lohn dahin. Oder aber Dichter haben wohl tiefe Einfälle, aber diese entstammen nicht ihrem persönlichen Kern. Doch wie es immer von Fall zu Fall mit den Schöpfern stehe: ihre Bedeutung für andere beruht darauf, dass diese sich entäußern können, indem sie in Gefühlen und Stimmungen eines anderen leben, sich mit von anderen erfundenen Gestalten identifizieren, ihre Aufmerksamkeit auf die konventionelle Ebene von Vers und Reim und deren Entsprechungen auf anderen Kunstgebieten richten — und damit ihr eigenes wirkliches Leben abblenden. Schon wie ich dreißig war, spielte Rilke für viele die triste Rolle eines Ersatzlieferanten, und die ungeheure Popularität dieses nihilistischesten, verzweifeltesten und unmetaphysischesten aller bedeutenden deutschen Dichter — denn bedeutend war er als solcher und seine Kunst war groß — gerade in der furchtbaren Zeit des zweiten Weltkrieges, hat ganz bestimmt keine besseren und tieferen Gründe. Indem sie Rilke lesen und zitieren, anästhesieren sich viele gegen Terrorangriffe oder die Trauer um Gefallene, oder aber sie genießen masochistisch ihre eigene Verzweiflung und ihre eigene Trostlosigkeit, in schöner Form zum Ausdruck gebracht und als Liebe zum Leben getarnt. Ich weiß, dass ich mit dem, was ich hier sage, Unzählige empören werde; aber die Dinge liegen nun einmal so und nicht anders. Selbstverständlich ist Ausdrucksfähigkeit auf dem Gebiete der Gefühle und Empfindungen ein großes; und die wenigen, welchen diese Gabe beschert ward, schaffen damit für alle Organe möglichen Erlebens, nicht anders wie der, der eine neue Wahrheit verständlich formuliert, dieselbe damit zum möglichen Besitze aller macht. Doch dieser Umstand ändert nichts daran, dass das Leben in fremder Dichtung und auf der Ebene konventioneller Kunstform in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle Ersatz bedeutet und dem Willen zum Abblenden des ursprünglich Eigenen entspringt. Der behandelte Hang nach Irrealisierung erlebt seinen bisherigen Höhepunkt in der Verherrlichung des Schauspielers gegenüber dem realen Vorbild und des Dirigenten gegenüber dem Komponisten. Selbstverständlich spielt hier das Neidmotiv eine beachtliche Rolle. Großer Schein ist erträglicher als großes Sein, denn scheinen kann grundsätzlich jeder oder glaubt es wenigstens zu können; gleiches gilt vom Verstehen und Aufführen gegenüber dem Erfinden. Aber das eigentliche Problem liegt doch auf anderer Ebene. Das Histrionische ist das Element des Zwischenreichs. Als Konventionsbefolger ist schlechthin jeder Schauspieler, als Vorgesetzter in einem auf Routine beruhenden Amt oder Geschäft schlechthin jeder Dirigent. Die Vorliebe für Erdichtetes und Gespieltes gegenüber dem eigen-Persönlichen scheint aber die Lebensangst zu adeln, indem diese sich nun in einer Form auslebt, welche Ausdruck echten und tiefsten Geistes sein kann, und befriedigt im übrigen den moralischen Sinn durch Vorgaukelung der Desinteressiertheit. Denn das Schau-Spiel ist, wie im Schlusskapitel Divina Commedia der Meditationen gezeigt wurde, andererseits der Urausdruck des Lebens aus dem Geist, und dieses ist wirklich, vom Standpunkt der Erde aus geschaut, ursprünglich desinteressiert. Nur dass die allerwenigsten, welche schauspielern, es also meinen.

Und doch gibt es eine stichhaltige Rechtfertigung für dieses sehr Oberflächliche: der Mensch lebt primär, in erster Instanz, im Zwischenreich. Darum muss ihm jeder Ersatz von Hause aus mehr liegen als das Original; die meisten Völker, deren Männer Bärte trugen, bevorzugten falsche Bärte. Hier setzt denn die Bedeutung des Ausdrucksvermögens ein, von welchem wir schon schrieben. Angemessener Ausdruck evoziert in anderen die ihm entsprechenden Gefühle und Empfindungen, die sie von sich aus nicht hätten. So erleben sie unter Umständen, wenn sie fremde Gedanken lesen oder fremde Lieder anhören, Tieferes, als ursprünglich in ihnen liegt, und gelangen damit in der Vorstellung auf eine höhere Daseinsebene hinauf, welche Vorstellung das reale Leben günstigenfalls ergreifen und verwandeln kann. In den meisten Fällen tut sie dies indessen nicht. Meistens führt Identifizierung mit Fremdem nur zu Lebensersatz und macht die Betreffenden oberflächlicher, als sie bei Selbstbescheidung wären oder würden. Bedenken wir von hier aus die ungeheure Bedeutung, die der Roman im 19. Jahrhundert gewonnen hat. Vorher hatte er diese charakteristischerweise nicht, es gab auch keine guten Romane; die Rolle, welche seither der Roman ausfüllt, spielte in früheren Zeiten das Märchen und der Mythos, zu welchem auch die Bibel zu rechnen ist. Die früheren Menschen lebten eben viel mehr aus ihrem lebendigen Mittelpunkt heraus und waren in allen Hinsichten so viel beteiligter, dass sie dieser Form von Kompensierung nicht bedurften. Gerade auf das, was der Begriff Beteiligtsein einschließt, kommt es hier an. Wenn Tolstoi mit Recht das Schöpferische des Alltagslebens des Mushik pries, als welcher alles selber mache, von allem, was er tut, ursprünglich wissen müsse, für welchen jede Hantierung bedeutsam sei, so meinte er eben dies. Tolstoi irrte nur, indem er behauptete, nur unzivilisiertes Leben könne ursprünglich und echt sein: der Mensch ist im Gegenteil für die Welt der Künstlichkeit vorherbestimmt, in ihr erst erfüllt er sich, aber noch kann er in seinem Vollendungszustande schwer ursprünglich sein. Hier liegt der tiefste Grund jener Sehnsucht nach Primitivität und Wildheit, die sich gegen Mitte des 20. Jahrhunderts viel stärker noch äußert als im 18., als nur die verfeinertesten Oberschichten nach der Natur zurückstrebten. Heute, wo alles industriell für jedermann hergestellt wird, ist es viel schwerer noch, am elementaren Leben beteiligt zu sein als dazumal. Frühe Zeiten nun waren an ihrem eigenen Leben durchaus beteiligt. So schwer oder schwierig ihr Dasein sein mochte — nie war es öde und leer; immer war es mit der Tiefe des Lebensgrundes verknüpft, es verlief auch bewusstermaßen allezeit am Abgrund, der Tod war immerdar nahe, das Schicksal gegenwärtig. Was einer indes in sich nicht ausleben konnte, das projizierte der frühe Mensch auf reale Ehrfurchtsmitten — den höheren Stand, die Obrigkeit, die Kirche, den König, Gott — an die er wirklich glaubte. Es ist schwer zu ermessen, in wie ungeheurem Grade das Ende des Tabu der Kritik am Bestehenden und traditionell Übergeordneten den Menschen um tiefste Erlebnisse gebracht hat: kritisiert der Mensch nämlich, so stellt er sich außerhalb, kann er von dem, was er nicht ist, schwer mehr ergriffen werden. Über die Ehrfurchtsmitten hinaus aber projizierte der frühe Mensch das, was er in sich selbst nicht ausleben konnte, auf reine Geistesgebilde, die ihn einerseits der Erdschwere enthoben, ihn aber andererseits unmittelbar mit seinem geistigen Ursprung verbanden. Letzteres gilt gerade auch vom Märchen, vom Mythos ganz zu schweigen. Wie stellt sich demgegenüber der moderne Romanleser dem also Lebenden und Erlebenden gegenüber dar? Er lebt das Leben von Romanfiguren an Stelle des eigenen, und diese sollen nicht mehr sein als er selbst; es handelt sich also um reine Irrealisierung und um bewusstes Vorziehen des Ersatzes; man gedenke hier des über Konservenkultur Gesagten.

Warum wird dieser Ersatz vorgezogen? Über die schon angeführten Gründe hinaus aus dem Grunde, weil das eigene Leben der meisten völlig Sinn- und Schicksals-lose geworden ist. Demgegenüber hat jeder, auch der schlechteste Roman ein plot, alle seine Gestalten haben ein Schicksal, jede Begebenheit Sinn. Der Lebensbedeutung des Romans kommt ferner zugute, dass seine Form eigentlich Unform ist. Alles kann er auf beliebige Weise in sich hineinbeziehen, keine Möglichkeit schließt er grundsätzlich aus; in ihm kann jeder Schreiber und jeder Leser sich selber vollständig entäußern und umgekehrt durch den Mund anderer Eigenes aussprechen, was er direkt schwer sagen würde. Wolkoff bemerkte einmal sehr gut: le roman, c’est l’esprit des autres. Ich meinerseits definierte einmal den typischen deutschen Roman als brouillon einer schlechten Philosophie. Als Kunstwerke wirklich gute Romane gibt es nur ganz wenige, diese allerdings sind als Leistungen besonders bewundernswert, weil aus solcher Unform echte Form zu machen besonders schwer fällt — ich rede hier natürlich von richtigen Romanen, nicht von Novellen, denn Kurzgeschichten lassen sich leicht abrunden. In französischer Sprache kenne ich aus neuer Zeit nur einen wirklich bedeutenden, des Fortlebens würdigen Roman: Guy de Pourtalès’ La pêche miraculeuse. Das größte Romankunstwerk überhaupt eines zeitgenössischen Autors ist meiner Ansicht nach Louis Bromfields Twenty-four Hours; hier hat ein Dichter von ungewöhnlicher Gestaltungskraft das Kunststück zuwege gebracht, in einem Roman sogar des Aristoteles’ Einheiten einzuhalten, ohne dass der Inhalt dadurch litte. Gleichwertige deutsche Romane kenne ich nicht, weil der deutsche Hang zur Unform durch dieses unförmliche Ausdrucksmittel übersteigert wird. Womit ich aber nicht sage, dass es keine bedeutenden deutschen Romane gibt: da der Roman nun ein mal Unform ist, so hängt die Bedeutung ganz und gar vom Format und dem Reichtum der Persönlichkeit ab, die sich selbst verständlich auch, wo vorhanden, in Form einer Erzählung offenbaren kann. Hier steht zur Zeit, da ich dieses schreibe, Frank Thiess an erster Stelle. Bisher hat er ein ganz großes Kunstwerk geschaffen: Tsushima, das aber kein Roman, sondern ein Epos ist, und zwar eines der bedeutendsten der deutschen Sprache. Seine anderen Sachen sind als Kunstwerke von wechselnder Qualität, weil es Thiess bei seiner überreichen Begabung schwerfällt, irgendeine vorgegebene Form nicht zu sprengen. Sein bester Roman als Roman ist wohl sein Caruso, dieses Hohelied des Mythos der Menschenstimme. Aber hier sprengt wiederum der Sinn die Form: es besteht eine große Diskrepanz zwischen Bedeutung und Tatbestand, eindeutig symbolisiert durch seine wunderschönen Auslassungen über Musik ausgerechnet am Gegenstande von Gounods Faust, einer der schlechtesten Musikschöpfungen aller Zeiten. Ganz schlecht als Romane sind diejenigen Goethes, die ja auch zum großen Teile Kompilate aus verschiedenen Zuständen und Ansätzen sind. — Aus allem Gesagten folgt unter anderem auch, dass größte Romane — schlecht geschrieben sein können. Letzteres galt zweifellos von Dostojewski und Balzac, wahrscheinlich auch von Cervantes.

Doch alle diese ästhetisierenden Betrachtungen nur nebenbei. Das Wesentliche am Roman ist nicht die Kunstgattung, welche er darstellt, sondern der Lebensersatz, welchen er bietet. Kein Zweifel, dass die These, die Kunst sei mehr als das Leben, hier ihren Ursprung hat. So redet keiner, welcher ein erfülltes Leben hat, wie denn keiner, der zu den Begnadeten der Liebe gehört, Liebesgedichte macht oder solche gerne liest, und, allgemeiner, keiner gern darüber spricht, was er tut. Zumal die Freude am Repetieren beweist allemal Mangel an Eigenem. Wahrscheinlich gilt dies von aller Reproduktion. Meiner Natur ist es unfasslich, wie es jemand freuen kann, zu wiederholen oder wiederholt zu sehen, was er bereits weiß. Doch die meisten freuen sich gerade am déjà vu. Besonders Frauen schwelgen im Wiedererzählen oder Wiedererzählen-Hören. Hier denke ich zumal an Alja Rachmanowa und deren Leser, aber auch, rückblickend, an die vielen Darmstädter, die im Darmstädter Tageblatt zum Beispiel eine genaue Schilderung von Schloss Kranichstein gewichtig genießend prüften und dann schmunzelnd erklärten, ja, so ist es wirklich. Der Marktwert bildender Kunst beruht zweifelsohne zum allergrößten Teil auf der Freude am Nachgeahmten. Es ist Unsinn zu behaupten, das Nachahmende bei der Malerei sei unwesentlich — freilich ist es das bei großer Kunst, aber deren gibt es wenig, und vor allem: die meisten kaufen Bilder um des Dargestellten willen. Auch hier spielt das Ersatz-Element eine entscheidende Rolle. Der Mensch lebt eben primär im Zwischenreich, dem der Ersatz gemäßer ist als alles Originale. So schauerlich es klinge, ich habe viele beobachtet, die in den Schlachten des zweiten Weltkrieges nur Materialien sahen für die Wochenschau. Zwischenreichskünstler, die von ihrer Arbeit leben, haben es von jeher so gehalten. Die meisten gangbaren Romane sind Schlüsselromane. Angesichts der Gewichtsverteilung seiner Begabung könnte man beinahe sagen, dass Winston Churchill seine Politik nur eine Vorarbeit bedeutet hat für seine wirklich guten Bücher. Man mache es sich nur immer wieder klar, was das Zwischenreich ist und dass es den primären Lebensbezirk des Menschen abgrenzt. Es ist nicht richtig, was Kant und Schopenhauer, jeder auf etwas andere Art, behaupteten, dass unsere Welt Vorstellung sei, wohl aber lebt jeder Mensch bewusst in erster Instanz nicht in dem, was sein konkretes Wesen unmittelbar ergreift, sondern in dem, was er vor-stellt und damit außer sich erfährt. Eine vorgestellte Hinrichtung ist nicht identisch mit einer wirklichen.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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