Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

I. Ursprünge und Entfaltungen

IX. Dichter und Zwischenreichs-Künstler - Leben als Kunst

Ich für meine Person habe nie das Bedürfnis nach Ersatz gespürt, vom Kaffee-Ersatz angefangen bis zum nur vorgestellten Liebeserleben, noch auch je ehrliches Verständnis dafür aufgebracht. Von Kind auf habe ich nicht umhingekonnt, alle Konventionen früher oder später zu durchschauen, und ich erinnere mich keiner, die ich je für wichtig genug gehalten hätte, um sie auch nur als Spielregel innerlich ernst zu nehmen. Vielleicht hängt letzteres auch damit zusammen, dass mir der Sinn für geregelte Spiele völlig fehlt. Mein persönliches Leben, aus dem eigenen Inneren und dessen reicher Bilderwelt gespeist, war von jeher so voll, dass ich nie das Bedürfnis spürte, es künstlich aufzufüllen. Selbstverständlich habe ich dank meinem daraus sich ergebenden Mangel an Neugierde und auch an Abenteurersinn im banalen Verstand des Worts sehr vieles, was andere erlebt haben, nicht erlebt. Aber an diesen Erlebnissen lag mir eben nicht und vor allem nicht an deren Vielzahl und Wiederholung. Wer ursprünglich auf den Sinn eingestellt ist, dem steht eines als Sinn-Bild für jede nur mögliche Zahl, und wessen Erinnerung, wo sie überhaupt statthat, ebenso lebendig und plastisch ist, wie gegenwärtige Erfahrung, der bedarf keiner Auffrischung derselben. Vor allem aber langweilten mich bloße Tatsachen von je; nichts war mir von Kind auf greulicher, als wenn mir jemand umständlich sein geistig undurchdrungenes Leben erzählte, von Krankheitsgeschichten zu schweigen, was 90 Prozent Gesprächsstoff aller Durchschnittsmenschen ausmacht. Ich selber erlebte an jeder Kleinigkeit von früh auf unermeßlich viel; nie habe ich Blasiertheit, nie Langeweile gekannt, es sei denn, letztere wurde mir durch innerlich Abgelebtes aufgezwungen. Eben darum konnte ich mich auch in fremde Gefühle und Stimmungen von Jahr zu Jahr schwerer hineinversetzen, es sei denn, das eigene Werk erforderte solche Anempfindung. Aus alledem ergibt sich eine so ungeheure Bedürfnislosigkeit, was Äußeres betrifft, dass ich eigentlich zeitlebens, wo immer ich war, wie ein Einsiedler in der Wüste existiert habe. Wohl keiner, welcher die äußere Möglichkeit dazu hatte, hat dermaßen wenig von dem ausgenutzt, was ihm geboten wurde. An Menschen interessierte mich immer nur ihr Ursprüngliches; daher meine immer ausgesprochener werdende Abneigung gegen Literatur als Extremausdruck von Zwischenreichlichkeit. Selbstverständlich kann es großes Leben in Form von Dichtertum geben; solchen Großen verzieh und verzeihe ich dann ihre Vorliebe für das, was ich als künstlich empfinde. Mit Gerhart Hauptmann, einem wirklich bedeutenden Mann, bin ich immer besonders gern zusammen gewesen, und dieser hat auch niemals verlangt, dass ich seine Produktion verfolge. In Literaturkreisen gern verkehrt habe ich ausschließlich in Frankreich, weil dort eine Klassensolidarität der Geistigen besteht, ganz unabhängig vom Verständnis des einen für des anderen Sonderart, unter allgemeiner Anerkennung des absoluten Wertes der Qualität als solcher. Die Sonderart wurde dort, solange ich dort gut bekannt war, grundsätzlich undiskutiert geachtet; so unter anderen die meine, mich für Literatur als solche wenig zu interessieren.

Dort allein ist auch der Sinn für geistigen Zusammenhang mittels gepflegter Sprache so ausgebildet, dass ich mich dessen als eines Phänomens freuen konnte wie eines seltenen und kostbaren Tieres. Doch wie wenig erfreulich sind die Geistigen, die in ihrem métier als solchem ein Höheres sehen als in irgendeinem anderen Handwerk — womit ich auf die deutsche Beweihräucherung des Dichters zurückkomme. Mir bedeutete es eine erlösende Offenbarung, als ich aus Alfred Webers Kulturgeschichte als Kultursoziologie erfuhr, dass die deutsche Renaissance im Unterschied von derjenigen aller anderen Länder vom Handwerkerstande ausging. In Deutschland scheint wirklich alle echte Kunst aus dem Ehrgeiz des Handwerkers emporgewachsen zu sein, seine Sache gut zu machen. Das spürt man sehr deutlich noch bei Bach. Wie es denn charakteristisch ist — eine Erklärung dafür weiß ich nicht, Richard Benz gab, glaube ich, eine, die mir seinerzeit einleuchtete, aber die habe ich vergessen —, dass das deutsche Volk an ursprünglicher Musikalität von vielen übertroffen wird, jedoch unübertroffen dasteht in der Meisterschaft, die übrigens nicht immer auf musikalischem Gebiete lag; derselbe Benz hat überaus geistreich die These verfochten, dass es derselbe deutsche Urdrang war, der sich im Mittelalter in der Architektur und später in der Musik auslebte. Ich nun habe nie in irgendeinem Handwerk exzelliert und auch für keines besonderes Verständnis empfunden. Eine meiner größten Hemmnisse beim eigenen Schaffen war von jeher dies, dass ich am Handwerklichen des Schreibens so wenig und zuletzt, als meine Hand den Gedanken kaum mehr folgte, überhaupt keine Freude mehr hatte; worin auch wohl eine der Ursachen der mit den Jahren zunehmenden Undeutlichkeit meiner Handschrift liegen dürfte. Freude gehabt habe ich einzig und allein an meinen Einfällen und darum auch bei anderen nur an dieser Seite ihres Schöpfertums. Bei mir liegen die Dinge überdies so, dass Üben mir niemals genützt, sondern, wo ich insistierte, eine Sache bloß verekelt hat. In meinem Fall war die erforderliche Technik jedesmal von selber da, wenn ein Sinn ursprünglich nach Ausdruck drängte, sogar im Falle des Klavierspiels; nicht anders ist ja wohl die Sprache als Geistesausdruck mit ihrer Grammatik und Syntax ganz von selbst entstanden; nicht anders entstanden sicherlich die großen Dichtungen der Vorzeit. So bin ich denn, und arbeite ich noch soviel, wesentlich Improvisator und habe bei anderen echte Freude eigentlich an dem allein, was ich als Improvisation empfinde. Jeder echte Dilettant sagt mir mehr als der größte Virtuose. Dem Dichter Benno Geiger, der aus vollendetem Sinnverstehen heraus Bach vortrug, ohne viel zu können, lauschte ich lieber als dem größten Konzertspieler. Und gern glaubte ich es Felix Mottl, wenn dieser mir erzählte, das schönste bei Richard Wagner sei gewesen, wenn er am Klavier improvisierte, obgleich er ausgesprochen schlecht spielte. Bachs Improvisieren gar muss viel bedeutender gewesen sein als sein veröffentlichtes Werk, obgleich dieser eine Mann das Wunder vollbracht hat — so sehr waren Gott und Handwerker eins in ihm —, tiefsten und höchsten Geist in Fingerübungen zu verkörpern. In Dorpat fuhr ich mitunter gern aufs Land, um den improvisierten sechsstimmigen Chören der russischen Studenten zu lauschen — die fand ich schöner als jeden Schulgesang. Zigeunermusik hat mich von jeher am tiefsten gepackt. Das russische Volkstheater empfand ich immer als unvergleichlich herrlich, weil sich dort hohe Kunst aus dem realen Leben der Straße herausentwickelt; unmerklich wurden da aus im Alltag aufgehenden kleinen Leuten große Schauspieler. Shakespeares gleichzeitiges Dichter- und Schauspielertum, welches immer ad hoc schuf oder einsetzte, stelle ich mir ähnlich vor. Von meiner Wertschätzung des Improvisierens her kann ich natürlich auch große Dirigenten bewundern, und dies zwar tiefer als es die meisten tun, weil mir an Korrektion und Schulmäßigem gar nichts liegt. Denn jede gute Aufführung ist letztlich eine Improvisation des Aufführers, und habe dieser vorher noch so gründlich geprobt; aller Anschlag, alle Stimmung hängt von der ursprünglichen Eingebung des Augenblicks ab. Ja, mögen es mir die Schulmeister aller Länder und Zeiten verzeihen: der Tiger, welcher trotz jahrelanger Gefangenschaft im Käfig, in dem er sich kaum bewegen konnte, seine ganze Kraft und Gewandtheit beibehält, imponiert mir tausendmal mehr, als wer dank systematischem Training alle Rekorde schlägt. Hiermit gelange ich denn zu dem einen Dichter, welcher mir viel, und zwar unermeßlich viel bedeutet hat: Rabindranath Tagore.

R a b i n d r a n a t h - T a g o r e - G r a f - H e r m a n n - K e y s e r l i n g

Der war ein Schöpfer wie die alten Barden und Skalden, welche — wie es in der finnischen Sage heißt — die Wälder und Sterne erst sangen, wodurch sie allererst wurden, oder wie, um ein groteskes Beispiel des gleichen zu geben, jene erste Mutter der Welt der kabylischen Sage, welche eine unordentliche Magd du Schwein beschimpfte, worauf es weiter heißt: So wurde der Name des Schweins bekannt, bevor Gott der Herr das Schwein erschaffen hatte. Einmal in Darmstadt sagte mir Tagore seufzend:

Ich dichte, so wie bei uns in Indien die Bäume blühen, jahraus, jahrein. Aber deren Blüten fallen ab und zerstäuben. Meine werden aufgesammelt, und das ist vielleicht nicht gut.

Tagore fiel die längste Zeit seines Lebens hindurch Gedicht auf Gedicht und Musik auf Musik dazu ein. Die sang er dann vor sich hin; die Zuhörer kamen und gingen, denn in Indien schließen keine Türen, und kein Besucher wird einem verehrten Mann gegenüber zudringlich. Die, welche ein vom Meister vorgetragenes Gedicht nur einmal gehört hatten, vergaßen es nie; still und schweigend gingen sie von dannen, trugen es ins Volk hinaus; kurz darauf sangen es Millionen. So hat Tagore recht eigentlich durch sein Wort und seinen Gesang das bengalische Volk, ja vielleicht das künftige allindische erschaffen. Aber wie trug er selber in seiner Muttersprache vor! Da war er ganz Rhythmus, Melodie und Wort zugleich, jede Faser seines Körpers vibrierte unisono mit Geist und Seele, und dank dieser seiner ungeheuren Gegenwärtigkeit war und blieb Tagore Improvisator, auch wo er Bekanntestes und Ausgearbeitetstes vortrug; zum Beispiel wenn er uralte Sanskritgebete vor-betete. Da hauchten sein lebendiger Glaube, sein lebendiges Verstehen, seine glühende Liebe zur indischen Überlieferung dem Alten eine neue Seele ein. Wie sehr Europa, was das Erkennen von Ursprünglichem betrifft, verbildet ist, ersieht man daraus, dass Tagore allgemein nach seiner Literatur beurteilt wird. Die ist zum Teil sicher nicht allerersten Ranges, jedenfalls nicht seine englische, denn als echter Volksdichter ist er an seine Muttersprache streng gebunden. Aber wie kann einer, welcher Augen zu sehen und Ohren zu hören hat, in Tagore überhaupt einen Literaten sehen! Wie ich 1921 von der Darmstädter Tribüne aus alles dazu tat, um Tagore so herauszustellen, wie er wesentlich ist und gesehen werden sollte, erlebte ich seitens anderer Dichter allerhand Häßliches, was ich ihnen nie verziehen habe. Sie weigerten sich mitzumachen: wenn Tagore uns sehen will, so möge er uns besuchen; dann zeigen wir ihm, dass wir auch etwas können im Verkehr von gleich zu gleich. Aber der Niveauunterschied zwischen diesen Leutchen und dem großen Inder war und ist in meinen Augen — und hier sehe ich wohl richtig — kaum geringer als zwischen einem dunklen Planeten und einer Sonne. Tagore dichtete und sang wahrhaftig aus dem Ursprung heraus. Die Herrschaften jedoch, welche ich hier meine, waren nichts als handwerklich mehr oder weniger geschickte oder geschulte Zwischenreichler. Womit ich denn zur letztgültigen Fassung dessen gelange, worin ich den Unterschied zwischen echter Kunst als Geistesausdruck und deren zwischenreichlichem Ersatz sehe. Talent zum Dichten hat als solches nichts, aber auch gar nichts mit Geist zu tun. Es ist ein sonderliches Können wie ein anderes, der gleichen Ebene zugehörig wie Talent zum Geschäftemachen, zum Taschendiebstahl usf. Nur dass das Dichtertalent ein sehr viel häufiger vorkommendes ist; wenige gibt es, die es nicht wenigstens eine Zeit ihres Lebens über ausgeübt hätten. Als Träumender ist überdies jedermann Dichter, und es braucht bloß eine physiologisch bedingte Verquickung oder leicht herzustellende Verbindung zwischen Traum und Wachbewusstsein zu bestehen, damit einer fabulieren kann; insofern ist der Dichter das häufigste aller vorkommenden und landläufigen Geschöpfe. Was nun das Rhythmische betrifft, so ist es charakteristisch für alles Naturgeschehen überhaupt, nicht allein des lebendigen, vom nur-geistigen zu schweigen; man gedenke nur der Chladnischen Figuren: das dümmste Stück Glas vom stursten Bogen gestrichen offenbart mehr Wissen vom Rhythmus als der größte Musiker. In richtig eingestellten Zeiten nun dachte keiner unter Zehntausenden daran, als Dichter aufzutreten, bloß weil er Verse machen konnte, und vollends kam niemand darauf, solche Dichter als höhere Wesen zu verehren. In den letzten hundert Jahren dagegen hat sich das Bewusstsein vom Zwischenreich im Unterschied von Natur und Geist so sehr differenziert und auch ausgeprägt, dass es eigene, auf seiner Ebene natürliche Bedürfnisse auch auf dem Gebiet des Künstlerischen hat. Darum ist die moderne Kunst, künstlerisch beurteilt, so phantastisch unkünstlerisch, derjenigen der Neger weit unterlegen. Diese an sich ganz unkünstlerischen Bedürfnisse zu befriedigen, ist die Angelegenheit der modernen Dichterindustrie, die eine Abart der Fremdenindustrie ist. Es geht in Ordnung, wie es im heutigen Deutsch heißt, dass amerikanische Verleger Novellen nach Maß bestellen, mit kontraktlich festgelegter Zeilenzahl, und dass es immer mehr für erlernbar gilt, gute Romane zu schreiben. Das, was die Massen befriedigt, indem es ihnen den ersehnten Lebensersatz schafft, ist wirklich durch fleißiges Üben zu erlernen.

Von der großen Kunst, die im Unterschied von der meisten unmittelbar aus dem Ursprung stammt, werde ich am Schlusse dieses Kapitels handeln. Hier sei noch auf das Positive des Schöpferischen näher eingegangen, das sich im Zwischenreich erschöpft und nach keiner Richtung über dieses hinausweist. Dieses Positive hängt mit dem zusammen und bezieht sich auf das, was Goethe Natur im Unterschiede von Talent hieß. Wohlweislich verwendete er hier das Wort Natur und nicht Genie, denn was letzteres bedeutet, bleibt immer Sache der jeweiligen Konvention, zumal Genie ohne Berücksichtigung der sozialen Bedeutung, welche niemals von ihm allein abhängt, gegenständlich nicht zu bestimmen ist. Natur bedeutet ursprüngliche Schöpferkraft, welchen geistigen Ranges immer diese sei, und es ist kein Genie vorstellbar, das nicht als Schöpfer eine Natur im Goetheschen Verstand gewesen wäre. Alle Naturen nun sind der gleichen Artung wie Tagore, und so gering der geistige Wert oder Rang vieler sei — was ihnen tatsächlich eignet, kann ihnen nicht abgesprochen werden. So hatte Karl May sicher viel mehr Phantasie als Goethe und der freilich auch nicht geringe Verdi mehr Einfälle als Richard Wagner. Wie unglaubwürdig viel fiel den beiden Alexandre Dumas, Gerhart Hauptmann oder gar Lope de Vega ein! Einen jener über-einfallsreichen Spanier — gerade Spanien bringt viele solcher hervor, vielleicht in Kompensation der geringen Anzahl großer Talente, die diesem doch hochbegabten Volk entsprießen — habe ich noch persönlich gekannt: das war Valle-Inclán. Gleich den meisten Spaniern parlierte dieser ununterbrochen — der argentinische Dichter Ricardo Güiraldes prägte dafür das Bonmot: Dios diò al hombre la palabra, però ’el palabréo al Espanol1 — und erzählte die wunderbarsten Geschichten aus seinem Leben; zweifelte ein Zuhörer deren Wahrheit an — keine war natürlich wahr — dann geriet der weißbärtige Patriarch in Wut und ging mit den Fäusten auf den Frechdachs los. Aber alle seine Geschichten waren hervorragend gut. In hohem Grade einfallsreich in gleichem Sinn ist ein Zeitgenosse, von welchem es nicht viele ahnen: der Geschichtsprofessor und ehemalige Völkerbundskommissar in Danzig Carl J. Burckhardt.

Lässt man diesen, ohne ihn zu unterbrechen, erzählen, so fällt ihm nicht viel weniger ein als Valle-Inclán; oft habe ich bedauert, dass er keine Neigung zum Beruf des Dichters fühlte. Solche Improvisatoren hat es nun zu aller Zeit sehr viele gegeben, von welchen nur ganz wenige schrieben; die mit literarischen Neigungen zu einem Teil nicht, weil der Widerstand der Hand das spontane Ausströmen ihrer Einfälle hemmte, zu einem anderen und größeren, weil sie in erster Linie mündliche Menschen waren — welch ein Verlust, dass es im Westen nicht mehr wie im Orient, professionelle Erzähler gibt! Die Allermeisten aber kamen gar nicht darauf zu schreiben, ihnen genügte das Aussprechen als solches — darum fühlten sich viele vollkommen befriedigt, wenn sie sich selber Geschichten erzählten — oder die Mitteilung an ihre Nächsten. Woraus dann folgt, dass man einen Urteilsfehler begeht, wenn man zwischen der Großmutter, die ihren Enkeln erzählt, und dem berufsmäßigen Erzählungskünstler so scharf unterscheidet, wie dieses üblich ist. Margaret Mitchells Gone with the Wind ist ein sehr großer Roman; das liegt aber nicht an ihrer ursprünglichen Begabung und schon gar nicht an ihrer besonders hohen Kunst, sondern an erster Stelle am pietätvollen Gedächtnis der Enkelin für die Erzählungen der Großmutter (oder Großtante?). Mein Vater improvisierte für uns Kinder einen besseren Roman, dessen Helden gleichaltrig mit uns waren und im Gleichklang mit uns von Jahr zu Jahr heranwuchsen, als ich ihn je gelesen habe. So wunderbar nun solche Fähigkeit des Produzierens sei — sie ist genau so wunderbar wie die Fortpflanzung körperlichen Lebens — um ursprünglichen Geistesausdruck handelt es sich in den gemeinten Fällen nicht, sondern um Zwischenreichliches. Zum Leben des Zwischenreiches gehört ganz wesentlich die Erinnerung, zu der in diesem Zusammenhang das Neuerfinden mitzählt; hier liegt für das Zwischenreich die Kontinuität, die auf der Ebene körperlichen Lebens die Vererbung schafft. Im übrigen gilt hier dies: sobald die Sprache an erster Stelle zum Mit-Teilen dient, gehört sie überhaupt nicht der Sphäre ursprünglichen Geistesausdrucks an: von seinem Bedürfnis nach Mitteilung her beurteilt, ist der Mensch einfach das erzählende Tier. Wer nun erzählt nicht gut, was ihn wirklich angeht? Dies gilt typischerweise nicht allein von den Darstellungen der Generalstäbler und Mathematiker, welche sich anerkanntermaßen besonders gut ausdrücken, sondern von der Argumentation jedes wirklich interessierten, begabten Geschäftsmanns und, last not least, vom Standpunkt der jeweils Liebenden, von den schlechtest geschriebenen Liebesbriefen. Es gilt auch vom Latein des leidenschaftlichen Jägers. In allen diesen Fällen spielt das Stammeln und nach-Worten-Suchen und Pausieren eine ähnliche Rolle wie bei der wahren Kunst echte Rhythmik; um wahre Kunst handelt es sich hier ganz wesentlich nicht, sondern um das organische Bedürfnis nach Mitteilung und dessen Befriedigung. Und auch bei professionellen Erzählern, die sich als Künstler für etwas Besonderes halten, liegen die Dinge grundsätzlich ebenso. Nur dass hier eine andere Beziehung zwischen Gebenden und Nehmenden vorliegt, als bei der erzählenden Großmutter gegenüber ihrer Enkelin; wie schon gesagt, handelt es sich in ersterem Fall um ein ähnliches Entsprechungsverhältnis wie zwischen Bienen und Klee. Im übrigen ist der Professionelle ein Geschulter. Aber was ist schon Schulung? Es gibt nicht eine Betätigung, die nicht durch Schulung vervollkommnet werden könnte, doch hat das mit dem Wesen der Sache nichts zu tun. Da diese Zusammenhänge meines Wissens zur Zeit überhaupt nicht verstanden werden, möchte ich an dieser Stelle ziemlich ausführlich einen Fall behandeln, von welchem manche sich wundern dürften, dass ich ihn überhaupt berücksichtige: den des Kriminal-Romanschriftstellers Georges Simenon. Zunächst sei das wiedergegeben, was ich im Weg zur Vollendung des Jahres 1936 über ihn schrieb, und zwar zusammen mit der nicht eigentlich hierher gehörenden Einleitung allgemeinen Charakters, da diese einige der üblichen Missverständnisse berichtigt, die mich zeitlebens geärgert haben.

Einer der größten und zugleich häufigsten Fehler, welchen kritische Geister begehen, ist der, dass sie von der zusammenhängenden Einheit des Menschen insofern ausgehen, als müssten sich Teilnahme an Geist und Ausdruckskraft oder Begabung und Interesse notwendig entsprechen. Das Urangst-geborene Einheitsbedürfnis ist bei sehr vielen dermaßen stark, dass ihnen die unzurückführbare Vielfältigkeit des Menschenwesens als solche nicht nur ein Skandal, sondern ein solcher Schrecken ist, dass keine bewusste Selbstbelügung, keine oberflächliche Verstandeskonstruktion ihnen zu schlecht ist zur Beruhigung darüber, dass ihre atavistischen Vorurteile dennoch zu Recht bestehen. Bei Kritikern tritt zu diesem Allgemeinen noch das Besondere, dass sie aus professionellen Gründen vor sich und anderen den Schein wahren müssen, als ständen sie als Richter oberhalb des Schöpfers. Und so müssen sie wohl, wenn sie überhaupt Geister beurteilen wollen, welche ihnen überlegen sind, ein Kriterium anwenden, das die Richteranmaßung einigermaßen berechtigt erscheinen lässt. Das übliche Kriterium ist dann die am Eingang dieses Absatzes gerügte Gleichung. Wohl hat schon Halbgott Goethe gesagt, das Schönste sei, wenn ein Mensch mit einem Talent zu einem Talent geboren sei — was eben impliziert, dass solcher Einklang nicht notwendig ist. Nichtsdestoweniger fahren Kritiker fort, das mit und zu selbstverständlich als korrelativ vorauszusetzen. — Zur Zeit lebt nun ein so eindrucksvoller Gegenbeweis zur landläufigen falschen Theorie, dass ich ausdrücklich auf ihn aufmerksam machen möchte: das ist der französische Kriminal-Romanschriftsteller Georges Simenon. Zuerst kaufte ich mir seine Romane zum gleichen Zweck, zu welchem ich überhaupt Kriminalromane kaufe: als Schlafmittel; sobald nämlich ein solcher Roman ernstlich spannend wird, schlafe ich, dank irgendeiner von mir noch nicht verstandenen Paradoxie meiner Anlage sicherer ein, als wenn ich Morphium nähme. Kaum aber hatte ich Simenon zu lesen begonnen, da merkte ich auf: in der ganzen französischen Literatur ist mir kein Romanschriftsteller von vergleichbarer ursprünglicher Begabung bekannt; Simenon steht insofern sogar über Balzac, dem Reichsten unter ihnen. Jahrelang schrieb Simenon zwei bis drei, wenn nicht mehr, kurze Romane — nicht etwa im Jahre, sondern im Monat. Bisher las ich deren gegen zwanzig: nicht einer gleicht dem anderen. Jedes plot ist neu und originell. Und die Darstellungskraft ist so groß, dass wenige kurze Striche allemal eine Landschaft, eine Situation, eine Seelenstimmung nicht nur anschaulich bestimmen, sondern zwingend in der Seele des Lesers neu entstehen lassen. Handele es sich um französische Provinz, Paris, Holland, das tropische Afrika, Seemanns- oder Verbrechermilieus, innere oder äußere Konflikte: in jedem mir bekannten Fall sieht man ein wahrhaft riesenhaftes Talent am Werk.
Und dennoch bedeutet Simenons œuvre nicht große Literatur. Das liegt unter anderem daran, dass ihm der literarische Wert als solcher gleichgültig ist. Bewusst will Simenon offenbar nur unterhalten und dabei Geld verdienen. In Paris begegnete ich einem, der ihn persönlich kannte: sehr reizend soll er trotz der ungeheuren Anzahl seiner Romane sein, noch ganz jung, nur in letzter Zeit ein wenig heruntergekommen. Einen Knacks habe ihm vor allem sein Versagen bei seiner Mithilfe während der Untersuchung der Stavisky-Affäre gegeben. Das hätte er freilich vorher wissen können, dass der geborene Erfinder niemals zugleich der berufene Entdecker ist. In bezug auf die gegebene Wirklichkeit ist der Phantasiereiche seiner Uranlage nach Lügner, als welchen Plato bekanntlich den Künstler überhaupt bestimmt.

Einige Monate, nachdem ich obiges schrieb, tauchte aus Freude darüber Simenon bei mir in Darmstadt auf, und die persönliche Begegnung mit ihm war für mich noch lehrreicher als die Lektüre seiner Romane. Natürlich holte ich ihn nach allen Richtungen hin über sein phantastisch schnelles und vielseitiges Schaffen aus. Simenon behauptete, überhaupt keine Phantasie zu haben, alle seine Gestalten seien Abbilder von Natur. Und er wisse wohl, dass er (vorläufig, im Stillen strebte er damals für später einen Sitz in der Académie Française an!) nicht gut schreibe. Das komme aber daher, dass er nach der ersten Niederschrift oder dem ersten Diktat noch nie ein Manuskript, geschweige denn Druckbogen durchgesehen hätte. Kaum sei ein Roman fertig, so würde er von neuen Gestalten dermaßen bedrängt und besessen, dass er Neues schreiben müsse. Er arbeite unter unerbittlichem Zwang. Irgendeinmal fühlte er, dass es so weit ist: dann, meistens nachts, begönne er seiner Sekretärin zu diktieren und mit möglichst kurzen Pausen erzähle er der Nachschreiberin in einem Flusse weiter, bis dass der Roman vollendet ist. Dann löse sich dieser vollständig ab von ihm. — Nicht viel anders hat auch Balzac, auch Dostojewski, haben wohl die meisten jener großen Spanier geschaffen und selbstverständlich die meisten mit so großem Unrecht missachteten sehr einfallsreichen Vielschreiber, deren weitestbekanntes Beispiel aus jüngster Vergangenheit Edgar Wallace ist; diese Vielschreiber, welche eine wichtige soziale Funktion ausüben, indem sie Millionen Freude bereiten, sind samt und sonders Zwangsschreiber aus Einfallsreichtum. Aber von ihrer Produktivität her beurteilt, sind auch die bedeutendsten unter allen Zuletztgenannten Zwischenreichs-Künstler und nicht Dichter im geistigen Wortverstand. Durch sie hindurch pflanzt sich recht eigentlich das Zwischenreich auf natürliche Weise fort. Ich sagte es schon: in ihrem Fall verdichtet sich in dauerhafter Form eben das, was im Traume jedermann erlebt; physiologisch beurteilt handelt es sich bei dieser Art von Künstlern um nicht mehr, als eine besonders lockere Verbindung und ein besonders leichtes ineinander-Übergehen-Können von Traum- und Wachzustand.

Insofern nun diese Art durchaus dem Zwischenreiche zugehört, muss Konvention überhaupt ihre Norm sein; erst im Rahmen von Konventionen aufgefangenes und geordnetes Erleben macht dessen Gegebenheit ganz erlebnisfähig. Darum sagen Gedichte so Vielen so viel mehr als die gleichen Gefühle ohne konventionelle Formung. Daher die Lebensbedeutung der Bühne, der Aufführung und Herausstellung überhaupt, der künstlerisch gestalteten Bewegung, der Stilisierung. Die phantastischste, dem jeweiligen Zwischenreich gemäße Erzählung leuchtet dem Menschen besser ein als unvermenschlichte Natur; man gedenke nur der Beziehung von Kindern zu Märchen. Ich weiß von keiner Kunst, die nicht naturfremd oder gar -feindlich begonnen hätte; hier erinnere ich an die geometrischen und sonstigen archaischen Urformen in der Bildnerei, an alle primordialen und primitiven Tänze, alle frühe Lebensform überhaupt, welche ausnahmslos zeremoniell ist. Letzteres nämlich ist sie allemal, nicht notwendig sakral. Dieser Prozess der Vermenschlichung hört nun nicht irgendeinmal auf, er geht grundsätzlich unverändert weiter, wie er begonnen hat. Die Konventionen des Kindes werden durch die des Jünglings, dann die des Erwachsenen abgelöst. Den modernen Primitiven vom Chauffeur-Typ leuchtet technisierte Natur besser ein als unverarbeitete; die gläubige oder abergläubische Primitivität des russischen Mushik hat sich ohne weiteres in die des Mechanikers verwandelt, welchem Natur nur ein Rohstoff bedeutet. Kürzlich las ich von den Vorstellungen gewisser Stämme — es scheint deren mehrere oder viele zu geben — für deren Vorstellung der juristische Tod gegenüber dem natürlichen den Primat hat. Wird einer durch richterlichen Urteilsspruch für tot erklärt, was allen älteren Menschen irgendeinmal widerfährt, dann ist er eben tot, und sei er noch so wohl und munter; stirbt er nicht bald darauf auch körperlich, so wird das als taktlos empfunden, und erforderlichenfalls wird dem Säumigen nachgeholfen. Ähnlich steht es überall und immer. In Zeiten der Nacktkultur empfindet die Frau eben ihre Haut als Toilette, in solchen obligatorischer Verhüllung wirkt schon das Zeigen des bestrumpften Fußes als unanständig; in meiner Jugend durfte in England das Wort Bein nicht öffentlich ausgesprochen werden, erhob ein Berliner Polizeipräsident Einspruch gegen den Titel eines Theaterstücks Die Hose. Ob viele wissen, dass der Geschmack für die natürliche menschliche Stimme in Europa erst im 17. Jahrhundert erwacht ist, nachdem jemand die Konvention des bel canto durchgesetzt hatte? Seither ist auf unserem Kontinente Konvention, in der natürlichen Menschenstimme das herrlichste aller musikalischen Instrumente zu sehen, was sie in Wahrheit ganz ausnahmsweise ist; das meiste Singen finde ich schauerlich. In früheren Jahrhunderten wurde die Stimme in Europa ebenso verkünstelt, vernäselt und verquetscht wie in Indien, China und Japan. Unter den letzteren Völkern gibt es natürlich auch gute Naturstimmen; seitdem sich die europäische Konvention im Osten durchgesetzt hat, kann man denn auch, zum mindesten in Japan, Opernsängerinnen hören, die sich mit europäischen messen können. So oder ähnlich liegen oder lagen die Verhältnisse überall. Ich hieß den Tanz einmal die Kunst der Eingeweide; tanzwütige Frauen erwiesen sich als ähnlich unermüdbar wie das schlagende Herz. Erst in der Kunstausübung erlebt der Natur-Sinn für Rhythmus bei Zwischenreichs-Bewohnern volle Befriedigung. Um ein wie Ungeistiges es sich beim Tanze ursprünglich handelt, beweist die eine Tatsache, dass die Neger die für rhythmische Bewegung ursprünglich begabteste Menschenart sind. Freilich kann sich auch religiöses Gefühl im Tanzen äußern; der europäisch hochgebildete Führer des Brahmo-Samaj, Keshab Chandra Sen, begann spontan zu tanzen, da er des Gottmenschentums von Ramakrishna gewiss geworden war, und vom Geist getrieben tanzte der Heilige mit. Der Geist kann sich eben allem einbilden, alles Vorgegebene als Ausdrucksmittel nutzen. Und je mehr er dabei deren eigene Gesetzmäßigkeit berücksichtigt und meistert, desto tiefer vermag er sich der Welt der Erscheinung einzubilden; noch einmal verweise ich hier auf den Vortrag Erfindung und Form in Wiedergeburt. Polar dazu, aber gleichsinnig wird reine Natur dem Menschen desto zugänglicher, je mehr sie vom Zwischenreiche assimiliert wird. Man gedenke dessen, wie spät Berg- und Winterlandschaft in Europa als schön empfunden wurde — erst kam der Sport, dann der Naturgenuss — wie erst das 18. Jahrhundert in Frankreich die Vorzüge ländlichen Lebens entdeckte, ja wie die Liebe dann bewusstseinsfähig wurde, nachdem in der Provence eine sie fordernde Konvention entstanden war, welche zuerst freilich Liebe in der Ehe als unpassend verdammte. — Schaut man alles dieses zusammen — bleibt da der leiseste Grund bestehen, der einen veranlassen könnte, die Künstler als solche als überirdische Wesen zu verehren? Ich denke nein. Der Künstler ist sogar besonders erdhaft, insofern bei ihm der Nachdruck nicht auf dem Geist an sich, sondern auf dessen Verkörperung in Erdmaterial liegt. Man vergesse nicht die in Südamerikanischen Meditationen gewonnene Einsicht, dass die emotionale Ordnung und damit die Seele im exakten Verstand durchaus der Erdseite des Lebens zugehört.

Trotz allen diesen Einsichten bin ich es gewesen, der die Ebene des eigentlich und einzig würdigen Menschendaseins als diejenige des Lebens als Kunst erwiesen und diese praktisch auszubauen unternommen hat. Wie reimt sich das zusammen? Es reimt sich so zusammen, dass die wahre und echte Kunst im weitesten Verstand den ursprünglich gemäßen Körper darstellt des Geistes auf der Ebene des Zwischenreichs. Sobald dieses nicht als letzte Instanz gilt, sobald substantieller Geist sich mittels seiner auswirkt, gleichwie das Zwischenreich sich aus Natur-Elementen aufbaut, welche sie anderen, eben zwischenreichlichen Zusammenhängen einordnet, dann erscheinen die Dinge und Verhältnisse völlig anders, als sie vorhin dargestellt wurden. Dann — aber dann allein freilich verdient die Kunst alle die Lobpreisung, welche so völlig unverdient jeglicher Kunstausübung gezollt wird. Dann nämlich erleben die Elemente des Zwischenreiches nicht allein eine Transfiguration, sondern eine Transsubstantiation. Dann werden die Konventionen, wie solche Reim, Vers, Kompositionsart, Stil bedeuten, zu Leibern von ursprünglich Geistigem. Dann äußert sich der substantielle Geist, des Menschen Kern, direkter und reiner durch die Kunst als durch die Natur. Dann spricht aus jener der geistige Ursprung des Menschen, welcher Ursprung der allerletzte und tiefste ist, jener Ursprung, der sich im Rahmen der kompakten Natur nicht unverfälscht offenbaren kann. Dann spricht aus dem Menschen ein wirklich Gott-ähnliches, insofern das Bild des weltenschaffenden Gottes, welcher an sich auch reiner Geist und insofern vom Standpunkt der Erde einseitig ist, genau dem entspricht, was der Menschengeist im Höchstfalle ist und herausstellt. Dann erweist der Geist sich als echter Zauberer. Dann gewinnen Wort-, Farben-, Ton- und Bewegungsnuancen die gleiche unermeßliche Bedeutung, wie die genau richtigen Beschwörungsformeln, mittels derer allein laut allen Märchen magische Wirkungen zu erzielen sind. Dann ist das Bild — und auch das Wort ist ursprünglich Bild — nicht letzte Instanz, sondern dessen schöpferischer Sinn ist es. Dann offenbart der Dichter sich als vates, wie zuletzt ihn Emerson sah, als Prophet und Vorbildner. Dann äußert sich durch ihn hindurch unmittelbar der logos spermatikós Dann gilt wirklich die These Im Anfang war das Wort. Dann wird die künstlerische Rhythmik zum Verknüpfungs- und Vermählungsmittel des ursprünglichen Geistes mit den Urgesetzen der Erde, mittels derer allein er auf Erden Macht ausüben kann. Diese höchste Möglichkeit haben alle ganz großen Dichter verwirklicht, denen in diesem Zusammenhang auch alle großen Philosophen, Weisen, Propheten und Religionsstifter zuzurechnen sind. Diese alle aber waren in erster Linie substantielle Geister, das ist der springende Punkt. Es ist nicht so, dass Kunst als solche ein Höheres sei als das natürliche Leben, sondern dass sie ein gefügigeres Ausdrucksmittel als dieses für den Geist sein kann. Erst also muss ein substantieller Geist vorhanden sein: dann erst gewinnt dank ihm künstlerische Betätigung tiefen Sinn. Für sich hat sie ihn nicht. Liegen die Dinge nun so, dann ist das ganze Leben, als Kunst aufgefasst und ausgeübt, selbstverständlich mehr als jede sonderliche Kunstbetätigung; nämlich wenn der Geist nicht nur unbedingt vorherrscht, sondern schlechthin alle Lebensäußerung von innen her durchdringt. In diesem Falle, und in ihm allein, erweist sich die Kunst wahrhaftig als die Erlöserin, als die Heimführerin in überirdische Regionen, welche Vorurteil in aller Kunst sieht. Dann gibt es keine Geste, keine Nuance, die nicht, gleich wie im Werbespiel der Liebe, von allerhöchster Bedeutung wäre oder sein könnte. Dann besteht im Höchstfall die Möglichkeit, alles Leben recht eigentlich zu heiligen, indem es zum Ausdruck reinen Geistes wird, und die Elemente der Natur sowohl als die des Zwischenreichs zu gehorsamen Ausdrucksmitteln des Geistes umzubilden. Das ist es, was ich zeitlebens nicht nur gepredigt, sondern auch praktisch versucht und vorgelebt habe. Zu diesem Ende habe ich alles getan, um dem Zwischenreiche sein Prestige zu nehmen — das Bernard Shaw-Kapitel wird dies im einzelnen zeigen. Zu dem Ende habe ich die Komposition von Gastmählern, die Auswahl der Geladenen und Speisen nicht minder ernst genommen, als die von Tagungen und Buch-Kapiteln, mein eigenes Gutes und mein eigenes Böses, mein eigenes Tiefes und mein eigenes Oberflächliches und letztlich alle Seiten und Möglichkeiten meiner Gesamtanlage so behandelt, als handle es sich um verschiedene Instrumente, welche im Einklang von Ober-, Mittel- und Grundtönen in Harmonie und Kontrapunkt eine einheitliche Symphonie aufführen, und wo der Dirigent zugleich der Urheber ist. In diesem Sinne habe ich bei jeder Gelegenheit zu zeigen versucht, dass es für den Einzelnen überhaupt keine höhere Instanz gibt als den ihm letztlich gemäßen Stil: von ihm her erst stellen sich jeweils die Fragen von Gut und Böse, Wahr und Falsch, Schön und Häßlich, Sinnvoll und Sinnlos.

An dieser Stelle kann ich vielleicht auf dem Hintergrund des vorhin Ausgeführten vollkommen deutlich machen, was Leben als Kunst bedeutet und inwiefern nur als Kunst verstandenes Leben wahrhaft menschengemäß, weil dem Menschen als einem letztlich und wesentlich Geist-bestimmten Wesen gemäß ist. Bisher ist mir dies, außer in Ausnahmefällen, soweit ich urteilen kann, nicht gelungen, denn immer wieder ist das, was ich meine, mit der sogenannten Lebenskunst verwechselt worden. Letztere ist, im Zusammenhang realen Lebens betrachtet, eine oberflächliche und frivole Angelegenheit. Ihre Vorzüge liegen so sehr auf der Hand, dass ich darüber nichts weiter auszuführen brauche: alles, was das Leben schmückt, verschönt, ja auch nur verhübscht und angenehmer und erfreulicher macht, als es ohne ästhetische Behandlung seiner wäre, ist ein Positivum. Aber bei diesem Künstlerischen handelt es sich um Zwischenreichskunst par excellence und darum hat es niemals intrinseken Wert. Ihre möglichen Ausdrucksmittel gar sind zum größeren Teil, für sich betrachtet, negativen Charakters. Ich will hier dieses Negative überbetonen und übertreiben, damit über den wahren Zusammenhang kein Zweifel bleibe. In ihrem allernegativsten Aspekt ist Lebenskunst die Gabe, unangenehmen Situationen coûte que coûte und letztlich zum eigenen Vorteil aus dem Wege zu gehen, das nicht zu bemerken, was einen zu Entscheidungen zwingen könnte, aus welchem sich ernste Folgen ergäben, Unvereinbares dennoch zu vereinen, unangenehmes Reales zu irrealisieren, demgegenüber, was persönliche Stellungnahme fordert, Neutralität zu wahren, aus jeder Schwierigkeit durch Schiebung oder Verrat herauszufinden. In ihrem allerpositivsten Aspekt ist Lebenskunst die Gabe, jede Gelegenheit so auszunutzen, dass sie einem und nicht nur einem allein, sondern dem gesamten Gesellschaftskreise, dem er angehört, ein Maximum an Annehmlichkeit und Bequemlichkeit einbringt. Aus letzterer Bestimmung geht wohl ganz deutlich hervor, dass es sich bei der sogenannten Lebenskunst um keine echte Kunst handelt, deren Ausübung in erster Linie Selbstüberwindung im Gegensatz zu self-indulgence fordert; sie bedeutet vielmehr die höchste Sublimierung der letzteren, und da die meisten Menschen träge und selbstgefällig sind, so muss man es freilich begrüßen, dass es eine Möglichkeit gibt, diese an sich unerfreulichen Eigenschaften für andere erfreulich zu gestalten. Insofern muss man sie als eine unter den wichtigsten Zwischenreichskünsten anerkennen, und technisch ist sie ohne Zweifel Kunst, insofern ihre Ausübung ästhetischen Sinn, Darstellungsgabe und Virtuosität voraussetzt. Im Höchstfall können ihre Grenzen sogar mit derjenigen echter Schauspielkunst verschwimmen. Doch gerade an diesem Höchstfall ersieht man am deutlichsten, wie wenig hoch sie steht. Insofern sie nicht unmittelbarer Geistesausdruck ist ohne anderes Ziel als das der Selbstverwirklichung, sondern von vornherein persönlichen Vorteil zum Ziel hat, ist das Urbild des Lebenskünstlers im üblichen Verstand der — Hochstapler, als welcher vorstellt, was er nicht wirklich ist.

An der Grenze der Hochstapelei muss sich nun freilich jeder bewegen, der unterwegs zum Ziel dem Mignon-Motto gemäß So lass mich scheinen, bis ich werde von der Vorstellung her Wirklichkeit schafft. Immer prä-existiert da die Darstellung der Wirklichkeit, immer ist das Wort da vor dem Fleisch: und einen anderen Weg der Selbstverwirklichung als den von der Antizipation der Realisierung gibt es nicht. Der Unterschied zwischen dem Schwindler und dem, welcher höhere Wirklichkeit mit Recht antizipiert, besteht lediglich in dem, dass hinter der Vorstellung dieses innere Wirklichkeit steht, welche zur Manifestation drängt, und hinter jenem Lüge oder Vorspiegelung. Aber auch diese Grenze ist nicht allemal deutlich gezogen. Deswegen habe ich für große Hochstapler immer Sympathie empfunden, und wenige Menschentypen haben, wenn sie scheiterten, in mir spontaneres Mitleid erweckt. Hier handelt es sich zumeist um äußerst begabte Menschen, die ihren kosmischen Standort zu ihrem Unglück genau an der Grenze haben, die den real-Lebenden vom Schauspieler scheidet, und darum nach der einen oder anderen Seite Verfehlungen begehen müssen. Wie der berühmte Domela mich als einen der ersten hineinlegte (er trat als mein angeblicher Neffe auf und benahm sich so geschickt, dass ich, in Verwandtschaft wenig bewandert, keinerlei Grund sah, ihm nicht durch Empfehlungen weiter zu helfen; besonders geschickt von ihm war, dass er gleich ablehnte, von seinem Onkel Geld anzunehmen; auf meine Visitenkarte hin ließ er sich aber dann wochenlang von hochmögenden Leuten einladen, welche mir später diese Vermittlung auf humorloseste Weise übelnahmen), so gelang ihm das vor allem, weil ich unwillkürlich mit ihm sympathisierte. Einem anderen, einem geradezu genialen Handschriftenfälscher, welcher nach einmaligem Zuschauen beim Schreiben eines anderen dessen Handschrift in den meisten Fällen von innen heraus immer erneut wiedergeben konnte und sich dank dem selber von Notorietät zu Notorietät weiterempfahl — einem anderen, der mich persönlich immerhin nicht wenig schädigte, verhalf ich zu einer erheblichen Milderung seiner Strafe, indem ich dem Untersuchungsrichter klar machte, dass der Betreffende beinahe völlig desinteressiert handelte; nur auf allerbescheidenste Weise fristete er mit seiner hohen Kunst sein Leben; eigentlich wollte er nur seine Nachahmungsgabe auswirken, so wie später der Bildhauer Dossena. Überhaupt scheitern Hochstapler und Fälscher in einer Welt, wo doch ein sehr hoher Prozentsatz aller Vergehen und Verbrechen unentdeckt bleibt und sehr viele erlaubte Wege zum Reichwerden am Kriminellen dicht vorbei führen, hauptsächlich daran, dass sie zuviel am Geiste teilhaben, dass sie zu desinteressiert sind, um unwillkürlich ihren Vorteil zu wahren. — Doch zurück zum eigentlichen Lebenskünstler, wie ihn die Welt vorstellt. Bis zu einem gewissen Grade ist dieser immer auch Hochstapler, Schieber und Verräter. Ein exklusives Können, das ihn zu einer festumrissenen Sonderform des Zwischenreichskünstlers macht, beweist er eigentlich nur insofern, als er alles darauf anlegt und es meisterlich versteht, es sich unter allen Umständen bequem zu machen. Diese Meisterschaft habe ich nun immer sehr bewundert, weil sie mir gänzlich fehlt. Wahrscheinlich aus meinem puritanischen Unbewussten heraus habe ich es mir sogar zeitlebens bei jeder Gelegenheit so unbequem als möglich gemacht, selten eine Gelegenheit verpasst, mich über Kleinigkeiten unnötig aufzuregen, selten versäumt, es mit Menschen, die meine Empfindlichkeit irgendwie verletzten, doch deren wohlwollende Neutralität für mich sehr vorteilhaft gewesen wäre, zu verderben. Zeitlebens habe ich so wenig Anpassungsfähigkeit bewiesen, dass es allzuleicht zu solchen Reibungen kam, wie sie jeder Lebenskünstler in erster Linie vermeidet, zu Reibungen wenigstens in dem Sinn, dass wenige es lange mit mir ausgehalten haben. Allezeit habe ich viel mehr getan, als nötig gewesen wäre, und andererseits auf viele Genüsse verzichtet, die ich leicht hätte haben können, wenn ich mir ein klein wenig mehr diplomatische Mühe gegeben hätte. So habe ich mich immer wieder gewundert, warum ausgerechnet ich, was mir von früh auf geschah, als Lebenskünstler gepriesen oder beneidet worden bin. — Wohl aber habe ich von jeher nach Meisterschaft in einem ganz anderen, nämlich im Leben als Kunst gestrebt, und darüber möchte ich an dieser Stelle abschließend das Folgende sagen.

Des Menschen tiefster Sinn und damit tiefster Lebensquell ist nicht sein privater Wille und auch nicht seine private Überzeugung, von seiner bloßen Neigung, sozialen Stellung und Leistung, so wie dem, wie andere ihn bewerten, zu schweigen, sondern die dem Bewusstsein direkt nicht zugängliche Einheit von Begabung, Erkenntnis, persönlichem Willen und kosmischem Schicksal, wobei der Nachdruck eben auf der Einheit ruht; er ruht auf ihr, weil der Mensch nur von ihr her über sich selbst hinaus sehen und leben kann. In ihrem statischen Aspekt äußert sich diese Einheit als unwillkürliche und unbedingte, von keinen äußeren Umständen abhängige und durch keine Konvention beirrbare Haltung, welche als solche nicht nur irrational, sondern stumm, also so selbstverständlich da ist und wirkt, wie die Gestalt des Tiers. In ihrem dynamischen Aspekte äußert sich besagte Einheit als Lebensstil. Kein Mensch kann sich selber treu sein oder werden, der seinen höchst persönlichen Lebensstil nicht fand; andererseits kann keiner, christlich ausgedrückt, vor Gott letztlich Falsches tun, was immer die Gerechten meinen, sofern er nur seinem Stile treu bleibt. Insofern stellen sich tatsächlich, wie oben gesagt, die Fragen von Gut und Böse, Wahr und Falsch, Schön und Häßlich, Sinnvoll und Sinnlos allemal von bestimmter Persönlichkeit einzig gemäßem, bestimmtem Lebensstile her. Auf gleichem beruht schon der ganze mögliche geistige Wert des Völkischen oder in weiterem Sinne Nationalen: eben dies meint Dostojewski, wenn er sagt, sein Volk bedeute dem Einzelnen seinen Weg zu Gott. Der persönliche Lebensstil nun hat seinen Ursprung einzig und allein im Geist, er ist Ausdruck des geistigen, im Unterschied vom naturhaften Ursprung eines Menschen. Und insofern der Stil dem Gesamtleben von der Tiefe bis zur Oberfläche, vom Sein bis zum Können seine Form gibt, ist Finden und Vollenden und Durchhalten des eigenen Stils die Kunst der Künste, allem anderen, was Kunst geheißen wird, in allen Hinsichten turmhoch überlegen. Dementsprechend ist diese höchste Kunst, sonach das, was ich unter Leben als Kunst verstehe, die schwerste und seltenste überhaupt, nicht nur die am seltensten und schwersten vollendet gemeisterte aller Künste. Sie verlangt zu ihrer Meisterung die tiefste Einsicht in den Gesamtzusammenhang, wozu die richtige Bestimmung der genauen Stellung eines bestimmten Menschen im Kosmos in erster Linie gehört, die größte Selbstüberwindung und innere Überlegenheit, die festeste Haltung, den stärksten Glauben und technisch das Äußerste an Meisterschaft. Denn ohne unbedingte Konsequenz und insofern auch Ausdauer bei der Ausarbeitung ist sie unausübbar. Mehr brauche ich nach allem früher darüber Ausgeführten nicht zu sagen. Zwecks produktiven Weiterdenkens des Lesers, welcher dieses möglicherweise sogar jetzt noch in falscher Richtung vornehmen könnte, sei noch darauf hingewiesen, dass die Erfüllung des persönlichen Schicksals und Treue diesem gegenüber, wie solche jeder unwillkürlich von jedem fordert, den er verehren soll — das, was zumeist unter Treue verstanden wird, ist eine missverständliche Verzerrung ihrer —, in seiner Tiefe verstanden nichts anderes bedeutet, als unbeirrbares Festhalten am eigenen Stil, und aller Außenwelt zum Trotz. Da es sehr viele mögliche Stile gibt, so ergibt sich daraus, dass kein stilgerechtes Leben häßlich im exakten Verstand ist noch sein kann, während sich aus dem gleichen Zusammenhang erklärt, warum jedes Stil-ungerechte Leben so oder anders häßlich endet. Hieraus erklärt sich im besonderen, warum fast alle Frauen, und seien sie noch so begabt, die aus ihrem eigenen Rahmen ausbrechen, häßlich werden oder wenigstens das Schöne ihres Erlebens häßlich ausklingen lassen. Die Frau hat ursprünglich und typischerweise keinen geistigen Überblick und keine feste innere Geistesform; von ihr gilt in weitestem Verstand das Goethesche Gefühl ist alles, und unter Gefühl versteht sie zumeist die jeweilige endliche Gana-Melodie, deren Gefälle sie sich passiv überantwortet. Darum kann die ganz auf sich selbst gestellte Frau ihren rein persönlichen Stil fast niemals finden und erst recht nicht durchhalten; vom Standpunkt des Lebens als Kunst ist sie geborene gâcheuse und endet darum leicht als Selbstzerstörerin. Von hier aus findet man einen neuen Zugang zur Einsicht, inwiefern und warum Schönheit das eine mögliche Generalideal des Menschenlebens ist und inwiefern die hier gemeinte einzig echte Schönheit nichts, aber auch gar nichts mit Kunst und Künstlertum im üblichen Zwischenreichs-Verstand zu tun hat. Gleichsinnig ist jeder Mann schicksalsmäßig gâcheur, welchem die Pflicht über die innere Überzeugung, die Sache über die Person geht und die Gemeinschaftsforderung über das eigene Schicksal. Von solcher Einstellung her ist das Gewinnen und Durchhalten eines persönlichen Stils und damit auch Persönlichkeitsbildung in höherem Verstande ausgeschlossen, denn ein solcher Mensch bleibt, wie weit immer er es im besonderen bringe, von außen her bestimmt. Für sich selber nicht letzte Instanz, ist er niemals Subjekt, bleibt er zeitlebens hoffnungslos Objekt von irgend etwas und meist von vielem zugleich. Er ist letztlich ohne eigene Physiognomie — darum ohne eigenen Charakter.

Aber freilich: alles im vorhergehenden über hohe und höchste Kunst Gesagte gilt erst von der Voraussetzung bewusstgewordenen und im Leben realisierten substantiellen Geistes her. Spezialisierte Kunst, die nicht diesen tiefen Grund hat, ist eine bloße Zwischenreichs­angelegenheit. Dies gilt leider von der allermeisten modernen Kunst. Tiefer erscheint in dieser Wendezeit nur die primitive oder primitivierte, stelle sie sich expressionistisch oder surrealistisch dar — beide aber entsprechen einem seit Jahrtausenden grundsätzlich verjährten Zustand. Selbstverständlich gibt es auch heute tiefe und echte Geister, aber die allermeisten sind so verstrickt und verfangen in Zwischenreichsbindungen, zumal in solchen allerjüngster Fabrikmarke, an denen gerade wegen ihrer Unverwurzeltheit in irgendeiner Tradition desto fanatischer festgehalten wird, dass sie sich ihres Tiefsten gar nicht bewusst zu werden und dasselbe deswegen nicht unverfälscht auszudrücken vermögen. Das Heil gerade in der Kunst kann heute nur mehr auf Grund eines Durchstoßens des Zwischenreichs als solchen kommen, wie dieses seinerzeit der Zen in China unternahm; bekanntlich begann die große chinesische Kunst ihre Laufbahn erst nach dessen Einwirkung. Ich habe persönlich nur einen Dichter gekannt, aus welchem durchaus ursprünglicher Geist sprach: das war Rabindranath Tagore. Nicht einen Philosophen, der aus seinem Ursprung heraus gekündet hätte, nicht einen Musiker. Richard Strauss’ Musik stellt ein äußerstes Differentiationsprodukt in der Richtung von Richard Wagner her dar, welches dermaßen verzwischenreichlicht ist, dass die zweifellos vorhandenen Urtöne des Geists überhaupt nicht hindurchklingen können. Claude Debussy war ein feiner Lyriker, aber bei ihm entsprang überhaupt keine Tonfolge tieferer Region als der des spezifisch französischen Zwischenreiches seiner Zeit. Wenn demgegenüber heute in so ungeheurem Umfange Bach gespielt wird, wie solches früher nur von Gassenhauern galt, so ist dies wohl Ausdruck einer schon in sehr weiten Kreisen verbreiteten Nostalgie. Wahrscheinlich hatte der Maler Fortuni für alle differenzierten Künste recht, als er mir schon 1903 sagte: La peinture ne correspond plus à rien. Inmitten so gewaltiger, das ganze Menschenwesen durchschütternder Ereignisse kann nur Ursprüngliches, aus der letzten Tiefe Stammendes Heilwirkungen ausüben. Wahrscheinlich sieht man heute Zwischenreichs-Kunst und gar Zwischenreichs-Kunst-Ersatz gerade deshalb in so gigantischem Maß verbreitet, weil dies die letzte Gelegenheit ist, sich überhaupt bemerkbar zu machen; heute verhilft das an sich vielleicht völlig Wertlose immerhin Millionen schwacher Menschen zu seelischer Erleichterung. Ich persönlich sehe im Zusammenhang dieses Kapitels das eine Gute im entsetzlich Zerstörerischen unserer Gegenwart darin, dass es gewaltsam den Weg zum Ursprung freilegt. Früher oder später wird jeder, der sie als geistig Lebendiger überlebt, in seinem Ur-Elementaren ergriffen werden.

1 Gott gab dem Menschen die Sprache, dem Spanier aber die Geschwätzigkeit.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
I. Ursprünge und Entfaltungen
© 1998- Schule des Rades
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