Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

I. Leo Tolstoi - Der imperiale Mensch

So, wie hier geschildert, habe ich Tolstoi bis zum Ausbruch des Weltkrieges, bis 1914, in erster Linie erlebt — von einem anderen, tragischeren Aspekte wird am Schlusse dieses Kapitels gehandelt werden. Gesehen habe ich den großen Dichter leider nie. Einmal lud mich eine gemeinsame Freundin dringend ein, nach Jassnaja Poljana zu fahren, doch in jenen fetten Jahren war ich leider schwerfälliger als neuerdings und ich scheute die unbequeme weite Fahrt. Dies hindert aber nicht, dass ich allezeit das Gefühl hatte, Leo Tolstoi persönlich gut zu kennen. Das hatte intim-persönliche Gründe. In erstaunlichem Grade glich nämlich mein Vater dem Bilde Pierre Besuchóws; so sehr war dies der Fall, dass ich, als ein estnischer Historiker, welcher von diesem meinem Eindruck wusste, mir eine Zusammenstellung der wichtigsten Stellen in Krieg und Frieden schickte, die Besuchóws Persönlichkeit zeichnen, überhaupt nur zwei oder drei Sätze fand, welche nicht auch auf meinen Vater passten. Dieser war gestorben, da ich im letzten Drittel meines 15. Lebensjahres stand. Zum ersten Male las ich Krieg und Frieden ein Jahr später: so bedeutete mir der Wiederanblick meines Vaters im Bilde Besuchóws etwas tief Ergreifendes, das mich dem noch lebenden Dichter in einem gewissen Grade — ohne freilich, dass ich dies damals gewusst hätte — verhaftete. Überdies fand ich in der ganzen großen Welt, die ich bei Tolstoi geschildert sah, als menschliche Grundstimmung die weite und großzügige, generöse, echt seigneuriale Natur meines Vaters wieder. Meinem Vater war ein Leben in den ihm angemessenen weiten Verhältnissen nie vergönnt worden, aber ich fühlte schon als Kind sehr deutlich, wie sehr seine Natur solcher bedurfte. Wohl schuf er kraft des unwillkürlichen Ausstrahlens seines Wesens, seines Wu Wei, den ihm entsprechenden Rahmen nicht allein für sein eigenes Bewusstsein, sondern auch für das seiner Besucher in seinem eigensten Milieu selbst dort, wo dieser Rahmen tatsächlich fehlte. Am Unterschied zwischen ihm und seinem Vater lernte ich zuerst einsehen, wie sehr der Charakter des Äußerlichen innerlich bedingt ist gemäß der chinesischen Lehre: Wie die Menschen sind, so erscheint die Welt. Mein Großvater, der in seinen späteren Jahren selber nie viel Geld hatte, lebte immerhin in äußerlich viel breiteren Verhältnissen als mein Vater, bevor dieser ihn beerbt hatte. Doch er war von Natur von allem Materiellen unabhängig, seinen Neigungen nach puritanisch, und auf Schein gab er überhaupt nichts. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens war Rayküll vollkommen verwahrlost; seit Jahrzehnten war nichts für das Haus getan worden; kein Möbelpolster war ganz, Dienstboten, Küche und Pferde waren phantastisch unzulänglich, der Garten wirkte als Laboratorium für Experimente. Mein Vater stand zu Essen und Trinken und allem Komfort ähnlich wie Gontscharows Oblomow. Im übrigen war er innerlich so sehr reicher Großgrundbesitzer, dass ihn alle so auch äußerlich sahen, dass alle unter ihm Stehenden sich drängten, ihm Ehrerbietung zu erweisen oder ihn zu bedienen und dass der sehr bescheidene, wenn auch dank der immensen praktischen Begabung meiner Mutter an Gediegenheit in meiner Heimat nie übertroffene Lebensstil von Könno auf andere ähnlich wirkte, wie die scheinbar einfache, in Wahrheit aber sehr kostbare Kleidung vornehmer alter Damen, auf welche sich das französische Eigenschaftswort cossu bezieht. Doch wie dem auch sei: der breite Rahmen, der meinem Vater entsprach und den ich unwillkürlich durch ihn hindurch als meine mir einzig entsprechende persönliche Umwelt imaginierte, war genau derjenige der von Tolstoi geschilderten Grandseigneurs. Auch diese wirkten viel reicher als sie tatsächlich waren — keiner von ihnen war praktisch, keiner kannte Erwerbsstreben, und alle waren im gleichen Sinne wie mein Vater weit. Bald nach Beginn meiner Lektüre von Krieg und Frieden bildete ich mir ein, dass mein Vater der von Tolstoi geschilderten Welt viel mehr angehört hatte, als der baltischen. Und indem ich meine eigene Zukunft durch meinen Vater hindurch vorstellte, bildete sich in mir die Überzeugung, dass ich jedenfalls von meinem Wesen her ganz jener Welt zugehörte, zumal ich unter meinen baltischen Zeitgenossen keinen kannte, der meinem Vater im geringsten ähnlich war. Jene waren mit wenigen Ausnahmen enge und dürre Naturen. Meinen Vater kennzeichneten nun freilich nicht allein die Züge, welche Tolstoi Pierre Besuchów zuteilte, er ähnelte — um einmal bei Tolstoi’schen Gestalten zu bleiben — auch dessen Vater, dem strengen Bojaren, dem alten Róstow und sogar in einigen Hinsichten Ljéwin. Dank seiner Begabung für Menschenbehandlung und seinem Geschick im Unterhandeln und im Durchsetzen seines Willens, ohne jemals anzustoßen, hätte er es bei seiner politischen Befähigung und hohen rednerischen Begabung im parlamentarisch gewordenen Russland, hätte er länger gelebt, wahrscheinlich hoch hinauf gebracht. Dann war er natürlich trotz allem Unterschiedlichen letztlich Balte. Sein Verstand war Keyserlingisch — ihm eignete zumal die traditionell Keyserling’sche Ironie und Distanziertheit aus geistiger Überlegenheit — auch seine Milde und Desinteressiertheit in finanziellen Fragen waren, zum Teil wenigstens, väterliches Erbe. Doch das Gesamtbild seiner Natur war vom Murajow’schen Blute bestimmt. Er besaß russischen Seelenreichtum und russische Seelentiefe, seine eigentümliche, beinahe frauenhafte Reinheit, sowohl in bezug auf persönliche Sauberkeit wie auf geschlechtlichem Gebiet (vor der Ehe hatte er nie mit Frauen zu tun gehabt), war nicht puritanisch-asketischen Ursprungs, sondern Besuchów’scher und Ljéwin’scher Art. Und sein Herrentum gar war ganz das des hochmögenden russischen Grandseigneurs. So wurde er denn auch von allen Russen, die ihn kannten, als russischer Höchsttypus anerkannt und wo es sich um Jüngere oder weniger Hochgestellte handelte, verehrt. Das spezifische Gewicht seiner Persönlichkeit war in der Tat viel größer und seine Gesamtnatur viel weiter und voller ausgeschlagen, als man dies bei reinen Balten findet, welche typischerweise seelisch trocken sind, und seine Weitherzigkeit hatte ganz den Charakter der russischen Schirokaja-Natura (weite Natur).

Darum war es nur natürlich, dass ich in der Welt von Krieg und Frieden und Anna Karenina, als ich durch Lektüre mit ihr bekannt ward, obwohl ich damals keinen einzigen authentischen Vertreter ihrer kannte, mir nicht allein das Ideal großer Welt überhaupt vorstellte, sondern mich ihr auch ursprünglich zugehörig empfand. Hier, in mehr als in aller anderen Beziehung fühlte ich mich meinem Vater nahe verwandt, so wenig russisch ich im Vergleiche zu ihm wirkte, denn mein Vater war langsam, mild, schwerfällig und schwermütig, ohne jede Härte und kinetische Energie; von mir gilt so ziemlich das Gegenteil davon. Und ich war der Tolstoi’schen Welt auch zugehörig, — nur nicht im empirischen Verstand. Auch in diesem Falle meinte ich nicht die Tatsächlichkeit, sondern die Möglichkeit, wie ich denn auch später mit keinem männlichen Vertreter des russischen Herrentums, den ich im Geist meiner Ideale hätte anerkennen können, mit der einzigen Ausnahme Wolkoffs, in nahe menschliche Berührung gekommen bin. Von Kind auf hat mir das, was ich hier Möglichkeit heiße, alles bedeutet und die Tatsächlichkeit als solche nichts. In meiner Jugend hieß ich das Über-Tatsächliche, das ich nicht nur meine, sondern unmittelbar intuiere, einfach Geist und hielt diesen dem Irdischen, den Neoplatonikern darin nicht unähnlich, für wesensfremd. In der Natur, in welche ein Mensch hineingeboren war, sah ich ein in bezug auf sein Wesen Äußerliches, in seiner Volkszugehörigkeit einerseits den Ausdruck bestimmter Beschränktheit, andererseits eine Gelegenheit, bestimmte Aufgaben zu erfüllen. In diesem Zusammenhang leuchtet mir heute noch weniges mehr ein, ob es im übrigen wahr sei oder nicht, als die Behauptung des Amerikaners Dane Rudhyar, dass die Seele bei der Wiederverkörperung nur ungefähr passende Konfektionsware vorfände; nach Maß gearbeitete Leiber und Erdpsychen gäbe es nicht; daher die meisten Schwierigkeiten, welche der Mensch auf Erden in sich findet. Im übrigen war meine tatsächliche, das heißt unwillkürlich reines Auffassen von innen her bedingende persönliche Psychologie insofern ganz anders als die neoplatonische und auch die indische, als ich unter Geist kein All-Eins irgendwelcher Art, sondern ein Konkretes und von Fall zu Fall Einziges sah, welches von sich aus bestimmte empirische Zustände als ihm entsprechend beschwört, sodass persönlicher Geist und Natur, persönlicher Wille und Schicksal für mich doch notwendig aufeinander bezogen erscheinen. Das sind sie ohne Zweifel, aber sie fallen andererseits nicht zusammen. Und je näher dem Mittelpunkt seines metaphysischen Wesens eines Menschen Bewusstsein seinen Ort hat, desto mehr lebt dieser ursprünglich oberhalb aller Naturbestimmtheit. Der höchste Weise hat darum ganz selbstverständlich, entsprechend der indischen Lehre, seine Daseinsebene oberhalb und jenseits von Name und Form. Ich nun bin in solcher Verfassung auf die Erde gekommen, dass ich alle Dinge so sehe, als stände ich bereits persönlich jenseits von diesen Beschränkungen, ohne letzteres als Sein zu tun. Daher das nicht-ernst-nehmen-Können irgendwelcher Gestaltung, daher das Proteus-Ideal des Reisetagebuchs. Daher meine ursprüngliche Fähigkeit, Erscheinungen auf ihren Sinn hin zu durchschauen und das sich daraus ergebende reine Sinnbild als unmittelbare Gegebenheit zu erleben, genau so, wie andere Tatsachen wahrnehmen. So habe ich mein ursprüngliches Bewusstseinszentrum, auf seine Wirkung auf die Außenwelt hin beurteilt, dort, wo der Schöpfer bestimmter Gestaltungen steht. Mir ist ursprünglich so, als hätte ich keine hinzunehmen, als sei jede mein mögliches persönliches Werk und könnte ich von jeder her persönlich leben. Und entschied ich mich in irgendeiner Hinsicht für eine bestimmte, so geschah dieses nie aus empirischer Zugehörigkeit, sondern vom bejahten Sinne her. Aus diesen Gründen, die ich hier nur skizzieren kann, war es mir selbstverständlich möglich, mich dem Russentum, das mir die Welt von Krieg und Frieden versinnbildlichte, am nächsten verwandt zu fühlen — viel näher als der Welt, in welche ich hineingeboren war; mit leiblicher Verwandtschaft hatte das nichts zu tun.

Was war es nun an auf empirischer Ebene Bestimmbarem — denn auch solches musste vorliegen, wenn mich Empirisches an sich so tief ergreifen konnte — was mich so mächtig zum russischen Idealtypus hinzog? Es war natürlich Tieferes und Wesentlicheres als das, was ich an Tatsächlichem bisher namhaft gemacht habe. Zunächst war es sein Urnaturhaftes; darüber brauche ich denen, welche das Kapitel Städter und Urnaturen kennen, wenig mehr zu sagen. Mir fehlt alles Zahme, Haustierhafte; nur wilden Tieren fühle ich mich verwandt — in Paris wurde ich von Frauen gelegentlich le fauve abstrait geheißen — und auch der kultivierteste Russe der Zarenzeit war zuunterst wild; nicht viel anders, wie ein in Eton oder Oxford noch so fein erzogener Fürst der indischen nordwest-Stämme. Alle Balten meiner Zeit — so stark wirkte die Atmosphäre der russischen Weite — fühlten sich beschwingt durch russische Lieder, und ihre Männerfeste hatten mit russischen Orgien mehr gemein, als mit deutschen Gelagen. Das Wilde, Unzähmbare in mir fühlte sich mehr als das aller anderen Balten, die ich gekannt, durch das Wilde bojarischer Festlichkeit, wie man sie z. B. in Hans von Eckardts Buch über Iwan den Schrecklichen geschildert findet, und das Urwüchsige sonst verfeinertster russischer Herren angesprochen. Immerhin, die also begründete Sympathie konnte für mich, den von Hause aus geistzentrierten, unmöglich den Ausschlag geben. Was mich so mächtig zum russischen Idealtypus hinzog, war sein innerhalb des Menschentums, mit dem ich bei meinen Lebzeiten bekannt werden konnte, einzigartig Imperiales.

Mit dessen Problematik, die für mein Leben entscheidend wichtig ist, muss ich mich an dieser Stelle ausführlich befassen. In dieser Weltphase unaufhaltsam zunehmenden seelischen und geistigen Engwerdens — eines noch viel weitergehenden Engwerdens, als es die protestantische Zusammenziehung, Zuspitzung und Schrumpfung gegenüber dem weltweiten mittelalterlichen Katholizismus, bedeutet hat und welches dieses Mal weniger weltanschauliche als vitale Gründe hat — verstehen nicht gar vielmehr von Hause aus, was echte Imperialität ist; sie denken dann gleich an den modernen Imperialismus, der in seinem gewaltsamen Ergreifen und Ausbeuten von Mehrheiten zu Gunsten einer Minderheit das strikte Gegenteil echten Ausdrucks imperialer Anlage und Gesinnung ist. Darum sei der Sinn des wahren Zusammenhangs in einem kurzen Exkurs herausgearbeitet. Unsere Zeit wird meist durch die Spannung Nationalismus — Internationalismus charakterisiert, wobei der letztere als das Minderwertige gilt. Beim Vertreter der modernen Internationale handelt es sich wirklich um Minderwertigeres, weil die Universalität, welche er meint, Eliminieren des Unterschiedlichen und Nivellierung nach unten zu zur Voraussetzung hat. Sind indessen die Pole der Enge und der Weite richtig gelagert und besetzt, dann entspricht dem, was sich heute als Nationalismus vereinseitigt hat, Partikularismus im allgemeinen Verstande der Erfüllung bestimmten Sonderdaseins, das damit anderes Sonderliches nicht ausschließt, und dem Internationalismus Imperialität. Imperialität stellt eine Lebensform dar, die sich genau so konkret im ursprünglich Weiträumigen und damit das Partikulare Einschließenden (nicht Ausschließenden, wie dies der Internationalismus tut) und Umfassenden erfüllt, wie jeder Partikularismus sich im nur-Eigenen vollendet. Aber ihre Lebensgesetze sind entsprechend andere. Der imperiale Mensch kann sich gar nicht im kleinen Kreise heimisch fühlen, noch will er es tun; in ihm liegt es, von oben her zu überschauen und zu herrschen. Seinem Stil entspricht nicht die Intimität, sondern das Distanz-Einhalten; die Weite und nicht die Enge ist der ihm einzig gemäße Lebensraum, das All und nicht die Einzelheit ist ihm Element. Darum bedeuten dem Imperialen Macht und Reichtum in einem ganz anderen Sinne Positives als dem Partikularisten. Letzterer bedarf zu seiner Vollendung nicht mehr an äußerem Spielraum, als eben zur Erfüllung seiner Sonderlebensform erforderlich ist, und das ist meist sehr wenig; ganz wenige Partikularisten sind mir begegnet, welche beim reich- und mächtig-Werden nicht ihre Form und ihren Stil verloren. Am eindrucksvollsten trat dies zu meinen Lebzeiten bei den Preußen in Erscheinung. Umgekehrt kann sich der imperiale Mensch nur im weitesten Rahmen überhaupt entfalten. Dieser lebt einerseits ursprünglich aus weitesten Zusammenhängen heraus, sucht solche andererseits von sich aus herzustellen und in Harmonie und Kontrapunkt in lebendiger Schwebe zu erhalten, nichts Sonderliches ausschließend, sondern alles einer höheren Einheit einordnend. Eben darum ist der imperiale Mensch als Herrennatur nicht allein unvollständig, sondern irreführend bestimmt. Die eigentliche Herrennatur ist nämlich ein seelisch enger Typus, nur die in ihren Möglichkeiten sehr beschränkte Fähigkeit des Befehlens und Lenkens auszuüben geschickt. So waren die alten Römer, die Tataren, Wikinger, Normannen, bei meinen Lebzeiten die Engländer, Magyaren und Balten. Als soziologischer Typus unabhängig von der Anlage gezüchtet, stellt sich der reine Herr als Führer gegenüber blindgehorchender Gefolgschaft dar; insofern darf der nur-befehlende Offizier als abstrahierte Urform des reinen Herrn gelten. Der imperiale Mensch ist demgegenüber nicht Führer, er ist Beherrscher, und zwar Beherrscher der Totalität, so wie Gott das Weltall beherrschend vorgestellt wird. Er ist darum wesentlich nicht Kämpfer, sondern Friedensfürst; kein imperialer Mensch hat je das Leben als Kampf aufgefasst, so rücksichtslos er kämpft und auch zerstört, wenn dies als Weg zum Ziele unvermeidlich ist. Als Naturanlage ist der imperiale Mensch nicht der Edelmann schlechthin, dessen Urtypus Armut fordert — das erste Kennzeichen des Edelmannes ist ja die Überlegenheit über materielle Interessen —: er ist der Grandseigneur. Der Grandseigneur aber bedarf reichster nicht allein innerer, sondern auch äußerer Möglichkeiten, um seine Anlagen zu entfalten und sich zum Besten aller auszuwirken. Soweit der imperiale Mensch Bestimmtes tut, gibt er Anregungen, stellt er richtig ein, lenkt und ordnet er. Nie gibt er eigentlich Befehle, so wie dies noch heute kein japanischer Kaiser tut, dessen gottgleiche Stellung ihn des Befehlenmüssens enthebt; das Befehlen ist Sache der Untergebenen. Die Welt aber beherrscht er überhaupt nicht durch Tun, sondern durch sein Sein. Ihm stehen alle Bewohner seines Reichs gleich nahe, so wie jede Seele Gott gleich nahe stehen soll. Er nimmt niemals Partei, nicht einmal für das Gute. Alles sieht und lenkt und betreut er vom unauflöslich vielfachen Ganzen her. Kraft seiner Natur steht er über aller Einzelheit und Einseitigkeit. So ist es nur natürlich, dass diese Menschenart, und sie allein, alle großen Herrscher gestellt hat. So wie geschildert beschaffen war Kaiser Akbar, dessen nächste Vorfahren nur mongolische Herren gewesen waren, so war schon der zweite große Kaiser von Chinas Mongolendynastie. So beschaffen war Kaiser Augustus, welcher, nachdem er als Parteimann und insofern bloßer Herr gesiegt hatte, durch Kumulierung aller Reichsämter in seiner Person erst zum Diktator, dann aber zum nichts ausschließenden Friedensfürsten wurde. So war Friedrich II. der Hohenstaufe, bei welchem das Normannenblut die gleiche Rolle spielte, wie das mongolische bei den beiden Erstgenannten, so waren alle ihrer Stellung gewachsenen Kaiser von Byzanz und Russland. So waren vor allem die sagenhaften ersten Herrscher Chinas und überhaupt alle mythischen Kaisergestalten aller Völker, was allein schon beweist, wie sehr Imperialität zum Begriff des idealen Herrschers gehört. Bis zu einem gewissen Grade ist auch dieser Höchsttypus zu züchten: Exklusivität in bezug auf Blutmischung und Erziehungsart, welche die Fürsten- und hohen Adelsgeschlechter aller Zeiten in irgendeiner Form als Hausgesetz bewiesen haben, kann auch den psychologischen Zustand imperialer Überlegenheit so weit perpetuieren, als dies ohne besondere Begabung möglich ist; allerdings gilt auch dies nur unter Befolgung anderer Hausgesetze, als es die unter Regierenden üblichen sind: nicht die Abstammung allein, vor allem das persönliche Niveau hat bei der Gattenwahl zu bestimmen, wie dies bei allen großen Dynastien Asiens und in Europa unter den byzantinischen Kaisern Regel war. Doch da echte Imperialität an das Dasein dessen geknüpft ist, was die Begriffe vollausgeschlagene Natur, Vitalität, Seinsniveau und ursprüngliche Überlegenheit über alles Sonderliche noch so ungenau bestimmen, welches vielfache Etwas ebenso schwer willkürlich und absichtlich ins Dasein gerufen werden kann, wie das Genie, so ist und bleibt sie Begnadung, die nur selten zuteil wird. Bloß geistig universelle Typen werden oft geboren, denn Geist an sich ist universell, und philosophische und religiöse, ja schon historische Begabung macht jeden, der sie hat, innerlich in deren Bereich zu einer imperialen Natur. Doch wie wenig bloß-geistige Universalität, welche als solche in ihren Inhalten natürlich übertragbar ist, genügt, um einen imperialen Menschen zu züchten, beweist gerade unsere Zeit, in welcher das anerzogene Bekenntnis an sich enge Typen zu Idealen der Großzügigkeit, die nur von Natur aus Großzügige ehrlich anerkennen können, zum Verlust der besten männlichen Tugenden, zum Supremat des Sachlichen über das Lebendige, zu einem nie dagewesenen Niveauverlust und zu allgemeiner seelischer Verarmung geführt hat. Denn nur die von Hause aus große Seele kann weiten Seelenraum füllen. Bei ursprünglich Engen führt Universalismus zur Verdürftigung.

Betrachten wir nun, das Ausgeführte von seinem grundsätzlichen Sinne her, dann erkennen wir, dass Imperialität nichts anderes bedeutet, als zu Geschichts-formender und -bestimmender Gestalt konkretisiertes höchstes Niveau. Womit ich zur Niveaufrage gelange, in welche die Betrachtungen auch dieses Buches immer wieder einmünden, weil das Niveau als solches für mich das letzt-, ja für meine Beziehung zu Individuen und Völkern einzig-Entscheidende ist. Darum sei an dieser Stelle über die Niveaufrage das folgende Grundsätzliche eingefügt. Die Höhe des Niveaus eines Menschen hat ihren eindeutigen Exponenten an seiner Inklusivität im Gegensatz zur Exklusivität. Hohes Niveau hat nichts mit Darüberstehen im Sinn der Ironie zu tun, schon gar nichts mit jener pseudo-Überlegenheit, die durch Ignorieren oder sich-außerhalb-Stellen zustande kommt: deren sind Menschen niedersten Niveaus bei entsprechend ausgebildeter Abblendungstechnik, gepaart mit Gefühl- und Interesselosigkeit, fähig. Im Gegensatz dazu bedeutet hohes Niveau lebendigste Teilhabe und -nahme an schlechthin allem, nur von oben, vom bestimmenden Zentrum her, nicht auf der Ebene der Auseinandersetzung zwischen Elementen von gleich zu gleich. Tatsächlich hängt alles in der Welt mit allem zusammen, ist nirgends Gegensätzlichkeit das letzte Wort. Das Weltall schließt schlechthin alles ein, und Gott wird all-beherrschend, all-verstehend und all-liebend vorgestellt. Je höher nun eines Menschen Niveau, desto mehr gleicht er in dieser Hinsicht dem Gott und in seiner persönlichen Umwelt dem Weltall. Darum gilt von jeher der Herrscher-Weise, wie ich ihn im Kapitel Weltüberlegenheit der Schöpferischen Erkenntnis gezeichnet habe, allenthalben als der höchste Mensch. Dieser herrscht unwillkürlich, weil er von vornherein alles einschließt, nichts ausschließt, das Niedrige ebensowenig als das Hohe, das Böse ebensowenig als das Gute, und jedes einzelne im rechten Verhältnis zu jedem anderen sieht oder es diesem entsprechend ordnet, im Verstehen wie im Tun. Vom höchstvorstellbaren Niveau haben die Chinesen in Gestalt ihrer ersten großen Kaiser das deutlichste Bild gegeben. Sie lehrten: der ganz Große habe bloß dazusein, zu tun brauche er nichts, denn durch seine bloße Gegenwart artikuliere sich das Reich von selbst. Wenn er nur seine Person in Ordnung gebracht habe, dann käme die ganze Welt von selber in Ordnung. Er brauche auch nicht zu erobern, denn alle Völker würden freiwillig kommen, sich seiner unmerklichen Herrschaft als der bestmöglichen zu unterstellen. Seiner unmerklichen: vom großen Kaiser sagte Lao Tse: herrscht ein ganz Großer, dann wisse das Volk eben nur, dass er da ist; alle hätten das Gefühl, selbständig zu sein1. Auf das Sein, nicht das Leisten, kommt also bei hohem Niveau alles an, und je höher es ist, desto mehr Sonderliches übersieht und beherrscht ein Mensch selbstverständlich von innen her, ohne es in seiner Sonderlichkeit zu beeinträchtigen, desto mehr werden Kleinlichkeit und Engigkeit, in welchem Sinn auch immer, ihm psychologisch unmöglich. Hohes Niveau entspricht in Form des Seins dem augenblicklichen Übersehen weitester Zusammenhänge. Von hier aus leuchtet denn ein, dass Imperialität der normale Körper höchsten Niveaus schlechthin ist. Wäre die Welt richtig geordnet, dann wäre es ausgeschlossen, dass der jeweils imperialste Mensch nicht herrschte. Leider wird dessen Wesen und Wert nur in allerseltensten Ausnahmezeiten erkannt. Forderte ein Zeitgeist Lebensfülle und Universalität, dann hob er auch solche, deren angeborenes Format an sich keine Ausgestaltung zur Imperialität ermöglicht hätte, zu solcher hinauf, da er ein Ausschlagen und eine freie Entfaltung jeder Individualität förderte, wie solche sonst nur sehr Hochgestellten zuteil wird. Daher der allgemein imperiale Charakter der Hoch-Zeit des deutschen Mittelalters und wenigstens in individualpsychologischer Hinsicht der Renaissance- und Barock-Zeit in allen Ländern, wo deren Geister wirklich herrschten. Shakespeare, Rubens, Frans Hals, Leonardo, um nur diese zu nennen, waren nicht nur universale, sondern gerade auch imperiale Menschen. Und so hat auch gehobene Stellung als solche hie und da einen nicht imperial Geborenen zu echter Überlegenheit emporentwickelt. Nichtsdestoweniger hat es in der gesamten bekannten Menschheitsgeschichte kaum hundert nachweislich imperiale Menschen als Gesamtpersönlichkeiten gegeben — dazu bedarf es eben eines vollausschlagen-Könnens, vergleichbar dem voll-Ausschlagen einer Eiche in einem englischen Park, welches nur wenige Zeiten je gestattet haben. Und was gar Imperialität als Volkseigenschaft betrifft, so ist diese nur ganz wenige Male vorgekommen, und sehen die meisten sie dort, wo sie gar nicht vorhanden war. Die alten Römer z. B. blieben innerlich Partikularisten bis in die spätere Kaiserzeit hinein; alles sahen und taten sie von ihrer Stadt her oder auf sie hin; erst spät bewirkte ihre unerhörte militärische, verwaltungstechnische und juridische Sonderbegabung, die ihnen die Eroberung der damaligen Welt ermöglicht hatte, eine Seinssteigerung und Angleichung an das Imperium, seit welcher Zeit freilich nicht mehr das Blut, sondern die besondere individuelle Begabung sie zur Herrschaft berief, was ein in-den-Hintergrund-Treten der von Hause aus beschränkten Römerrasse zur Folge hatte. Die überlegendsten römischen Kaiser waren bezeichnenderweise Spanier, das heißt Vertreter eines Volks, das seiner wunderbar großzügigen moralischen Anlage nach sehr wohl auch später ein Zeitalter der Imperialität hätte einleiten können — wenn nicht sein Hang zum Fanatismus und eine gewisse geistige Engigkeit das spanische Imperium im ganzen zu einem Reich der Unterdrückung gemacht hätten. Die Briten sind von Hause aus überhaupt keine imperialen Herrscher, sondern Ausbeuter. Nie haben sie von einer großen Ganzheit her gefühlt und gehandelt, sondern immer nur aus engem, aber freilich ungewöhnlich wohlverstandenem Selbstinteresse; dies erfordert nämlich Rechnen mit dem Willen und dem Wunsch des Partners und Nachgeben dem gegenüber, wo immer es das Eigeninteresse erlaubt. Zu aller Zeit hat Briten Privatbesitz den höchsten Wert bedeutet, also gerade das, woran der imperiale Mensch am wenigsten haftet. Eben darum ist der Engländer als Typus nur in den größten Gestalten, welche der übermächtige Renaissance-Geist formte, weit gewesen; als Norm ist der Engländer in seiner ausschließlichen Sonderart und dem Partikularismus des kleinen Kreises, welchem er angehört, befangen, wie kaum ein zweiter Europäer. Doch auch den Engländer, wie vorher den Römer, hat das beinahe zufällig zustandegekommene und immer weiter werdende Weltreich dahin gebracht, dass das Volk immer mehr den großen Aufgaben, welche dessen Beherrschung stellte, Gewachsene gebar und herausstellte und eine Tradition entwickelte, deren Weisheit persönliche Begabung bis zu einem gewissen Grad ersetzte. Diese Tradition hat denn aus dem Engländer des XVIII. und XIX. Jahrhunderts einen herrschaftlichen, wenn auch niemals seigneurialen Typus gemacht. Einen dem kontinentalen ebenbürtigen englischen Hoch-Adel hat es jedenfalls seit den Rosenkriegen, welchen das meiste hochgezüchtete Blut zum Opfer fiel, nicht mehr gegeben. Die Bildung einer Tradition, welche Seigneurialität als Typus konsolidiert, schloss schon der Umstand aus, dass nur ein Sohn des Hauses jeweils adelige Tradition fortsetzte, während die übrigen in der Masse der Geldverdiener untertauchten und dass in England von jeher in größerem Maße als irgendwo sonst auf Erden Geldbesitzer geadelt wurden. Diese Dinge wurden bis heute beinahe immer falsch gesehen. Die alten Römer waren phantastisch begabte Techniker der Beherrschung und Verwaltung, aber fast alle Eigenkulturen des von ihnen regierten Reiches haben sie ausgerottet, und schwerlich bedeutet es Menschheits-Gewinn, dass an Stelle der Vielzahl der Völker vielfältigster Sprache und hoher Kultur um das Mittelmeer herum, bis auf wenige damals unzivilisierte, nur einige romanisierte und damit in hohem Grade gleichgeschaltete übrig geblieben sind. Die Engländer haben sich nie je um die Kultur und das fortschrittliche Eigenleben aus eigenem Gesetz heraus der von ihnen Unterworfenen gekümmert, nur von dem einen Standpunkt haben sie sie regiert, dass England den größten Nutzen von ihnen einheimste. Was Römer und Engländer trotzdem zu den Vorbildern menschlicher Hochentwicklung zu zählen erlaubt, sind Vorzüge des individuellen Menschentypus, welche von sich aus kein Imperium bedingten. Auch die England-feindlichen gebildeten Inder sind eigentlich angloman, was sich schon darin erweist, dass das Englische ganz selbstverständlich zur Schriftsprache des wissenschaftlich-gebildeten Indertums geworden ist: das kommt daher, dass jeder unwillkürlich in einem innerlich unbedingten und unabhängigen, seine Natur frei auslebenden, sein Schicksal von überlegener Warte meisternden und selbstverständlich in erhöhter Stellung lebenden Menschen sein Ideal sieht: dass jeder den allein als Herrn anerkennt, dem das Herrschen angeboren ist und der dabei durch Kultur der Höflichkeit — schon Lord Chesterfield schrieb im XVIII. Jahrhundert an seinen Sohn, dass kein Gentleman sich jemals einem Untergebenen gegenüber anmaßend und rücksichtslos verhalten und ihn gar anschreien dürfe — den Abstand erträglich macht. Gleichsinnig beruhte die werbende Kraft der alten Römer, auf deren die ursprünglichen Volkstümer schließlich vernichtenden Einfluss alle je von Römern beherrschten Völker stolz sind, ganz und gar auf dem selbstverständlichen Selbstherrlichkeitsgefühl des civis romanus, eines Menschentypus, welcher jenseits und oberhalb der modernen aristokratischen und demokratischen Lebensformen seinen ideellen Ort hat, welches Selbstverständlichkeitsgefühl noch heute die unvergleichliche Vornehmheit des Spaniers bedingt. Diese positiven Eigenschaften geben für das Unbewusste jedes so sehr den Ausschlag, dass er sich Ausbeutung, Grausamkeit und Vernichtung seitens deren Träger lieber gefallen lässt, als die Beherrschung durch sozial gesinnte aber weniger herrschaftliche Völker, in der Hoffnung, irgend einmal das moralische Erbe seiner Unterdrücker anzutreten.

Welche Völker sind nun als wirklich imperial anzuerkennen? Es sind lauter solche, von denen heute keiner es glaubt. Das reinst imperial veranlagte Volk der bisherigen bekannten Geschichte war das mongolische; nie gab es eins von ähnlichem Weitengefühl und ähnlicher Begabung, im großen Zusammenhang zu organisieren und darum Toleranz und Härte zu balancieren. Ich sage: das reinst imperial veranlagte Volk, weil hier die Begabung völlig unabhängig vom angeborenen Rahmen in die Erscheinung trat. Ihrem Typus nach waren und sind die Steppenbewohner nicht allein arm, sondern bedürfnislos, von gar keinen günstigen Umständen abhängig, normalerweise auch ohne Streben, sich günstigere zu schaffen. Sie sind geborene Herren, aber von Hause aus nur Herren, keine Grandseigneurs. Gelangen aber Mongolen zur Macht, dann beweisen sie eine ursprüngliche Imperialität, wie keine zweite Rasse, und bei günstiger Zumischung fremden Kulturbluts bringen sie die größten Herrscher aller bekannten Zeiten hervor. Man denke nur an die großen Mongolenkaiser Indiens, besonders an Akbar, und unter Chinesenkaisern an die Enkel Dschingis Khans. Darum hat Mongolenherrschaft auf die Dauer, trotz alles anfänglichen Zerstörens, wie keine andere Völker-aufbauend und -zusammenfassend gewirkt. Sowohl China wie Indien wie Russland verdanken den Mongolen nicht allein ihre dauerhafte Zusammenfassung und Einheit auf höherer Ebene, sondern auch den Antrieb zu einer großzügigen nationalen Kultur. Nächst den Mongolen (deren übrigens auch immer nur sehr wenige waren) sind aber gleich nicht etwa die Byzantiner als Nation zu nennen, sondern die aus stetem Schichtwechsel entstandenen Klassen und Individuen, welche Byzanz weltgeschichtlich vertraten — kein eigentliches Volk und auch keine bestimmte Rasse, sondern eine sich weit über ein Jahrtausend lang immer wieder von überall her neu erzeugende und ergänzende Minderheit von unvergleichlicher Überlegenheit. Byzanz, diese kultivierteste Macht, welche Europa vom Ende des römischen Weltreichs bis zum Falle Konstantinopels geziert hat, war die geistigste, von welcher ich in der gesamten Geschichte weiß. Sie stand auf zwei rein geistigen Pfeilern, dem Hellenismus und der Orthodoxie; eine nationale Einheit irgendwelcher Art trug Byzanz nie, und schon Jahrhunderte vor dem katastrophalen Ende war die materielle Macht gering. Welche Überlegenheit mussten da die byzantinischen Großen beweisen, um sich von der Antike an, trotz aller häufigen Umstürze, ununterbrochen zu halten, die antike Kultur, dieselbe von Osten her bereichernd, soweit die Orthodoxie dies erlaubte, zu perpetuieren und bis zum Schluss so großes Prestige zu genießen, dass die Türkensultane bis zu dem Augenblick, wo sie letzteren tatsächlich entthront hatten, vor dem Basileus Autokrator in Ehrfurcht bebten! Die Byzantiner besaßen auf einmal die Fähigkeit der Menschen- und Völkerbehandlung des heutigen England, alt-griechischen Geist und Kunstsinn, alt-Roms Kriegs- und Verwaltungserfahrung, die religiöse Tiefe und theologische Subtilität, die heute noch, wo ein Kalif fehlt, einen solchen Primat der Religion bei allen islamischen Völkern, den protestantisierenden aber doch echten Erben vieler Seiten des Byzantinertums, bedingt, dass der Islam herrscht und die verschiedenen noch so mächtigen mohammedanischen Herrscher letztinstanzlich dem Glauben dienen müssen und dies noch dazu, ohne dass eine Kirche diesem ein äußeres Gerüst gäbe.

Nun, diese gewaltige und einzig reiche Tradition hat bis 1917 als Norm für die Oberschichten Russlands fortgelebt; sie hat sie geistig geformt von den Zaren an, deren letzte große Gestalten beinahe rein deutschen Blutes waren. Daher die Möglichkeit des russischen Imperiums, welches selbstverständlich, als könnte es gar nicht anders sein, weiteste Räume und verschiedenste Völker umfasst, ebenso selbstverständlich wie alt-Griechenland nur exklusiv und zerklüftet vorzustellen ist. Ebenso selbstverständlich wie der Byzantiner verstand der russische große Herr jahrhundertelang mit Osten und Westen umzugehen und beiden von überlegener Warte her gerecht zu werden. Wie ich 1912 in Peking weilte, unterschieden die Chinesen zwischen Russen und Europäern und schätzten die ersteren sehr viel höher ein. Der Chinese hat eben auch einen unmittelbaren Sinn für Imperialität. Sah er bis vor kurzem in China allein die ganze Welt, so bedeutete dies nicht Schrumpfung dieser, sondern unmittelbares Gewahrwerden der eigenen größten Möglichkeit. Das chinesische Reich wurde von je nicht durch Gewalt, sondern durch Geist zusammengehalten. Dieser Geist war einer des Friedens und der Kultur. Aber auch rein politischer, ja rein kriegerischer Geist kann echter Geist sein — er ist es dann, wenn er von einem oberhalb des Empirischen Belegenen und damit Universellen her die jeweilige Betätigung lenkt. Russland nun war bisher immer barbarisch, und dennoch war seine Grundstruktur geistiger als diejenige der meisten europäischen Staaten. Wie geistig die russische Überlieferung ist, beweist abschließend jedem, der da Augen hat zu sehen, die erstaunliche Tatsache, dass die Verkörperer von nationalen, individuellen und weltanschaulichen Typen, die nie früher in Russland eine Rolle gespielt haben und welche bewusst die gesamte zaristische Tradition verleugneten, ab 1917 die Außenpolitik des Zarenreiches aus dem ewigen Weitengeiste Russlands heraus, welcher auch sie unwillkürlich immer mehr ergriff, ohne erhebliche Unstetigkeitsmomente erfolgreich fortgeführt haben.

Absichtlich habe ich hier das Große und Positive der versunkenen zaristischen Welt nicht ohne einige Übertreibung herausgearbeitet: dies fordert elementare Gerechtigkeit, denn kaum einer unter den Jüngeren, von welchen alle, zum mindesten unbewusst, an irgendeiner der sozialen Revolutionen des XX. Jahrhunderts teilgehabt haben und von ihnen geformt worden sind, sieht dieses Positive mehr. Dass die alten Oberschichten Russlands andererseits nicht unschuldig untergingen, ist klar. Sehr wenige russische Männer verkörperten mehr bei meinen Lebzeiten den Ur-Geist der Größe. Aber der, welchem die Gabe der Intuition eignet, vermag auch durch Unvollkommenstes hindurch die mögliche Vollkommenheit zu schauen. Und reicher veranlagt und auf einem höheren Niveau ursprünglich zu Hause, als der hochgeborene Russe, war zu meinen Lebzeiten kein weißer Mann. Die selbstverständliche Vielsprachigkeit aller Russen bedeutet nicht etwa Sprachtalent, wie solches nach Bismarcks Ausspruch bessere Oberkellner am häufigsten auszeichnet, sondern angeborene Polyphonie aus Inklusivität im Gegensatz zur Exklusivität. Dass dieses so ist, bewies allein schon das tiefe und lebendige Nationalbewusstsein auch der internationalen Russen. Ihre sprichwörtliche, kleinliche praktische Erwägungen mit einer Handbewegung (Machnútj ruksí) beiseiteschiebende Großzügigkeit war ein Zeichen jener Antibürgerlichkeit, nach welcher alle besseren Europäer des XX. Jahrhunderts strebten und im übrigen der Keim echter Imperialität, als welche mit Kleinlichkeit und Ordnungsliebe im Sinne des Buchhalters schlechterdings unvereinbar ist. Der vornehme Russe war wesentlich materiell desinteressiert, genau wie vom Engländer das Gegenteil gilt: schon dieser Umstand ließ ihn ungleich vornehmer erscheinen. Die Einfühlungsgabe und psychologische Feinfühligkeit zumal der nun gestürzten russischen Oberschicht war in Europa einzig in ihrer Art. Man gedenke nur der außerordentlichen Werbekraft der russischen Literatur des XIX. Jahrhunderts: sie war mit der meines Wissens einzigen Ausnahme Gogols das Werk von Edelleuten, behandelte so gut wie ausschließlich nationale Themen, und dennoch hat sich jeder tiefere Mensch jedes Volkes durch sie angesprochen gefühlt; wahrscheinlich hat seit der griechischen keine Literatur einen ähnlichen planetarischen Einfluss ausgeübt. Jede Medaille hat selbstverständlich den ihr entsprechenden Revers. So konnte die Verantwortungslosigkeit, in welcher die Oberschichten des zaristischen Russlands so lange leben durften, nicht umhin, die Negativa der geschilderten Positiva hochzuzüchten. Zuletzt war bei der Mehrzahl Gleichgültigkeit und Zynismus an die Stelle imperialer Überlegenheit getreten. Aber als Grundlage verblieb diese und sie offenbart sich bei den völlig verarmten Emigranten in der Art, wie sie ihr Schicksal tragen. Hier zeigt sich die angeborene Großzügigkeit in der Selbstverständlichkeit, mit welcher diese Menschen ihre plötzliche Verarmung hinnehmen. Eines muss allerdings zugegeben werden: die russischen Männer haben seit der bolschewistischen Revolution zum großen Teil versagt; von jeher waren sie weniger wert als die russischen Frauen. Unter letzteren aber habe ich eine unglaublich große Anzahl unbedingt verehrungswürdiger gekannt — Frauen von einer Seelengröße im Unglück, wie sie mir unter Mittel- und Westeuropäerinnen nie begegnet ist. Eine Form echter Imperialität ist die Tragfähigkeit der Seele, die ja auch auf Inklusivität im Gegensatz zur Exklusivität beruht. Es war allemal die Größe vornehmster Schlichtheit. Kein Zweifel: in der Verbannung, in der Armut haben sich die Frauen der alten Geschlechter Russlands bewährt, wie wenige Frauen der Geschichte. Eine alte Freundin, Tochter von Andrei Saburow, des Nachfolgers meines Großvaters als Kurator von Dorpat, eine wunderbar lichte Gestalt, sagte mir in Paris: seitdem ich zwei Jahre im G.P.U.-Gefängnis verbracht hatte, bin ich immer glücklich. Seither kann ich mir kaum mehr vorstellen, was Angst und Sorge heißen… Auch aus dieser Gesinnung sprach dieselbe Imperialität, deren pathischer Aspekt, wie gesagt, die grenzenlose Tragfähigkeit der Seele ist; eine Tragfähigkeit, welcher kein Leiden zuviel ist, welche die gesamte Welt liebend stützen und betreuen möchte.

Die in der Blüte ihres Lebens stehenden Generationen der Zeit, in der ich dieses schreibe, verstehen alle diese Zusammenhänge schlecht. Darum sei, obgleich es nicht notwendig zum Thema dieses Kapitels gehört, noch einiges mehr über die empirischen Komponenten des imperialen Russentums gesagt. Alle großen Völker sind nicht etwa reinblütig, sondern aus solchen Blutmischungen entstanden, die ein Maximum an innerer Gespanntheit bedingten; ließen die Spannungen nach, dann begann ihr Abstieg, und Spannung gibt es nur, wo kein entsprechender Ausgleich der Kräfte stattgefunden hat. Im Russen, den ich hier meine, lebte nicht nur mongolische Herrschaftstradition, sondern auch, wenn auch in den Oberschichten nur in homöopathischer Dosis, mongolisches Blut fort, welches dieser eine vererbbare Naturgrundlage gab. Seine Seelenhaftigkeit war slawisches Erbe. Da die meisten Herrentypen der Geschichte seelisch dürr gewesen sind — ausschließliche Züchtung auf Befehlen Untergebenen gegenüber, welche stumm und blind gehorchen müssen, verdürftigt immer — so erklärt die slawische Komponente am Russen an sich schon seine größere innere Weite. Doch der russische imperiale Typus schließt noch andere Elemente ein und jeder von ihnen hat gelegentlich vorgeherrscht, ohne dass dies den Typus sprengte; er hat nur zu reichen und vielseitigen Variationen des gleichen Grundthemas geführt. Wahrscheinlich ist die älteste Anlage skythisches Erbe — irgendwo muss das Blut dieses gewaltigen Herrschervolks, dessen überliefertem Bild noch alle Schilderungen der Bylinen aus der russischen Heldenzeit entsprechen, welches Volk jahrhundertelang vor allem in Russland hauste und dann plötzlich verloren war, ohne dass es von einer Ausrottung eine Überlieferung gäbe, doch verblieben sein. Auch die Goten, die später jahrhundertelang in der Ukraine, der Wiege alles Russentums, siedelten, gingen sicher nicht blutsmäßig spurlos verloren; vielleicht erklärt dieser Umstand die prästabilierte Sympathie zwischen den deutschen Weitenmenschen und dem Russentum. Auf den letzteren Punkt sei etwas näher eingegangen. Die in der Heimat verbliebenen Balten waren zuletzt extrem antirussisch — und doch waren laut Ernst Seraphim, der das bei weitem beste und vorurteilsfreieste Buch über das Ende des Zarenreichs geschrieben hat (Russische Portraits, Amalthea-Verlag 1943) noch bis zur Revolution durchschnittlich dreißig wenn nicht mehr Prozent aller höheren russischen Beamten, Militärs und Würdenträger baltischen Ursprungs und dabei ausgesprochen russisch gesinnt — was unzweideutig beweist, dass keine ursprüngliche Antipathie zwischen Balten- und Russentum bestand. In der Tat vollendete sich der deutsche Weitentypus von jeher am häufigsten im Osten, neuerdings am häufigsten in den Varianten des Balten und des Österreichers typisiert, und ich kenne keinen deutschen Weitenmenschen im Unterschied vom kleinbürgerlichen Ordnungsmenschen, der nicht eine tiefe Sympathie für Russland gehegt hätte; jeder von ihnen fühlte: in Russlands Weite könnte ich mich aus meiner geschichtsbedingten Engigkeit erlösen. Auf dem gleichen Umstande beruhte seinerzeit der von den Römern so tief empfundene Unterschied zwischen den Ost- und Westgermanen. Aus dem Gesagten wird verständlich, wie die großen Zaren des XIX. Jahrhunderts, gesinnungsmäßig reine Russen, blutsmäßig jedoch so gut wie reine Deutsche sein konnten. Der gleiche Umstand erklärt, dass auf Fremde nichts russischer wirkt, als der Großfürstentyp, von welchem gleiches gilt. Und erfüllt sich der deutsche Weitenmensch im imperialen Russen, so bedarf dieser offenbar der Zumischung deutschen oder allgemeinen germanischen Blutes, um sich zu vollenden. Slawisch ist die russische Ur-Art sicher nicht. Die Skandinavier, welche die erste regierungsfähige Herrenschicht Russlands stellten, haben eroberisches Weitengefühl, zielbewusste Härte und skrupellosen praktischen Sinn zum Typus beigesteuert; schwerlich gibt es in England quantitativ mehr Normannenblut als unter dem russischen Adel, und doch trägt der politisch fähige Engländertyp unverkennbar in erster Linie normannische Prägung. Von Anfang an hat wohl finnischer Tatsachensinn am Typus mitgebildet — die Urrassen des weiten Raumes vom Baltischen Meere bis Kamtschatka sind beinahe sämtlich finnisch-ugrisch, der Nord- und Großrusse war blutsmäßig von jeher zu einem erheblichen Teile Finne, und noch nie kam es vor, dass sich das Blut der Unterschichten durch unbefriedigte Frauen nicht in die Oberschichten eingeschlichen hätte; daher wohl des Großrussen gänzlich unslawischer und unbestechlicher Realismus und Positivismus. Später wurde das deutsche Element sehr wichtig. Alles in allem war der Russe, welchen ich meine, darin dem Byzantiner gleich, ein weiteres als eine bestimmte Rasse. Er war, bei aller Qualifiziertheit, wesentlich universell. Eben darum enthält die russische Literatur, noch einmal, obgleich sie beinahe ausschließlich streng Nationales zum Gegenstande hat, die überzeugendsten Bilder von allgemein-Menschlichem überhaupt, die es in der Neuzeit gibt. Noch eins. Wer die Zeit vor dem ersten Weltkriege noch als Kenner ganz Europas miterlebt hat, der weiß, wie ungeheuer das Bild von dessen Oberschichten an Reichtum, Fülle, Farbigkeit und Tiefe verloren hat, seitdem die russischen Aristokraten nicht mehr ergänzend oder tonangebend mit zu ihnen gehören. Mich nun zog die ursprüngliche Weite des Russen als solche im Bilde desto mächtiger an, mit je mehr engen Menschentypen ich zusammenkam. Mit diesen wurde mir Harmonisierung von Jahr zu Jahr schwieriger und schließlich physiologisch unmöglich. Und nachdem ich viel von der Welt gesehen, da wurde mir die tiefste Ursache meiner Liebe für Russland klar: dass ich nämlich selber nicht nur ein wesentlich universeller, sondern auch ein wesentlich imperialer Mensch bin.

1 Hierzu gibt es ein bizarr-spezialisiertes modernes Beispiel: wahrscheinlich gibt es keine bessere Polizei, als die brasilianische, aber niemand merkt sie, wo sie nicht sichtbar eingreifen muss. Ebensowenig merkt das Volk, wer regiert. Wie ein Freund von mir eine Brasilianerin aus dem Volk einmal fragte, wer ihrer Ansicht nach das Reich regiere, sprach sie nach längerem Nachdenken: le subdélégué; das ist der niedrigste Verwaltungsposten!
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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