Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

III. Puritaner - Selbstgerechtigkeit

Führen wir nunmehr den Puritanismus auf die wichtigsten Momente und Motive zurück, die ihn von innen her möglich machen. Der Puritaner steht und fällt — nie genug kann ich dieses wiederholen — mit dem Gefühl, in dem, was er ist und tut, im Recht zu sein. Dies setzt eine Festigkeit des Ich-Gefüges und eine Letztinstanzlichkeit des Ich voraus, welche allein schon einen sonderlichen Menschentypus schaffen. Insofern eben diese Zuständlichkeit den starken Charakter kennzeichnet, sollte man glauben, dass der Puritaner ein spezifisch männlicher Typus ist. In Wahrheit kommen auf einen echten Puritaner unter Männern Tausende von Frauen. Welcher Mann nähme sein empirisches Ich auch nur annähernd so ernst, wie dieses jedes Mädchen tut, für das es den Angelpunkt der Welt bedeutet, ob sie jemanden liebt oder nicht, und wen sie liebt, ob sie sich und wann sie sich ihm hingibt, welche für eines alles zu fordern sich selbstverständlich für berechtigt hält? Dass die normale und echte Jungfrau auch in anderen Hinsichten puritanisch gesinnt erscheint, bestätigt die wesentliche Richtigkeit dessen, was ich hier dem Verständnis nahezulegen versuche. Die Jungfrau ist abgeschlossen. Das Ich als letzte Instanz ist ein Abgeschlossenes, von der Umwelt Abgeschiedenes. Bei der Frau löst sich die Abgeschlossenheit normalerweise in einen begrenzten Beziehungsreichtum auf. Aber dessen Grenzen sind wiederum scharf und streng umrissen und das resultierende Bild des auch Kinder und sonstige Gebiete umfassenden Ich gleicht in sehr hohem Grade dem einsamen Ich des Egoisten. Ist nun gar eine Frau im Sinne des letzteren ichbetont, dann ist sie ichzentriert wie kein Mann dies überhaupt sein kann, denn jedem Mann geht irgendeine Sache über die Person. Ich nun habe nicht nur meine ersten, sondern auch meine wichtigsten Beobachtungen puritanischer Gesinnung an Frauen gemacht und muss sagen, dass ich wenig Wunderbareres kenne, als dies absolute Gefühl, allein im Recht zu sein, welches solche Frauen kennzeichnet. Natürlich sind sie wegen dieser ihrer unwillkürlichen Einstellung andererseits sehr gefährdet; verlieren sie ihr Gefühl, das absolute Recht für sich zu haben, dann zerbrechen sie daran. Aber ich habe es noch nie erlebt, dass eine stark ichbetonte Frau dieses Gefühl jemals verlor, außer einmal kurz vor ihrem Tode. Mir scheint nun, dass wir von hier aus besser als von irgendwo anders her ermessen können, wie alle Konsolidierung von Macht zustande kam. Die Eroberer, Schöpfer und Zerstörer waren meist, um beim Sinnbilde Englands zu bleiben, Kavaliere. Sie waren leichtsinnig und großherzig. Der Teil der Menschheit nun, welchem Besitz alles bedeutet, ist die Frau. Was der Mann spielend errang und je mehr er Mann ist, desto leichter wieder weggibt — man gedenke der Selbstverständlichkeit, mit welcher Männer ihren Besitz verspielen —, hält sie todernst fest und zusammen. In den Meditationen habe ich nun ausführlich nachgewiesen, dass das Rechtsgefühl überhaupt im Besitz-Recht seinen Urgrund hat: der Frau bedeutet nicht allein Besitz grenzenlos viel: alles, worüber sie irgendwie verfügt, ist ihr psychologisch Besitz, nicht nur der Mann oder die Männer, sondern auch der Gehalt von Begriffen und Anschauungen, die in ihrem Kreise gelten und ihre eigenen Ansichten und Idiosynkrasien. So kann man sagen, dass jede geistige Neuerung, von einem Mann meist leichtfertig in die Welt gesetzt, leichtfertig insofern der, welcher Einfälle hat, darum noch lange nicht an sie zu glauben braucht, von den Frauen zum Glaubensartikel und Rechtstitel umgeschmolzen wurde. Darum übertreibt man sehr wenig, wenn man behauptet, dass alle Konsolidierung auf Erden weiblichen Ursprungs ist. Die Frau ist es ja allemal, welche die Gesinnung des Heimes schafft, in welchem die Kinder in ihren beeinflussbarsten Jahren auch in patriarchalischsten und frauenverachtendsten Gemeinwesen aufwachsen.

Welche Gesinnung gab es nun je, welche dem Typus der ehrbaren älteren Frau angemessener gewesen wäre als die puritanische! Vielen ist es ein Rätsel geblieben, wieso das ausgelassene und saufende England von noch 1800 wie mit einem Schlage ganz selbstverständlich victorianisch wurde: nichts liegt eben der Matrone — in der besonderen Nuance des englischen Begriffes matron — näher als Selbstgerechtigkeit, Reinheit und Respektabilität. Der Engländer Oscar Wilde, der es wissen konnte, behauptete sogar, der Frau liege überhaupt nur an einem auf Erden: an respectability. Darum macht es ihr gewiss so wenig aus, heimlich verbotene Wege zu gehen. Es darf nur nichts herauskommen. So ist denn der Puritanismus überall wo er herrschte, trotz des extrem männlichen Charakters seiner großen Vorkämpfer, der Stellung der Frau zugute gekommen. Gilt dies von der späteren Mohammedanerin nicht, so liegt das daran, dass deren Puritanismus sich später nur als Norm männlicher Kampfgemeinschaft erhielt. Dass Amerika heute so gut wie ganz vom Geist der Frau, insonderheit der alten Jungfer regiert wird, ist der entscheidende Beweis dessen. Aber auch das, was nahen Verkehr mit Engländerinnen so schwierig macht, beruht auf der Bestärkung, welche die weibliche Psychologie dort durch den puritanischen Einschlag empfangen hat. Jede Engländerin nimmt jede ihrer Eigenheiten so ernst, wie ihren Glauben an Gott; die geringste Charakterdifferenz genügt schon als Scheidungsgrund: das ist das Erbe puritanischer Selbstgerechtigkeit. Wehe, dreimal wehe nun dem von ihr irgendwie abhängigen Mann, wenn eine Frau sich obendrein erleuchtet fühlt! Ich war einmal in eine Engländerin verliebt, welche behauptete direkt vom Heiligen Geiste inspiriert zu werden: mit der war jedwede Diskussion ausgeschlossen; ich konnte mich ihr nur unterwerfen oder mit ihr brechen. Die Psychologie des Auserwähltheitsgefühls der großen Puritaner war nun eine sehr ähnliche. Einzelne von ihnen haben echte religiöse Erlebnisse gehabt, bei diesen war spezifisch puritanisch nur die Inflation des Ich-Wert-Gefühls, das sich daraus ergab. Aber bei den meisten lagen die Dinge, wie bei den meisten Frauen, so, dass sie stur an die Autorität dessen glaubten, was andere als von Gott eingegeben behauptet hatten, welche Autorität ihre Ichsucht bestätigte. Zum Teil in diesem Sinne glaubt die Frau beinahe religiös an den Mann, welchen sie liebt. Sehr wenige, die eine sehr große Verantwortung tragen, halten es aus, dies ungestützt zu tun: so wurden die meisten großen Staatsmänner, wie immer sie anfingen, zuletzt Gott- oder Schicksals-gläubig. Am klarsten offenbarte sich mir der wahre Zusammenhang bei Hitler, der zwar an einen Gott glaubte, sich diesen aber mehr oder weniger als seinen Minister vorstellte. Nicht Gott hatte die Initiative, sondern er. Gott erklärte sich regelmäßig einverstanden und leistete die Gegenzeichnung, welche die Verfassung der Menschenseele nun einmal fordert. Aber der Puritaner bedarf, um als Allgemeinerscheinung verstanden zu werden, psychologisch keiner religiösen Begründung noch Rückversicherung. Jede Mutter leidet an einem Allmachtskomplex — freilich ist es wunderbar genug, dass sie ein lebendiges Menschenkind in die Welt gesetzt hat, was kein Mann vermag; der kann höchstens Kunstwerke schaffen. Schon aus diesem Grunde ist das Ich der Frau von Natur, trotz ihres Lebens in Beziehung zu anderen und ihrer Wandelbarkeit viel fester gefügt als das des Mannes; deswegen hält sie ja das Mitansehen von so viel Leiden aus, deswegen benötigt sie zur Stützung so viel weniger als jener starre Systeme. Und nun denke man gar an den Typus der alten Mutter, Großmutter und gar Schwiegermutter in Ländern und Zeiten, wo dem Alter selbstverständlich Ehrfurcht erwiesen wird! Da ist jede Frau in Herrinnenstellung Cromwell-ähnlich. In ihrem Auserwähltheitsgefühl wie in ihrer Selbstsucht, ihrem selbstverständlichen Herrschaftsanspruch und vor allem auch in ihrer Skrupellosigkeit in bezug auf die Mittel, die sie zum Besten der Familie anwendet. Hier erweist sie sich als Realpolitikerin durch und durch und es steckt tiefer Sinn darin, dass die Schwiegermutter auf spanisch madre politica geheißen wird.

Der allgemeine Schluss nun, zu dem uns die Logik der Tatsachen führt, ist der folgende. Der Puritanismus ist das Urbild des Selbstgerechtigkeitsgefühls und dieses der Primärausdruck des auf sich selbst gestellten und sich selber durchsetzenden Ichs. Darum finden wir Ausdrücke seiner auf allerfrühesten Entwicklungsstufen, was allein schon dadurch bewiesen wird, dass er der Frau — man erinnere sich der These der Meditationen: Im Anfang war nicht der Mann, sondern das Weib — ursprünglich am gemäßesten ist. Die zitierte These der Meditationen fährt dann fort: und nicht die Wahrhaftigkeit, sondern die Lüge. Die Skrupellosigkeit in den Mitteln gehört naturnotwendig mit zur Anerkennung des Ichs als letzter Instanz. Man erinnere sich dessen, dass die Pilgerväter, welche England verließen, um jenseits des Ozeans ein Reich der Heiligen zu begründen, bei ihrer Landung in Amerika als erstes den Indianern Getreide stahlen und dies mit bestem Gewissen zu den legitimate means rechneten, um Gottes guten Willen durchzusetzen. Was ist nun das Ich? Es ist innerhalb der Psyche in erster Instanz das Bündel der Machttriebe, mit welchem Worte ich hier mit Nietzsche die Bedürfnisse von Ur-Hunger und Ur-Angst gemeinsam zusammenfasse. Es ist ein rein irdisches, erdgeborenes und auf Irdisches allein bezogenes Organ. Unter diesen Umständen musste der Puritanismus, so sehr er zuerst auf echt religiösem Glauben gegründet war, gleich keiner anderen Religion, die je auf Erden geherrscht hat, zu einer Rechtfertigung von Machthunger, Geldgier, Unterdrückung und Ausbeutung anderer führen. Hier halten wir in nuce den tiefsten Grund sowohl des angelsächsischen Plutokratismus wie des jüdischen Auserwähltheitsgefühls, dank dem es den Juden trotz aller Nachteile lieber war, bei schlechtem Recht im Ghetto abgeschieden zu leben, als sich mit Minderwertigen zu mischen und die selbstverständliche Ausbeuterrolle, die sie überall mit gutem Gewissen gespielt haben, wo sie aus ihrer Abgeschiedenheit heraustraten, und endlich des Herrschaftsanspruchs der Islamiten. Vom Islam, der reinsten und edelsten Form des Puritanismus her verstehen wir aber auch sein Positives am besten. Bekanntlich hat keine hohe Religion auf Erden je ähnliche Werbekraft bewiesen, und als einzige der alten Religionen bewahrt der Islam diese heute noch. Das liegt daran, dass er eine reine und klare Beziehung zwischen jedem gläubigen Ich und Gott ohne jede Vermittlung statuiert. Das Ich erhält dadurch eine unvergleichliche Würde, und zwar jedem Ich kommt diese zu: hieraus ergibt sich die edelste Form von Gleichheitsglauben, die unter Menschen bisher die Herrschaft erlangt hat. Dass der lebendige Islam durch sein bloßes Dasein jede Kastenordnung von innen heraus zerstört und statt ihr eine Kameradschaft aller Gläubigen setzt, beweist zumal Indien. Nun ist aber der Islamit, im Unterschied vom Angelsachsen und vom Juden, materiell desinteressiert. So konnte die Heiligung des Ich bei ihm zu keiner Hypertrophie von Ur-Hunger und Ur-Angst führen. Was nun immer am Fortschrittszeitalter unter Christen positiv zu bewerten ist, zumal alles, was an ihm groß war, geht auf gleiche oder ähnliche Motive zurück, wie sie sich unter Mohammedanern finden. Und nun sind wir reif zu einem verstehenden Gesamtüberblick über das, was das puritanische Prinzip unter dem Aspekt, welchen dieser Abschnitt behandelt, in der Menschheitsgeschichte Gutes bedeutet hat. Freilich führt Ichbetonung als letzte Instanz zur Vorherrschaft all des Negativen, das wir vorhin beschrieben. Aber das individualisierte Ich ist nun einmal der normale Ansatzpunkt des Menschen, dessen tiefstes Wesen Einzigkeit ist. Fortschritt nicht nur in der materiellen Beherrschung der Erde, sondern auch der Vergeistigung zu hat es immer nur vom bejahten und betonten Ich her gegeben. Fühlt sich nun ein sich selbst als rein, das heißt als unterschiedliche Monade empfindendes Ich von Hause aus in verpflichtendem Zusammenhang mit einem hohen Ideal, dann dient es unwillkürlich einem Höheren als Werkzeug. Aller echte Idealismus setzt aber andererseits das Vorherbestehen eines abgeschiedenen Ichs voraus: darum hat es Idealismus im eigentlichen Verstand bisher nur unter weißen Menschen gegeben. Das Ur-Bild des Ich-Menschen nun aber ist der puritanische Mensch. Der Purismus seines Ich-Bewusstseins ist der Primärausdruck von Ich-Bewusstsein überhaupt. Gleichwie Kinder alles entweder weiß oder schwarz sehen, so gab es ursprünglich nur die Antithese Puritanismus-Kollektivismus. Alle frühesten Herrscher und Führer und Herren waren in irgend einer Abwandlung und in noch so verbogener Form Puritaner. Nur der Puritaner fühlt sich eben ursprünglich im Recht, sein Ich gegen alle anderen vom Geist her durchzusetzen.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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