Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

IV. Miguel de Unamuno - Tragisches Lebensgefühl

Was wirkte so stark, vor allem so stark auslösend auf mich und in mir an Unamunos Buch vom tragischen Lebensgefühl? Es war die beispiellose Naivität, ja Primitivität, mit welcher da ein im übrigen hochgeistiger und phantastisch vielseitig gebildeter Mann das Kardinalproblem menschlicher Existenz stellte. Unamunos tiefe Unsterblichkeitssehnsucht äußerte sich elementar in der Revolte dagegen, dass er überhaupt sterben muss. Sein Lebenshunger war ein Sich-Anklammern an das Dogma der buchstäblichen, mit Haut und Haaren verstandenen Auferstehung des Fleisches, die sein Verstand desto gebieterischer forderte, als er das Dogma naiv zu glauben nicht mehr imstande war; sein Unsterblichkeitsglaube wurde dank dieser seelischen Situation unmittelbar vom Ur-Hunger gespeist. Unamunos Geist-Bewusstsein spiegelte unmittelbar dessen paradoxale Beziehung zur Erde, und seine Erdhaftigkeit war dermaßen stark, dass er sich die Wirklichkeit des Geistes nur so vorstellen konnte, dass diese selbst irgendeine Form von Materie ist. Seine Seele empfand er so fleischhaft, wie je eine spanische Nonne — höchst plastisch drückt das ein Satz aus, der vom Genießen des Fleisches der eigenen Seele handelt (gozarse uno la carne del alma). Aber andererseits fühlte sich Unamuno gerade als nicht-irdischer Geist im konkreten Verstande wirklich, und diese Spannung in ihm führte denn dahin, musste ihn als Spanier dahin führen, einerseits die Irrationalität religiösen Glaubens auf die Spitze zu treiben, andererseits in Don Quixote das Ur- und Idealbild zugleich des begeisteten Menschen als Naturüberwinders zu sehen. Besser als Unamuno selber hat der von diesem viel zitierte Senancour das sich hieraus ergebende unamuneske Lebensgefühl mit dem folgenden Satz gekennzeichnet:

L’homme est périssable. Il se peut. Mais périssont en résistant. Et si le néant nous est réservé, ne faisons pas que se soit une justice,

welchen Satz Unamuno nur wenig unamunesker paraphrasiert, indem er für sich den letzten Satz folgendermaßen überspitzte: faisons que ce soit une injustice. Das Entscheidende nun aber ist, dass dieses Erleben der widerspruchsvollen Vielschichtigkeit der Welt und der Unmöglichkeit, dass die Lebens-Gleichung je Menschen-Sinn-gemäß aufginge, zu keiner inneren Zerrissenheit geführt hat, wie beim Christen überhaupt, im letzten Jahrhundert auf höchster Ebene bei Kierkegaard und zuletzt in schauerlichem Ikarus-Sturz ins groteske Nichts unverstandener Verzweiflung bei Heidegger und Barth, sondern zu einem Ganzheitszustand, der auf der Ebene des Menschendaseins, also auf höherer Ebene, dem des stumm klagenden Tieres entspricht. Das denn ist das Wesentliche ursprünglich tragischer Situation: dass deren Ausweglosigkeit als selbstverständliche, in ihrer Ganzheit unauflösliche Gegebenheit erlebt wird, nicht als Problem, als welches das Tragische den Griechen, die eben darum keine wesentlich tragischen Menschen waren, erstmalig bewusst ward.

Es war dieses gleichsam Tierhafte an Miguel de Unamunos tragischem Lebensgefühl, das mir, kaum dass ich in seinem Buch zu blättern begann, zum richtunggebenden Erlebnis ward. Allzuviel sogenannte tragische Literatur hatte ich gelesen, allzuviel bloßes Unglück oder sogar Pech tragisch nennen hören. Die in meiner Jugend wimmelnden Literaten, welche überlaut jedem, der es hören oder nicht hören wollte, kündeten, dass sie am Leben litten, hatte ich von Herzen verachtet. An jenes tragische Schicksal, das darin bestände, dass einer tun müsse, was der eigene Geist nicht will, hatte ich nie geglaubt. Nicht nur an eine Vorsehung, auch an ein Schicksal im Sinne von Vorherbestimmung zu glauben, war ich physiologisch unfähig. Alle sogenannten geistigen Schicksalsmächte beurteilte ich von Kind auf als Ausflüchte feiger Phantasie, als ein wenig Besseres, als jenen verächtlichen Idealismus, welcher die Wirklichkeit nicht sehen will, so wie sie ist und sie verurteilt, sobald sie seinen Vorurteilen widerstreitet, welcher Entscheidung er zumeist mit Lüge und Verdrängung vorbeugt. Schon in meiner Kindheit hatte mich das Sterben wilder Tiere am meisten erschüttert: noch heute steht er vor mir da im Abglanz der untergehenden Novembersonne im kahlgefrorenen Moor — jener riesenhafteste Elch-Hirsch, welchen je mein Vater erlegte; das gewaltige, eigentlich vorweltliche Tier, das nicht begriff, dass es tödlich getroffen war und mit dem Ausdruck schmerzhaften Staunens hochaufgerichtet in die Welt hinausschaute, bis dass es plötzlich in sich zusammenbrach. Solches Schauspiel, nur solches, löste ähnliche Gefühle aus in mir, wie sie die Darstellung von Schwäche gegenüber dem Leid in so vielen Literaturbeflissenen weckt… Da vernahm ich den Schrei Unamunos. Und wie mit einem Schlage ward mir klar, was ich in unbewusster Tiefe immer gewusst hatte: das Tragische, das einzig echte Tragische liegt in der unlöslichen Spannung zwischen dem, was der Mensch mit dem dumpfen Tier gemein hat und seinem freier Wahl und freier Entscheidung fähigen Geist. Und das letztlich Tragische dieses Tragischen wiederum liegt darin, dass diese unlösliche Spannung die Grundlage des Menschenlebens überhaupt ist.

Die Grundlage: sie birgt kein vom Geist her lösbares Problem. Nicht einmal ein Problem, das sich vom Geist her stellte. Verachtung ergriff mich, seitdem ich als Geist einigermaßen erwachsen war, allemal, wenn ich, was, ach! so häufig geschah, Menschen begegnete, die im Leiden die letzte Instanz sahen, im materiellen Wohlbefinden ein Ideal, welche die Krankheit und gar den Tod aus der Welt schaffen wollten. Alles dieses Traurige gehört doch zur Basis des Menschenlebens, es ist ganz selbstverständlich tapfer zu ertragen. Wer solches nicht akzeptiert, der ist nur dann geistig ernst zu nehmen, wenn er mit Buddha das Aufhören des Lebens will und mit äußerster Kraftanspannung und vollkommenem Mute dahin strebt. Andererseits nun aber ist zuzugeben: es ist schwer und wirklich nicht jedermanns Sache, sich einzugestehen, dass die unlösliche Spannung zwischen Geist und Erde im Menschen überhaupt kein Problem enthält: man muss im hohen Grade bewusst noch Tier sein, oder aber von sehr bewusst gewordenem Geiste her zur richtig gesehenen und anerkannten Tierheit zurückgefunden haben, um es zu können. Einen insofern tierhafteren Geist nun als Unamuno hat es lange nicht mehr gegeben: deswegen dringt sein Schreien und sein Stöhnen — denn eben das ist seine sogenannte Philosophie — dermaßen tief in Geist und Seele ein.

1926 lernte ich dann Miguel de Unamuno kennen. Er lebte damals als Verbannter und doch nicht Verbannter in Hendaye. Ich lud ihn nach Biarritz ein; mehrere Tage lang leistete er mir Gesellschaft. Der Mensch erwies sich als eben das, was ich gefühlt hatte. Unamuno erschien mir nicht allein elementar, erdhaft, volkhaft, vollkommen unliterarisch, unproblematisch im Sinne üblicher Philosophie: sein endloses, über die Maßen wiederholungsfreudiges Reden war eine Art Flucht vor sich selber oder eine Ausflucht oder aber eine absichtlich monoton gehaltene Begleitmusik zu dem, was ihn in Wahrheit bewegte. Ununterbrochen lauerte er in sich hinein. Er wirkte manchmal bauernschlau gegenüber der eigenen Seele. Und sein eulenartig starrer Blick, der über die scharfe Nase hinweg das Nichts fixierte, konnte auch dem nicht-Wissenden verraten, in welcher Region Unamuno eigentlich lebte. Tiere reden nicht miteinander; so konnte Unamunos Gespräch unmöglich wesentlich sein. Auch aus seinem noch so geistreichen Monologisieren sprach seine Tiefe nicht; denn diese Rede war, ich sagte es schon, mehr Ausflucht als Ausdruck. Nur aus letzter Einsamkeit heraus, wenn er der anderen Menschen vergaß, konnte er sein Eigentliches geben. Dann und dann allein galt von ihm das, was ich 1926 im 12. Heft des Weg zur Vollendung über ihn schrieb:

Unamuno ist, soweit ich urteilen kann, bei weitem der größte Spanier seit Goya. Er wird fortleben als einer der größten seines Landes. Denn aus ihm reden recht eigentlich die Eingeweide Spaniens und insofern jedes Menschen. Jeder der Töne, die er anschlägt oder singt, ist tief, stark und zeitlos bedeutsam. Er gehört zu den wenigen Unbedingten der Geistesgeschichte, was um so mehr bedeutet, als Unamuno unglaublich viel weiß und sogar gelehrt ist, wie nur wenige Moderne. Wie alle Menschen seiner Art ist Unamuno monoman und könnte maniakal enden, wenn das Schicksal ihm noch lange die äußere Tragödie auferlegt, und erst recht, wenn er je dazu gelangte (was Gott verhüte), eine politische Rolle zu spielen. Er ist nicht nur kindlich, sondern vielfach kindisch unüberlegen, in seiner Wesensart baskischer Bauer durch und durch. Aber welche Elementarität und welche Tiefe! In spanischer Umdeutung ist er den größten Russen vergleichbar. Jeder Ton, der von ihm ausgeht — und neuerdings sind es wirklich hauptsächlich Töne im buchstäblichen Sinne, religiös-metaphysische Dichtungen von großer Wucht — klingt aus dem Innersten des Menschenlebens, ja der Erde herauf. Seiner Töne sind freilich wenige. Aber gerade sie sind in dieser Zeit von höchster Bedeutsamkeit. In einem Zeitalter der Relativierung, der Nivellierung, der Rationalisierung, des Chauffeurwerdens kann eine große und tiefe Einseitigkeit, die nur vom Tragischen, vom Unbedingten, vom Irrationalen, vom Glauben, vom Blute weiß, davon jedoch aus der Vollmacht voll bewusst gewordener Wirklichkeit kündet, als Gegensatz unbeschreiblich fruchtbar wirken. Und der Gegensatz gehört in dieser polar geordneten Welt zum Satz organisch hinzu.

Alles dieses wirkt bei Unamuno eindrucksvoller, weil er als Mensch gar nicht bedeutend scheint. Er war eigentlich ein kleiner Mann; das Format seiner Persönlichkeit war gering. Persönlicher Magnetismus und Strahlkraft fehlten ihm in merkwürdigem Grad. Und trotzdem! Die ganze Tiefe der Welt steht eben hinter jedem, und sie kann aus jedem sprechen, welchem ein Gott gab, zu sagen, wie er leidet.

Von Unamunos Bedeutung als Dichter will ich hier nichts sagen: an anderer Stelle habe ich gezeigt, inwiefern er zeitweilig, oder genauer sporadisch, beinahe michelangeleske Züge aufweist. In diesem Abschnitt sei nur noch Unamunos Sterben gedacht, welches wenige Monate vor der Zeit erfolgte, da ich vorliegendes Kapitel in Angriff nahm. Alle Spanier sind kritisch, über-kritisch, doch sind die meisten dabei ganz schlechte Kritiker. Das ist, weil ihre Kritik selten anderes ist als ein Ausdruck der traditionellen maldicencia española; von keinem Volk der Welt hört man so oft so üble Nachrede — aber andererseits bedeutet sie nichts; wer einem öffentlich die Ehre abschneidet, mag gleichwohl treuester Freund sein. Diese maldicencia ist ihrerseits wohl Ausdruck der envidia española, des unter Spaniern selbst berüchtigten spanischen Neides. Doch auch der ist als Neid nicht tief. (Worin seine mögliche Tiefe liegt, verdeutlicht am besten der folgende Passus aus Unamunos Tragischem Lebensgefühl

Eine furchtbare Leidenschaft ist diese unsere Sehnsucht, dass die Erinnerung an uns, wenn möglich, vom Vergessen errettet würde, dem andere anheimfallen. Hieraus entspringt der Neid, gemäß der biblischen Erzählung die Ursache des Verbrechens, mit dem die Geschichte der Menschen anhub: der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain. Es war ein Kampf um Brot — es war ein Kampf ums Fortleben in Gott, in der göttlichen Erinnerung. Neid ist ein tausendmal Furchtbareres als der Hunger, denn er ist geistlicher Hunger. Wenn das, was wir das Problem des Lebens heißen, das Problem des Brotes, je einmal gelöst würde, dann würde unsere Erde zur Hölle verwandelt werden, indem dann eine viel gewaltsamere Form des Kampfes ums Fortleben einsetzen müsste…).

Wie wenig der spanische Neid sogar im Extremfall bedeutet, beweist, ohne es zu wollen, die folgende boutade José Ortega y Gassets, die ich einmal in Toledo von ihm hörte:

Anderswo mag ein Bischof einen Bischof beneiden und ein Stierkämpfer einen anderen Stierkämpfer: dass aber ein Bischof auf einen Torero eifersüchtig wäre, das gibt es nur bei uns, und bei uns ist es die Regel.

Hier handelt es sich um jene allerprimitivste Eifersucht, wie sie auch Hunde kennen. So nahmen es alle spanischen Geistigen, welche nicht selber große Persönlichkeiten waren, Miguel de Unamuno zeitlebens übel, dass er, wie sie genau wussten, groß war, und schimpften allezeit weidlich über ihn. Aber andererseits suchten sie ihn niemals zu vernichten, wie dies so oft die Absicht des so viel böseren deutschen Neides ist. Im Grunde entspricht spanische Kritik, und sei sie dem Wortlaut nach noch so grausam, beinahe durchaus dem, was die Szene in romanischen Ehen bedeutet: sie ist Sicherheitsventil und im übrigen liebe Gewohnheit; allen Teilen, würde eine gute Portion positivsten Lebensinhaltes abgehen, gäbe es die maldicencia nicht. Eben deshalb nun wird nach dem Tode eines Bedeutenden nicht auf einmal überschwenglich gut über den eben erst Geschmähten geredet, wie in Deutschland, wo der Tod allemal ein millionenfaches Uff! auslöst, nach welchem Anerkennung aller Vorzüge auf einmal selbstverständlich wird: nach seinem Tode wurde Unamuno genau so diskutiert wie vorher, und so bleibt er die ungeheuer lebendige Kraft, welche er war; er sieht sich nicht auf einmal auf jenes Sims heraufgestellt, auf dem bei uns in Gips die Goethe und Schiller bleichen. In der Zeit des Bürgerkrieges nun erwies sich Unamuno nicht allein mehr denn je als Spaniens größte geistige Figur: er erwies sich buchstäblich als einzige von solchem Format, dass sie Spaniens furchtbar-großen Schicksals würdig schien. Außer ihm waren alle bedeutenden Geistigen, früher oder später, ins Ausland verzogen, wo sie seither — schwiegen. Keiner schien auch nur zu verstehen, dass die Zeit des Liberalismus für Spanien unwiederbringlich um war, und dass dieser spanische Geist fortan nur in Südamerika Zukunft hatte. Keiner setzte sich irgendeiner Gefahr aus; was allenfalls an Kritik vernehmbar war, war oberflächliches Literatengewäsch. Unamuno nun blieb in Salamanca. Mehr als irgendeiner war er zeitlebens anti-Bourbon, anti-Militär und im spanischen Stile Linker gewesen. Nun erhob er die Stimme gegen die bolschewistischen Greuel. Aber wie ihn dann die Franco-Leute für sich beschlagnahmen wollten, da scheute er sich nicht, mit alter prophetischer Vehemenz auf die Gefahren und Übel der nationalistischen Bewegung öffentlich hinzuweisen. Die Generäle kochten auf. Aber wie es in solchen Zeiten den wirklich Mutigen immer geht: schließlich und endlich geschah Unamuno nichts. Er blieb bis zum Schluss der unbedingte Eiferer, der Vorkämpfer jenes einsamen Freien im Menschen, mit welchem echtes Mensch-Sein steht und fällt, und der bisher größte bewusste moderne Vertreter echt-tragischen Lebensgefühls. So ist Unamuno heute mehr denn je der Repräsentant von Spaniens Geist und Spaniens Seele.

Mir wurde Unamuno, wie gesagt, kaum dass ich seiner durch sein Buch vom Tragischen Lebensgefühl hindurch gewahr ward, zum weckenden Polarisationszentrum, oder in anderem auch zutreffenden Bilde zu dem Kristall zu viel, dank dem aus gesättigter Flüssigkeit alles gelöste Salz auf einmal ausfällt. Wie ich jetzt, da ich dies schreibe, 15 Jahre später, das genannte Buch wieder zur Hand nehme und nach dem suche, was ich darin vorzufinden glaubte, muss ich feststellen, dass dieses gar nicht, oder wenn, dann in ganz anderem Sinn als ich es meinte, drinsteht: so blitzartig schnell muss bei der ersten Lektüre das Formwerden des Eigenen eingesetzt haben. Was z. B. in mir im Sinnbild von Unamunos Nadismus (wovon später mehr) fortlebt, ist ein ganz anderes, als was er darunter verstand. Für Unamuno sind alle großen Taten Kinder der Verzweiflung und nicht Etappen der Selbstbehauptung des schöpferischen Geists, ist die universelle Liebe das paradoxale Endergebnis des salomonischen Gefühls von der Eitelkeit aller Dinge und nicht der Höchstausdruck schenkender Tugend (einmal definiert er gar: Liebe ist resignierte Verzweiflung!); vor allem aber bedeutet das tragische Lebensgefühl diesem wesentlich katholischen Menschen, sofern er sein ursprüngliches Erleben richtig deutet (was keineswegs notwendig ist), beinahe dasselbe wie Gott-Hunger. Mein eigenes sehr anders geartetes tragisches Lebensgefühl hatte zuerst in der Darmstädter Tagung Spannung und Rhythmus des Herbstes 1922 (also bevor ich mit Unamuno bekannt wurde) Gestalt gewonnen, nicht jedoch explizite als solches. Die erste Explikation in der Herausstellung bedeutet die Tagung des Jahres 1924 (Werden und Vergehen), zumal mein Vortrag Geschichte als Tragödie. Aber von 1923 ab rang ich bewusst in mir um das Ja-Sagen zu einem tiefst-Eigenen in mir, von dem ich vorher buchstäblich keine Ahnung gehabt hatte, und hierbei wirkte das Bild von Unamunos Grund-Erleben, wie es transfiguriert in mir fortlebte, allezeit als stärkster Polarisator. Es ist dies vielleicht das Merkwürdigste am Menschenzustand, dass es den Menschen nicht nur gegeben ist, durch Beachtung oder Nicht-Beachtung, Beleuchtung oder Nicht-Beleuchtung dieses oder jenes in sich zur Dominante zu erheben oder abzublenden, sondern dank als solchem nicht erkannten Vor-Urteil ehrlich aus anderen Voraussetzungen heraus zu leben, als sie seinem Da- und Sosein wirklich zugrunde liegen. Hierher rührt die Paradoxie, dass die Geschichte überhaupt vom Irrtum zur Wahrheit führen kann. Tiere irren nicht, sie sind sich selbst gegenüber niemals unaufrichtig; Menschen hingegen gelangen nur im idealen Grenzfall über Irrtum und Lebenslüge hinaus. Jüngst las ich von einem uralten Märchen, es war wohl indischen Ursprungs, in dem es heißt, es habe eine Zeit gegeben, in welcher sich der Löwe für ein Schaf hielt. Solange dies der Fall war, benahm er sich durchaus als letzteres. Da erklärte ihm ein anderes, zufällig hinzugekommenes Wesen, dass er tatsächlich nicht Schaf, sondern Löwe sei: von Stund’ an begann er sich als Löwe zu gebärden. Dieses grotesk-monumentalen Bildes muss ich gedenken, wenn ich von meiner heutigen Bewusstseinslage her auf die Jahrzehnte zurückblicke, während welcher ich ehrlich Wesentlichstes in mir ignorierte. Das Allererstaunlichste an diesem Zusammenhang aber ist wohl dies, dass es nach durchschauter Selbsttäuschung trotzdem selten nötig ist, irgendein früher Geleistetes oder Vertretenes zu verleugnen. Bekehrte tun dies in bezug auf ihr früheres Leben oft: nötig hätten sie es nie. Saulus war die notwendige Vorstufe des Paulus, nicht nur persönlich, sondern sogar weltanschaulich. So war mein früherer Optimismus nicht verfehlt: dessen Grund-Sinn und Nerv, der Glaube, dass es dem Menschen möglich ist, vom Geist her die ganze Natur und das ganze Schicksal zu meistern, ist wahr. Deswegen habe ich die Grundlehren der Schule der Weisheit richtig vertreten können, bevor mir der wesentlich tragische Charakter des Menschenloses bewusst geworden war, weil das Leben als Kunst oberhalb der Ebene möglicher Tragik seinen Ort hat; das Überspringen einer Etappe und das nicht-Berücksichtigen eines Zustandes änderte nichts am Ziel. Aber freilich konnte ich selbst, als persönlicher Mensch, über ein sehr vorläufiges Stadium nicht hinauswachsen, solange ich so Wesentliches in mir nicht erkannte und nicht anerkannte. So verläuft das Leben des geistigen Menschen wohl in der Regel von der Vorwegnahme zur Erfüllung, von dieser zu neuer Vorwegnahme und so fort. Die Jugend nimmt meist schon das Alters-Ziel im Bilde vorweg, und alles spätere Leben führt von Umweg zu Umweg, von dem jeder gleichwohl den jeweils kürzest-möglichen Weg zum Ziel bedeutet.

Wenigstens liegen die Dinge so, wenn ein Mensch nach Selbstverwirklichung strebt. Aber wer tut das? Eine Frau erinnerte mich daran, ich hätte ihr schon 1906 gesagt, Philosophen interessierten mich nicht, weil sie nicht verkörpert wären. Tatsächlich haben fast alle modernen Philosophen ihr ganzes Leben auf der einen schmalen Ebene der Theorie ausgelebt. Aber ebenso einseitig leben die, welche sich ausschließlich einer anderen Ebene in sich verschreiben: der persönlichen Liebe, der Gemeinschaft, dem Beruf, dem sachlichen Interesse, dem Glauben, ja dem Tod. Nur in einem Fall bedeutet solch’ einseitiges Leben nicht Verdürftigung: wenn der ganze Mensch in engem Raum zusammengepreßt erscheint. In diesem Falle ist die Einseitigkeit nicht das Ergebnis des Abstrahierens, sondern der Verdichtung. Solche Verdicktete sind all’ die starken Einseitigen gewesen, die in der Geschichte Stoß- und Werbekraft bewiesen haben. Das waren in erster Linie die als Menschen wahrhaft großen Puritaner. Und da die gemeinten starken Einseitigen allesamt zweifellos dichter waren als die meisten bisherigen weiten Menschen, und da Verstand von aller Substanz Dichtigkeit fordert, wenn er ihr Dasein anerkennen soll, so ist es kein Wunder, dass enge Herzen, enge Seelen und enge Geister bisher die meiste Macht ausgeübt und die stärkste Werbekraft ausgestrahlt haben: ja, dass wieder und wieder das Vorurteil geherrscht hat, das Enge sei mehr als das Weite. Das ist es nicht. Wie ich’s im Puritaner-Kapitel schilderte, empfand ich für meine Person vor aller engen Borniertheit von jeher solchen Horror, dass ich bis in mein vierzigstes Lebensjahr hinein jeden Charakterlosen höher stellte als jeden Charakterfesten, sofern in jenem die Möglichkeit zur weiteren Entfaltung lebte und in diesem nicht. In der Reisetagebuch-Zeit, da ich mich zum Proteus-Ideal bekannte, sah ich im Charakter überhaupt, so wie das Wort meistens verstanden wird, nichts als Beschränkung. Und auch heute denke ich grundsätzlich ebenso, da ich im Menschen, so wie er heute ist, ein zu Überwindendes sehe und in der absoluten Weltoffenheit das einzig echte menschliche Generalideal. Darum können mir die Werte, die sich auf Behauptung oder Durchsetzung des Menschen beziehen, so wie er heute ist, unmöglich letzte Worte bedeuten. Aber die längste Zeit meines Lebens war ich mir über den Grad der menschlichen Komplexität nicht klar; ich forderte Weltoffenheit auch dort, wo solche ausgeschlossen ist, und begriff nicht, dass eben auch Dumpfes und Enges und Unerleuchtetes und Tierhaftes und ganisch Böses untrennbar und unüberwindbar zum Menschenwesen gehört. Ich begriff es nicht, so sehr ich dieses Dumpfe und Enge und Unerleuchtete in mir selber wallen und drängen spürte. Sicher hätte ich den Zusammenhang unter allen Umständen irgend einmal durchschaut. Aber in meinem Fall war es, noch einmal, das Bild Miguel de Unamunos, das mir den Weg zur Selbsterkenntnis wies. Seither aber ist mir das Spanische überhaupt zum Entwicklungsfördernsten und zugleich zum Gegenstand der größten Liebe geworden, die ich je Kollektivitäten gegenüber empfunden habe. Hier ist denn der Ort, jenen bedeutsamen Jahren, die ich innerlich fast ganz auf Spanien eingestellt war, eine längere Betrachtung zu widmen. Diese Betrachtung wird ein Exkurs sein, aber angesichts der ungeheuren Bedeutung des Spanischen für mich ist sie in diesem Buch auch künstlerisch gerechtfertigt.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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