Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

IX. Victoria Ocampo - Mutterliebe

Im Jahre 1939, wie ich das wundersame Buch des Afrikaners Eugène Marais Die weiße Ameise las, hat mir nichts — sogar der Ausbruch des damals nur sogenannten Europäischen Krieges nicht — einen tieferen Eindruck gemacht, als des Verfassers meiner Ansicht nach geglückter Nachweis dessen, dass die Mutterliebe in der Natur durch den Schmerz des Gebärens ausgelöst wird. Wo das Gebären schmerzlos verläuft, dort gäbe es, laut Marais, keine Mutterliebe. Das (auf der Darwinisch gedeuteten Stufenleiter der Organismen) erste nachweisbare Beispiel menschenähnlicher Anhänglichkeit an die Brut böten die Skorpione, die trotz besonders scheußlich ausgesprochener Insektenhaftigkeit eine säugetierähnliche Psyche besäßen. Alles Weitere und Nähere lese man bei Marais nach. Sein experimentum crucis stellte er mit vollem Erfolge mit Antilopen an: beim Gebären narkotisierte Mütter empfanden gar keine Liebe, die bei bewusst gebärenden Weibchen dieser Tierart besonders zärtlich ist und weigerten sich gar, ihre Kleinen als die ihren anzuerkennen.

Seither hege ich den Verdacht, dass die Lockerung des Familienzusammenhangs bei Europäern und vor allem Amerikanern auch mit der Anästhesie zur schweren Stunde zusammenhängt. Doch wie dem auch sei: auch sonst bietet das Menschenleben der Beispiele genug, die im Geist der weitestverstandenen Marais’schen Theorie am einleuchtendsten erklärbar scheinen; ja es bietet deren so viele, dass mir der Zusammenhang zwischen Geburtswehen und Mutterliebe, seitdem ich von ihm erfuhr, zum Sinnbild geworden ist für den Zusammenhang von Natur und Geist überhaupt. Der Entjungferer eines Mädchens bindet dieses bei primitiver Psychologie und monogamer Anlage beinahe automatisch an sich; dies gilt sogar gegenüber dem Vergewaltiger, so dass sich Groddeck einmal zur Behauptung verstieg, nur in der Vergewaltigung sähe das Urweib einen echten Liebesbeweis. Erwiesenermaßen gibt es heute noch innerhalb verfeinertster Kreise südlicher Rassen Frauen, die, wenn es zum von ihnen selber ersehnten Äußersten kommen soll, Vergewaltigtwerden fordern. Wer sich in diesem psychologischen Augenblick nicht zur Brutalität entschließen kann, verliert sie. Jedes normal organisierte Weib der Erde wird mit der Mutterschaft automatisch anders, als es war; neue Triebe und Fähigkeiten werden zu Dominanten. Sogar den Mann, der seine tiefsten Seelenregungen nicht überhört, was freilich viele tun, denn Betriebsamkeit macht taub, bindet Besessenhaben an eine bestimmte Frau; dies erklärt nicht allein so manche irrsinnige Heirat, sondern vor allem auch die besondere Wollust der Grausamkeit, die viele Männer beim Verlassen kürzlich noch heiß begehrter Frauen fühlen.

Gehen wir nun von hier aus unmittelbar zu scheinbar rein seelisch bedingten Zusammenhängen über. Ganz allgemein schafft Leiden um einen Menschen tiefste Bindung an ihn. Und in den Tiefen der Menschennatur ruht auf dem Leiden an sich ein so positiver Akzent, dass der Unterschied zwischen denn doch so wesensverschiedenen Umständen, ob einer um, an oder durch einen Menschen leidet, wieder und wieder verschwimmt. Darum wird Härte dem Mächtigen selten verdacht, im Gegenteil: sie weckt Ehrfurcht und von dieser her Liebe. Sogar Grausamkeit kann binden: nur so erklärt sich die Apotheose Lenins sowohl als die immer wieder zu beobachtende Neigung, grausame Herrscher zu entschuldigen oder zu rehabilitieren. Dies hat ähnliche psychologische Gründe, wie das Vergöttertwerden gerade kalt-grausamer Schönen. Man verderbe sich das mögliche Erleben unheimlicher Naturuntergründe nicht durch wegerklärende Etiketten, wie hier die des Masochismus; solche Etiketten werden der Sache nie gerecht, geschweige denn deren Sinn. Worauf es für das Verständnis ankommt, ist der unzweifelhaft bestehende Zusammenhang zwischen Positivstem und Negativstem, zwischen Höchstem und Niedrigstem. Leiden-Machen ist an sich immer ein Böses und meist Gemeines. Meister Eckhart sagt nun in seiner wahrscheinlich schönsten Predigt, derjenigen von der Abgeschiedenheit:

Nichts ist so gallebitter wie Leiden, aber nichts so honigsüß wie Gelittenhaben. Dieser Satz folgt dort auf den anderen: Niemand genießt so viel ewige Seligkeit, als die mit Christo in der größten Bitternis stehen, vor diesem aber steht das berühmte Wort: Das schnellste Roß, das Euch zur Vollkommenheit trägt, ist Leiden.

Letzteres nun wird dann erst richtig und wahrhaft verstanden, wenn man es mit dem Erwachen menschenähnlicher Mutterliebe beim Skorpion durch Gebärschmerzen zusammenschaut. Körper, Seele und Geist sind gewiss nicht eins noch je auf einen Nenner zu bringen. Sie hängen jedoch gesetzmäßig zusammen und dies zwar auf andere Weise, als meines Wissens bisher erkannt worden ist. Ich selber habe in den Meditationen und im Buch vom persönlichen Leben auch nur eine Auseinanderlegung der Bestandteile des Menschenwesens vorgenommen; den Zusammenhang habe ich bisher zu meiner Befriedigung in Begriffe zu fassen nicht vermocht. Denn offenbar wäre hier eine solche Theorie sinngerecht, welche Protisten, Siphonophoren, Termitenhügel und Menschen von einem Gesichtspunkte aus verstehend zu überschauen gestattete.

Was auf diesem äußerst schwer verständlichen Gebiet an echter Einsicht lebt und wirkt, tut dies beinahe ausschließlich im Körper undiskutierter Überlieferung. Als Beispiel berufener Verkörperer solcher nenne ich nur, gemäß dem Prinzipe pars pro toto, die instinktsichere Mutter, die ihre Tochter vor vorzeitiger Erfahrung behütet, den Heerführer, für den seine Leute sterben wollen, den Meister der Asketik, der seinen Gläubigen den Weg zur Naturüberwindung weist. Die Mutter, welche ihren Töchtern die Unschuld bis zur Heirat bewahren will, verkörpert die Weisheit der Natur. Diese erscheint bei allen höheren Tieren victorianisch gesinnt; es besteht überall eine klare Zäsur zwischen Jungfrau und Frau, jede lebt sich auf besonderer Ebene aus, und das Weib, welches hier der Natur folgt, wird nicht allein glücklicher, sie erreicht höhere Vollendung als jedes nicht besonders individualisierte und höher begabte Wesen, welches aus Aufgeklärtheit die Norm der Natur nicht anerkennt. Der erste Mann, dem sie sich hingibt, bindet sie wirklich. Das erste Kind schafft unauflöslichen Familienzusammenhang. Lösen nun die Naturphasen ihre normalen seelischen Entsprechungen aus, dann rundet sich das Familienleben meist zu glückhafter Schönheit. Man gedenke nun dessen, dass in ihrer Natur geborgene Frauen auch während der furchtbarsten Katastrophen das Vertrauen in die Zukunft nicht verlieren; dass sie, in Alfred Webers Worten, dem schauerlichsten Schicksal zureden und es damit wirklich zähmen. — Der vergötterte Heerführer wiederum ist nie der sanfte und schonende: es ist der gerechte, der dabei mit selbstverständlicher Strenge größte Opfer fordert. Hier ist es die u. a. den äußersten Seeleneinsatz heischende Härte, welche im Rahmen der Gerechtigkeit die Geführten an den Führer bindet. Der Meister der Asketik endlich weiß, dass der Mensch als geistiges Wesen ursprünglich wachsen will und dass das weltüberlegene Selbst in Funktion der Naturüberwindung wächst, von bestandener Probe zu bestandener Probe, von standhaft getragenem Leid zu standhaft getragenem Leid, von besiegter Trägheit zu besiegter Trägheit. Er also fördert durch harte Behandlung der Natur die innere Freiheit, und das ist es, warum der geistliche Meister, so hart er sei, von allen Vorbildern am meisten verehrt und geliebt wird. Auf dem Gebiete dessen, woselbst das Freie entscheidet oder auf der Ebene des ach! so seltenen wahrhaft freien Menschen gibt es nur freiwilliges Weiterkommen. So weckt der Meister der Asketik nicht den Sinn für die Naturnorm mittels des Vorbilds der guten Sitte wie die Mutter im Falle ihrer Töchter, er bändigt die Natur auch nicht durch äußeren Zwang, wie der Heerführer durch eiserne Disziplin, sondern er appelliert stetig an den freien Entschluss, den unter Umständen ein Gelübde festhält. Wer nicht vorankommen will, dem nützt freilich keinerlei Yoga. Auf dem Gesamtgebiete des Freien gilt das, dessen tiefstes Sinnbild der Schächer am Kreuze darstellt, welchen der Sohn Gottes selber nicht erlösen konnte, weil er die Tore seines Herzens vor ihm verschloss. Doch sogar auf diesem Gebiete hat nur ganz selten einer sein Ziel erreicht, dem die Natur nicht mit- und nachhalf. Ganz selten hat ein Meister echter Berufung entscheidende Wandlung ohne den Druck schwerer Schicksalsschläge erreicht oder ohne den Kampf mit großen Schwierigkeiten, die ihm seine eigene Natur bot. (Vom Standpunkt des Selbstes, welches das Subjekt des Freien ist, besteht zwischen unglücklicher Anlage und widrigen äußeren Umständen kaum ein Unterschied.) Dies ist so sehr die Regel gewesen in aller bisherigen Geschichte, dass C. G. Jung so weit geht zu behaupten, niemand wolle sein eigenes Höchstes, der nicht zu ihm als einzigen Weg hinangezwungen würde, als dem einzig denkbaren Weg aus Leid und Drangsal hinaus. Ich erinnere hier an die ergreifende Erzählung vom Vetter Alfred Keyserling (in Graf Alfred Keyserling erzählt) aus der Zeit seiner Gefangenschaft in der Peter-Paulsfestung im Jahre 1914, wo er jeden Augenblick der Erschießung gewärtig war: wie er völlig verzweifelte, da wurde ihm urplötzlich die Gnade zuteil, als Seele seinen Körper verlassen und leidlos auf ihn herabschauen zu können aus jener Zimmerecke oben an der Decke, in welcher in griechisch-orthodoxen Häusern die Ikone hängen. Jung übertreibt natürlich: ohne Zweifel war das Streben aller großen geistlich Strebenden primär. Wohl aber scheint auch für die meisten ihrer soviel zu gelten, dass sie ohne schweren Druck von außen oder innen kaum über den kritischen Punkt, jenes Unstetigkeitsmoment in der Entwicklung, welcher mit dem Augenblick der Verwandlung des Wassers in Dampf vergleichbar ist, hinausgelangt wären, der den vollendeten Überwinder vom ringenden Menschen trennt. Gleiches gilt natürlich oft schon von kritischen Punkten geringeren Grades. Daher die künstlichen Schwierigkeiten, mit welchen jede asketische Praxis arbeitet. Die wissenschaftlich fassbare Ursache der Notwendigkeit, dass Naturdruck das freie Streben des Geistes unterstütze, ist wohl die, dass das Unbewusste dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich und botmäßig ist. Jenes reagiert nur auf leibhaftiges Erleben, nicht auf vorgestellte Bilder, nicht auf Einsicht, auch nicht auf künstliche Schwierigkeit. Beim höheren Menschen liegt trotzdem auch im Falle größter Bedrängnis durch die Außenwelt, die sich nachher als Förderung erwies, der Nachdruck auf dem Freien: entweder er beschwört selber die realen Schwierigkeiten, oder aber er nutzt sie, wie dies kein anderer täte, indem er den Nachdruck ganz und gar auf das Erleben legt und die darin beschlossene Möglichkeit neuer Sinnesverwirklichung, und nicht auf den möglichen Weg, aus seiner Bedrängnis persönlich herauszugelangen; oder endlich, er leidet an (objektiv geurteilt) Geringfügigem so tief und so schwer, dass es augenscheinlich sein Subjektives ist, auf dem hier aller Nachdruck ruht. Man gedenke des übertriebenen Sünd- und Unzulänglichkeitsbewusstseins jedes echten Heiligen. Schon auf der sehr viel niedriger gelegenen Existenzebene, die ich bisher erreicht habe, gilt gleiches: ich bin um ein Vielfaches sensitiver geworden als ich es in meiner Jugend war, ich leide hundertmal mehr — doch beinahe gar nicht mehr an äußerer Widrigkeit, sondern an meiner eigenen Unzulänglichkeit, insonderheit der, dass mich Äußerliches noch aus dem Gleichgewicht bringen kann. Ganz unwillkürlich schreibe ich bei allem mir selbst die Schuld zu; denn augenscheinlich vermöchte mir nichts Äußeres mehr etwas anzuhaben, wenn ihm keine Bereitschaft der Seele entspräche. Je mehr nun ein Mensch naturgebunden ist, desto mehr ruht der Akzent tatsächlich auf dem Äußerlichen. Von Millionen von Menschenmüttern, sogar unter hochgezüchteten, gilt gleiches, wie von Tierweibchen. Da aber sogar bei primitiven Menschen, welche in keiner Weise, in Jesu Worten, das Leben in sich haben, im Fall von Mutterliebe und Vergleichbarem, so wie bei Männern in selbstaufopferndem Kampf, unzweifelhaft Sublimes in die Erscheinung tritt, so ist nicht abzuleugnen, dass auf niederen Stufen des Lebens, wo noch kein Freies die Entwicklung von sich aus lenken kann, so etwas wie eine prästabilierte Harmonie Harmonie zwischen Natur und Geist besteht. Mir liegt, notabene, gar nichts am Begriff prästabilierte Harmonie, der mir nur eine erste Annäherung an später schärfer zu Fassendes bedeutet, noch an irgendeiner Theorie überhaupt, aber ich rate andererseits meinen Lesern, den vorgeschlagenen Begriff als Sinnbild der Wahrheit anzunehmen und ihn nicht zu zergrübeln; es ist nun einmal so, dass für sich sinnlos scheinendes rein äußerliches Geschick die Entstehungsbedingung von Sublimem sein kann und dass unter allen Umständen ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen Natürlichem und Geistigem besteht. Nicht jedem passiert Gleiches, nicht jeder erfährt durch Gleiches gleiche Förderung oder Schädigung; irgendwie entsprechen einander Freiheit und Notwendigkeit, Zufall, Verdienst und Gnade allemal.

Betrachten wir nun andere Beispiele des gleichen Grundverhältnisses. Ob man an die gleichsinnige Lehre aller hohen Religionen glaube oder nicht: es ist das Richtige, so grotesk dies Gesetz der reinen Vernunft erscheine, dass der Mensch sein Brot verdiene; nur der innerlich sehr Hochstehende kann vom Bettel, von Geschenken oder auch nur ohne soziale Gegenleistung irgendeiner Art von seiner Rente leben, ohne dass seine Seele Schaden nähme. Andererseits fühlt jeder Normalmensch, welchem durch andere Gutes erwiesen wurde, den inneren Drang, sich dafür erkenntlich zu erweisen, und zwar mit materiellen Gütern. Dies ist das Wesentliche: die Dankbarkeit als solche schafft kein Gefühl voller Befriedigtheit. Der Segen der Arbeit, des sogenannten ehrlichen Verdienstes und der gerechten Vergütung lässt sich meiner Ansicht nach überhaupt nur so erklären, dass ein ursprünglich gegebener Zusammenhang zwischen Materiellem und seelisch-Geistigem besteht. Eben darum verbildet Müßiggang jeden, der nicht zu edler Muße fähig ist, welche Fähigkeit freilich ein Wertvolleres bedeutet als der innere Zwang zu dauerndem Beschäftigtsein. Wie innig der Zusammenhang zwischen Materiellem und Geistigem ist, beweist zumal der Fall des echten geistigen Schöpfers. Dieser strömt freilich frei und rein aus; von sich aus will er nur schenken. Und dennoch beansprucht jeder instinktiv, von seiner Kunst auch leben zu können; er empfindet es als Widersinn, wenn er darben muss. Ja im Grunde erwartet jeder geistig Begnadete aus seinem Unbewussten heraus — wie anders sein Verstand auch urteilen möge — einen materiellen Gegenwert für den verschenkten inneren Reichtum zu erhalten. Zum allermindesten erwartet er Ruhm (nicht Anerkennung: das Souveränitätsbewusstsein des seiner selbst gewissen Schöpfers empfindet ausgesprochene Anerkennung beinahe als herabwürdigend; jedenfalls eine Anerkennung, die nicht von Ebenbürtigen käme); Ruhm ist aber auch höchster Reichtum, denn der Seele bedeutet er den höchstmöglichen irdischen Besitz. Hier nun aber erweist sich eine bestimmte Reihenfolge als einzig sinngerecht, und dies erweist vollends, dass ich berechtigt war, den Zusammenhang von Mutterliebe und Geburtswehen als allgemeines Sinnbild hinzustellen. Materielle Leiden und Opfer müssen dem geistigen Gewinn vorangehen; wer Hohes zu geben hat, darf nicht an erster Stelle nach Gewinn streben. Wer bei seiner Kunstausübung zuerst an Lohn, beim Heilen ans Honorar, bei der Askese an die durch dieselbe zu erlangende Macht, überhaupt wer zuerst an Vergütung denkt, nimmt Schaden an der Seele, und zwar nur um eine Nuance weniger als wenn er sich bestechen lässt. Der prostituiert sich nämlich — und von der Liebe her erscheint der ganze Sinn des Zusammenhangs auf einmal klar. Jede seelisch entwickelte Frau will erst lieben, ehe sie sich hingibt und sie tut Recht damit, denn die Folgen der Umkehrung für die Seele sind desaströs; hier besteht sogar ein nur geringer Unterschied zwischen Versorgungsheirat und Hurentum. Aber genau so prostituiert sich der an erster Stelle an Lohn denkende Künstler, Lehrer, Arzt. Prostitution bedeutet nun nichts anderes als Perversion; die normale Ordnung erscheint in ihr Gegenteil verkehrt. Und zwar gilt dies, wie die seelischen Konsequenzen beweisen, völlig objektiv. Folglich gibt es eine normale Ordnung, und deren Verkehrung wirkt sich desto verhängnisvoller aus, um je Tieferes es sich handelt. Politiker können sich ohne schlimme Folgen Laster und Verbrechen leisten, weil Politik als solche ein Unterweltliches ist. Doch wer seine Liebe verkauft, verkehrt Reines in Schmutziges, wer als Schriftsteller um der Bezahlung oder seiner Stellung willen lügt, verdirbt; wer die höheren Kräfte, welche Spiritualisierung auslöst, eigennützig anwendet, wird satanisch. Dass also in der Natur ähnliche Etappen und Stufen vorgebildet sind, wie sie die asketische Praxis erfunden hat, unterliegt überhaupt keinem Zweifel.

Besonders lehrreich in diesem Zusammenhang ist das nur ganz ausnahmsweise fehlende Zusammenbestehen von Höherstreben und zwar gerade von idealem Streben und Geltungstrieb. Die unselige Sippe der Charakterologen hat hier dem modernen Menschen besonders schwere Verständnishindernisse in den Weg gelegt und eine üble Saat in die Seelen der allermeisten Deutschen gesät; denn man deutet nicht Hohes als niedrig, ohne dass dies auf den Deutenden zurückwirke. Die Charakterologie, zum mindesten die von Klages inspirierte, hat — ob beabsichtigterweise oder nicht, gleichviel, hier entscheidet das ursprüngliche Sein und nicht das bewusste Wollen — alles nicht weltabgewandte Streben zu entwerten versucht im Geist des nichts als der Psychoanalyse. Ich kenne aber keinen Fall in der gesamten Geschichte, wo intensives Streben nicht starke irdische Wurzeln gehabt hätte und die sind Geltungstrieb und Ehrgeiz, mit ihren Korrelaten der Eifersucht, der Machtgier und des Siegenwollens; letztere aber erscheinen, losgelöst, in jedem Fall, auch in dem eines eifrigen Gottes als Negativa. Auf Erden geht es eben ohne die Entsprechungen des Hohen auf niederen Ebenen nicht. Ohne Wurzeln in der Unterwelt keine Dynamik, ohne Mitwirkung von Urhunger und Urangst keine Selbstbehauptung. Eben darum waren die meisten späteren Heiligen unterwegs dahin besonders kräftige Sünder — ich brauche den Wortlaut im Hinblick auf Luthers Rat, kräftiglich zu sündigen. Alle großen Künstler waren eifersüchtig geboren und alle großen Herrscher, die nicht als solche schon geboren wurden, machthungrig bis zur völligen Skrupellosigkeit.

Wenden wir uns nunmehr, nachdem wir die Triebentsprechungen des geistig Hohen mit Beispielen aus vielen Sphären belegt haben, zur gegenseitigen Beziehung von Natur und Geist auf dem Gebiet von Eros und Sexus zurück. Hier herrscht ursprünglich die äußerste Gegensatzspannung zwischen sublim und niedrig Erscheinendem. Es hat keinen Zweck zu behaupten, die Tatsachen des reinen Geschlechtslebens seien vom ursprünglichen Empfinden der Seele und von der spontanen Forderung des Geistes her gesehen, nicht häßlich und die höchsten Äußerungen der Liebe seien nicht sublim, weil sie mit den für niedrig geltenden zusammenhängen und umgekehrt. Hier müssen, so man verstehen will, alle üblichen Verkleidungen und Verbrämungen fallen. Ich weiß, Frauen ist es ihrer Natur nach beinahe unmöglich, da sie sich ursprünglich mit ihrem bekleideten und geschmückten, nicht mit ihrem nackten Leibe identifizieren, entsprechende Verbrämung nicht in allen das Intime berührenden Fragen zu fordern — treiben sie Nacktkultur, dann bedeutet ihnen eben die Nacktheit, weil dies die Konvention der herrschenden Mode fordert, Kleidung. Darum lügen Frauen von ihrem Standpunkt aus auch nicht, wenn sie noch so irreführend idealisieren; die nackte Wahrheit ist Männersache. Darum sei zunächst dem später Auszuführenden das Folgende vorbemerkt. Die üblichen Redensarten über die Heiligkeit der Mutterliebe sind Schwindel; da hat C. G. Jung recht, wenn er behauptet, Frauen assoziierten nicht so oft das Wort Liebe mit Heiligkeit, wenn sie nicht Unheiliges meinten und es ihrem Bewusstsein akzeptabel machen wollten. Vom Standpunkt unbestochener Erkenntnis her geurteilt bedeutet es recht eigentlich Schindluder treiben mit dem Begriff der Heiligung, wenn durch ein Sakrament das Natürliche als solches zu einem anderen werden soll als es ist. Als solches ist das Natürliche immer nur natürlich. Jedoch ein anderes ist wahr: durch bestimmtes Natürliches hindurch kann sich rein Seelisches und rein Geistiges ausdrücken. Es ist eine richtige Transfiguration des Natürlichen möglich und zwar ist solche Transfiguration in diesen bestimmten Fällen in der Natur vorgebildet. So ist alle höhere Gemeinschaftskultur, alle tiefere Liebe, alle Desinteressiertheit, alle Opferfreudigkeit, alle Barmherzigkeit, alle Gnade im Gegensatz zum Recht und letztlich alles das, was wir als Manifestation des Göttlichen auf Erden empfinden, seinem Ausdrucke nach präformiert in der Beziehung zwischen Mann und Weib und Eltern und Kinder.

Doch die Ein-Bildung des geistig und seelisch Höchsten in das Natürliche braucht nie stattzufinden. Die meisten Verliebten sind bloße Triebwesen und die meisten Menschenmütter nicht mehr als Muttertiere; und dies zwar von vornherein und immerzu. Findet aber eine Verkörperung des Geistigen im Natürlichen statt, dann währt sie selten. Daher die instinktive Ablehnung aller Naturbande seitens geistlich Strebender. Die Begeistung des Natürlichen ist ein der Inspiration des Dichters verwandter Vorgang. Und was an ihr als Dauererscheinung, das heißt unabhängig von Begabung und Stimmung festzuhalten ist, wird durch Überlieferung und Konvention, das heißt durch geist- und seelengeborene, nicht durch natürliche und unabhängig von der Zustimmung des Geistes bestehende Bindungen festgehalten. Daher das sofortige Verfallen aller Sitte und Sittlichkeit, sobald bestimmte Glaubensformen sterben, die dem Natürlichen einen bestimmten geistigen Sinn verliehen. Nichtsdestoweniger ist und bleibt, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich, um die Wahrheit einmal in ihrem katholischen Ausdruck zu fassen, die ganze Schöpfung ursprünglich Gott zugeordnet. Daraus aber kann nur folgen, dass Natur und Geist keinesfalls in dem schroffen Sinn voneinander geschieden und unterschieden sind, wie dies zumal die westlich-christliche Philosophie behauptet. Die übliche schroffe Scheidung hat ihren Wahrheitsgehalt und Grund zugleich darin, dass der Mensch fähig ist für rein Geistiges und rein Seelisches Sonderausdrücke zu schaffen, die nun als Erscheinungen sonderlicher Art neben den Naturerscheinungen leben. Aber diese Erscheinungen haben andererseits, von der Natur losgelöst, wenig Macht. Sie nehmen, vom Mittelpunkt des Lebens aus beurteilt, einen exzentrischen Ort ein; nur auf diesen zurückbezogen erscheinen sie vitalisiert. Das bedeutet es, wenn eine Idee oder Theorie nur durch den Glauben an sie und persönliche Interessiertheit zur Macht wird. Die stärksten Geistesmächte sind aber immer die, die sich durch sämtliche Schichten des Menschenwesens hindurch manifestieren. Echte Vergeistigung bedeutet darum nicht Loslösung von der Natur, sondern deren vollkommene Durchdringung.

Ich fürchte, dass es dem Verstande nie gelingen wird, diesen Zusammenhang begrifflich wirklich das heißt für ihn selber ganz verständlich zu fassen. Mir scheint aber, dass man dem Verstehen doch viel näher kommen kann, als bisher gelang, wenn man den Zusammenhang von Natur und Geist aus dem Gesichtswinkel des Gesetzes der Korrelation von Sinn und Ausdruck (s. Schöpferische Erkenntnis) betrachtet und zwar zusammengeschaut mit der Lehre vom Weltalphabet einschließlich Weltgrammatik und -syntax, dessen Buchstaben und deren Normen allezeit die gleichen bleiben, mittels derer jedoch das Allerverschiedenste gesagt werden kann. Selbst im Falle geistigster Liebe zwischen Mann und Weib schafft erst der naturhafteste Ausdruck ihrer das Gefühl vollkommener Erfüllung. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von der Mutterliebe; es scheint unmöglich, ein Adoptivkind genau so tief zu lieben, wie ein selbstgezeugtes und -geborenes. Selbstverständlich gibt es höchste und tiefste und wesentlichste Erlebnisse, die nicht Entsprechungen in allen Schichten des Menschenwesens haben oder fordern. Aber selbst hier leidet das Geistige unter Beziehungslosigkeit zur Natur. Kein Abstraktes ist Konkretem ebenbürtig. Nur auf Empirisches bezogene und diesem gerechtwerdende Erkenntnis ist nicht irreal und ergreift den ganzen Menschen; reiner Idealismus ist ein vom Leben Abgeschnürtes, Wirklichkeitsungerechtes und hoffnungslos unfruchtbar; wer in Deutschland so leicht als Idealist gepriesen wird, ist meist genau der gleiche, den der realistische Franzose kurz und bündig einen esprit faux heißt. Ohne dass persönliche Interessiertheit und insofern Haften an den Naturuntergründen vorläge, ist, außer beim seltenen Weltüberwinder, auf kein selbstloses Interesse Verlass. Weltüberwindung gelingt wiederum nur bei genauer Befolgung der Weltgesetze. Sogar die souveränste Eroberung des Schicksals kann sich nur auswirken mittels des amor fati, dessen vorbildlicher Vertreter nicht der Stoiker ist, sondern der mit der Natur tief Verbundene, welcher alles, was ihm zufällt, unbefangen als ihm zugehörig hinnimmt. Nicht anders steht es mit dem höchsten Gottvertrauen im Verhältnis zum unbefangen-selbstverständlichen Hingegebensein an den Weltprozess. Die Lehre von der Schöpferischen Erkenntnis behauptet nun weiter, dass es wesentlichen Fortschritt nur nach innen zu gibt; jeder verwirklichte Sinn kann zum Sinnbild eines tieferen Sinnes werden, der in ihm vorgebildet liegt; insofern kann man sagen, dass dem in Raum und Zeit ausgebreiteten Kosmos in der Dimension der reinen Intensität ein Geisteskosmos eingebildet sei, der durch das Weltalphabet hindurch realisiert werden kann. So wird im Grenzfall die Naturnotwendigkeit zum angemessenen Ausdruck reiner Freiheit, gleichwie die konventionelle und durch strengste Regel gebundene Sonettform die persönlichste Inspiration des großen Dichters nicht hemmt, sondern ihr zur Selbstverwirklichung hilft. Die Welt ist also letztlich, um einen treffenden Ausdruck Otto Flakes zu übernehmen, ein konzentrisches Phänomen. Inwiefern dies so ist, kann jeder für sich in der ihm entsprechenden Sphäre realisieren. Je tiefer einer einen ihn innerlich wirklich angehenden Geistesinhalt meditiert, desto tiefere Sinneshintergründe tun sich ihm auf, welche zuletzt über die Person weit hinausreichen, doch dieser zutiefst nicht nur genau so, sondern in wesentlicherem Sinne zugehören, als oberflächliche Gefühle und Erkenntnisse, ja das liebe Ich überhaupt. Jede Realisierung tieferen Sinnes erteilt aber dem gleichgebliebenen Oberflächlichen eine neue und wesentlichere Bedeutung. In allen Fällen aber ist die Erlebnis- und Erkenntnisfülle desto größer und beglückender — und im gleichen Verhältnis größer erscheint des Menschen Macht —, je konzentrischer er sich im oben bestimmten Sinne einstellt. So liegt denn die wahre Aufgabe des Menschen, wie ich dies schon im wichtigsten Abschnitt des Amerika-Teils des Reisetagebuchs bestimmte, nicht in immer schärferer Scheidung zwischen Natur und Geist und immer differenzierterer Herausarbeitung der verschiedenen Schichten und Teile des Menschenwesens, sondern umgekehrt in einer Integration, welche die Ganzheit und Einheitlichkeit, welche vor dem Sündenfall bestand, auf höherer Ebene wiederherstellt. Diese Möglichkeit aber ist, wie mir dies zuerst das Beispiel der Skorpionmutter klar machte, in der ungeistigsten Natur schon vorgebildet.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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