Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

III. Wandel der Reiche

I. Bewusstseinslagen und Welthorizonte - Weltoffenheit

Das Wort Bewusstseinslage verwende ich, soweit ich mich erinnern kann, erst seit dem Reisetagebuch. Aber wäre ich auf das, was es besagt, als Kind aufmerksam gemacht worden, schon damals hätte ich es verwenden dürfen. Denn schon damals erlebte ich unmittelbar als erstes, in intuitiver Zusammenschau, den Gesamtzustand einer Seele. Wobei ich gar nicht darauf kam, auf Höher- oder Minderwertigkeit den Nachdruck zu legen: ich erlebte einfach, ohne zu urteilen, die gegebene Verschiedenheit. Noch heute urteile ich so selten als irgend möglich, da ich im Gefühl der Berechtigtheit, zu richten, die ungeheuerlichste aller Anmaßungen sehe; wenn ich richte, so tue ich’s bei voller Bewusstheit meiner Subjektivität und bei vollem Bekenntnis zu ihr, insofern das Richten eben auch zum unvermeidlichen Diskriminieren gehört, ohne welches Selbstbehauptung des Differenzierten ausgeschlossen ist. Da ich nun als Kind so über die Maßen sensitiv war, dass mich das geringste Missverstehen, als welches allemal Aberkennung der Identität bedeutet, zur Verzweiflung brachte und mich ein einziger böser Blick leicht in Tränen ausbrechen ließ; da ich wegen dieses Ausgeliefertseins an Eindrücke mich ursprünglich allem, was mich stark affizierte, rein physiologisch unterlegen fühlte, andererseits aber eine äußerst privilegierte Stellung innehatte, so ergab sich daraus als Kompromiss im Unbewussten ein Urgefühl, dass alles Geschaffene in seinem Sosein gleich existenzberechtigt ist. Dieses Urgefühl war überhaupt nicht moralisch qualifiziert: weder verurteilte ich die Giftschlange, noch denjenigen, welcher sie totschlug. Ekel und Abscheu kannte ich nicht; einen exklusiven Menschenfresser hätte ich als Kind nicht anders beurteilt, als einen exklusiven Vegetarier, und ich fürchte, dem wäre noch heute so. Allenfalls wäre mir letzterer schon damals unsympathischer gewesen. Denn der Mensch ist von Hause aus kein Pflanzenfresser, schon gar kein Rohköstler, sondern, darin wie in so manchen Hinsichten dem Schweine verwandt, ein Allesfresser, und zu dem, was er nun einmal ist, soll er sich auch bekennen. Denke ich nun an die Jahre meiner Kindheit zurück, wo ich mit der Hand lebendige Kreuzottern fing und diese, leider vergeblich, zutraulich zu machen suchte, so erkenne ich heute, dass ich sogar Schlangen damals ganz selbstverständlich als gleichberechtigte Seelen erlebte. Sie befremdeten mich nur wegen ihrer unwahrscheinlichen Stumpfheit. Hier gedenke ich zumal jenes Pythons, von welchem ich mich (was mir beinahe sehr schlecht bekam) in Ceylon umschlingen ließ: dieses Geschöpf beißt nicht, wenn oder weil es böse ist, sondern es wird böse, wenn es gebissen hat, so dass man es mehr oder weniger gut erhalten kann, wenn man es durch Festhalten des Kopfes am Zubeißen hindert. Nachdem ich mir aber 1929 in Südamerika meiner eigenen Reptilität bewusst geworden war, jenes Kaltbluts, welches allem Warmblut als unterste Schicht des Lebendigen zugrundeliegt, konnte ich auch Kaltblüter differenziert verstehen. Seither beeindruckt mich immer mehr, eine wie große Rolle das Kaltblut auch im Menschenleben spielt, zumal auf den Gebieten der Politik und des Geschäfts. Andererseits ist mir jetzt ganz deutlich geworden, wie sehr das Kindesbewusstsein dem des mythenbildenden Urmenschen gleicht, welcher im Tier eher ein höheres als ein niederes Wesen sieht, einfach weil Verstehen keine Gleichung zwischen beiden Seelenarten schafft; welcher in Schlangen Götter schaut, mit Drachen richtigen Krieg führt und gekränkte Tiere eifriger zu versöhnen trachtet als gekränkte Menschen: da keine Verständigungsmöglichkeit besteht, so sind jene potentia gefährlicher. Ursprünglich aber dominierte in mir, wie gesagt, das Gefühl der Gleichberechtigtheit alles Geschaffenen und das war der Keim meines späteren Strebens nach einem kosmischen Standpunkt und meiner späteren Höchstbewertung der Weltoffenheit. In dieser habe ich, in der Tat, lange bevor ich es wusste, mein Ideal gesehen, weil ich, gleichfalls lange bevor ich es wusste, — erst im Weltfrömmigkeitskapitel des Buchs vom persönlichen Leben habe ich den Sinn meiner Einstellung, die auf Überwindung des bisherigen Menschenzustands hinzielt, einigermaßen befriedigend zu bestimmen gewusst — nur das Fortwachsen der Seele und nicht die Festigkeit eines bestehenden Zustandes, so schön dieser sei, damit den christlichen Impuls fortsetzend, als das Eine, was not tut anerkenne und von meiner ursprünglichen Stellung im Kosmos her anerkennen kann. Das Kämpfen für bestimmtes Feststehendes ist und war nie meine Sache. Lasse ich nun am Bewusstsein des über-Sechzigjährigen als kinematographenartige Bilderserie vorüberziehen, was ich von Kind an am Kontakt mit anderen Seelen empfunden habe, so kann ich die folgenden allgemeinen Feststellungen machen. Absolut eingeleuchtet haben mir überhaupt nur die Bewusstseinslagen wilder Tiere, weil diese allein eine richtig angesetzte und gelöste Gleichung zwischen Subjekt und Umwelt kennzeichnet. Unter Menschen hat mir seit beinahe zwanzig Jahren keiner mehr wirklich eingeleuchtet, weil mir seither keiner mehr begegnet ist, welcher der Norm der Weltoffenheit und der inneren Freiheit genügend entsprochen hätte. Früher war das natürlich anders. In meinen Entwicklungsjahren leuchteten mir zunächst einmal alle ein, deren Grenzen ich nicht überschaute, weil ich sie mir überlegen fühlte. Später projizierte ich von Etappe zu Etappe mein Ideal auf den Menschen unter den vielen, welche in irgendeiner Hinsicht weiter waren als ich, von dem ich fühlte, dass Polarisierung mit ihm mich am schnellsten über meinen jeweiligen Zustand hinausführen würde; von meinen frühesten Meistern war im ersten Bande dieses Werks ausführlich die Rede. Stelle ich heute nun aber die Frage der Richtigkeit der Bilder, die ich mir von ihnen gemacht habe, so sehe ich, dass ich diese Bilder eben gemacht habe, als poietés, Macher, wie die Griechen den Dichter sinngemäß hießen, und muss zugeben, dass sie häufig alles eher als richtig waren. Auch an Menschen lebte ich damals, wie ich zugeben muss, recht skrupellos meine Neigung und Befähigung aus, mir die Umwelt, derer ich bedurfte, in der Phantasie zu schaffen, falls es sie nicht wirklich gab — gleichwie der indische Theaterdirektor zu Kalidasas Zeit die jeweiligen Kulissen durch Worte in der Phantasie der Zuschauer schuf, anstatt sie hinzustellen. Und dabei war ich mir, genau wie dies von echten Kindern beim Spielen gilt, ganz klar darüber, dass ich imaginierte, ohne dass dieses mein Erleben störte. Nur dass der Urgrund dieses Fabulierens bei mir nicht Spieltrieb, sondern das Bestreben war, durch Polarisierung mit den jeweils entsprechenden Gegenpolen über meine bisherigen Grenzen hinaus- und weiterzukommen. Es gibt zwei grundverschiedene Wege dahin. Deren einer ist der übliche des Lernens, des Aufnehmens, Behaltens und sich-Einverleibens von Fremdem. Da kommt es natürlich in allen Hinsichten auf Gründlichkeit und sachliche Richtigkeit an. Deren anderer ist der des sich-Polarisierens: auf diesem Wege des Vorwärtsschreitens und Zunehmens an Erfahrung kommt weder Lernen noch auch Lehren in Betracht, hier stellt sich die Frage der Richtigkeit überhaupt nicht, denn der eine Pol überträgt sich hier nicht auf den anderen und gibt ihm nichts, er löst in diesem das Eigene, jenem meist völlig Fremde aus. Genau in diesem Sinne habe ich später inspirativ oder spermatisch, wie ich es meistens heiße, gewirkt. Unter diesen Umständen war ich voll berechtigt, der Wirklichkeit durch Dichten in meinem Sinne nachzuhelfen. Die Tatsachen fälschte ich durch meine Art ins Leben hineinzudichten nie, nie bewusst wenigstens, aber ich betonte und überbetonte die Aspekte derselben, die mir etwas bedeuteten, worunter natürlich öfters solche waren, welche die anderen gerade nicht in sich betonten, und vor allem bezog ich alle Tatsachen in von mir her bestehende Zusammenhänge hinein. Und nie habe ich so idealisiert, wie es leider so viele tun, die sich für berechtigt halten, in einem Menschen enttäuscht zu sein, wenn er sich schließlich als ihrem Idealbild nicht entsprechend offenbart; in solcher Idealisierung, sofern das Bild niemals der Wirklichkeit entsprach, sehe ich eine der verbrecherischsten Formen von Gewissenlosigkeit. So bin ich auch nie im Leben im üblichen Sinne enttäuscht worden; ich habe mich von Kind auf dort meiner Urteilslosigkeit geschämt, wo fast alle anderen von oben herab mit gutem Gewissen entrüstet tun. Wohl aber hat mich diese meine Einstellung gezwungen, mit den allermeisten Menschen, mit denen ich persönlich zusammenkam, nicht auf der Ebene der empirischen Realität, sondern auf derjenigen meiner eigenen Dichtung zu verkehren. Und es ist nur zu verständlich, dass viele, welche die Vergewaltigung ihrer schließlich merkten, mir diese übelnahmen.

Hiermit gelange ich denn in letzter Zuspitzung ihrer Problematik zur Frage der Vorurteilsbedingtheit der meisten menschlichen Weltanschauung und Lebensgestaltung zurück. Ebenso unmittelbar, wie ich die Vollkommenheit des Tieres spüre und die des Gottes und des Übermenschen spüren würde, werde ich von der Irrtums- und Wahn-bedingten Bewusstseinslage und damit der Verzerrtheit des Welthorizonts der Menschen affiziert. Und so sehr ich mich zeitlebens bemüht habe, jede Bewusstseinslage in ihrem Sosein zu verstehen und so schließlich auch den Irrtum als Wahrheitsausdruck anzuerkennen — einen Wert habe ich trotz aller theoretischen Toleranz in vorläufigen Gestaltungen niemals sehen können. Und so bin ich wieder und wieder in Konflikte geraten dadurch, dass ich gerade das, worin die meisten das Wichtigste erblicken, nicht anerkannte und umgekehrt das Wesentliche in dem gesehen habe, was andere nicht allein nicht als wesentlich anerkennen, sondern kaum bemerken. So habe ich Standes-, Klassen- und behördliche Rangunterschiede ursprünglich nie als Unterschiede bemerkt und innerlich nie anerkannt. Jeder Mensch wirkt auf mich unmittelbar als die lebendige Ganzheit, die er ist. Insofern sehe ich unwillkürlich gerade dort Gleichheit, wo die meisten größte Verschiedenheit gewahren. Ein Diener oder Angestellter ist für mich in erster Linie gleichberechtigter Mensch. Alle Arbeit sah ich von Kind auf als gleichwertig und gleich achtbar an, höhere Leistung ohne entsprechenden Persönlichkeitshintergrund begründete für mich nie höhere Stellung. Umso schärfer bemerkte ich von jeher Niveau-Unterschiede im Gegensatz zu solchen des sachlichen Verdiensts und des sozialen oder dienstlichen Ranges, und jene bedeuten meinem Bewusstsein ein so Absolutes, wie wenigen anderen der Abstand zwischen König und Bettler. Wie sollte ich unter diesen Umständen zeitlebens nicht wieder und wieder in Schwierigkeiten geraten? Einmal ließ ich gemeinschaftlich mit einem Gutsnachbarn einen Grenzgraben ziehen und wie es dabei zu Differenzen kam, führte ich unbefangen die Autorität meines Buschwächters (baltischer Ausdruck für Unterförster) gegen die des Barons an. Ich fiel aus allen Wolken, wie dieser mich dann ob der angeblich bewiesenen Nichtachtung auf Pistolen forderte. Doch von Untergebenen bin ich wegen dieser meiner Einstellung nicht etwa mehr, sondern weniger als andere Herren geachtet worden, denn diese waren erst recht in Klassenvorurteilen befangen. Wenn einer schon Herr ist, dann soll er sich wenigstens durchaus als Herr gebärden, mochten sie denken; sonst vertragen wir das Dienstverhältnis nicht. In einer Behörde habe ich für mich nie ein anderes sehen können, als die Aktionsbasis für den persönlichen Menschen, welcher eine Entscheidung trifft und darum auch selbstverständlich als Person alle Verantwortung trägt, einen Unterschied zwischen Beamtem und Mensch kann ich für mich nicht machen. Es ist mir unfasslich, dass einer es über sich bringt, dienstlich für etwas einzutreten, das er persönlich missbilligt; im Falle eines Konfliktes zwischen persönlicher Überzeugung und Pflicht soll er eben gehen und gegenüber ökonomischen Erwägungen des Verses von Heines Grenadieren gedenken: Lass sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind! Ich erlebe eben jede Lebensform als unauflösliche Ganzheit und wenn ich einerseits die verschiedensten Ganzheiten als gleich existenzberechtigt anerkenne, so leugne ich andererseits aus unüberwindlicher Uranlage und reifster geistiger Überzeugung zugleich den positiven Wert jeder menschlichen Lebensäußerung, die keinen echten Ausdruck persönlicher Ganzheit darstellt. Für mich besteht die ganze Menschenwelt aus Persönlichkeitsmonaden verschiedenen Niveaus und verschiedenen spezifischen Gewichtes; diese Attribute sind es, die ich an erster Stelle wahrnehme und von welchen her oder auf welche hin ich unterscheide. Zweifellos urteile ich damit sinngemäß, denn nachträglich erweist sich alle menschliche Bedeutung ohne Ausnahme als Niveau- und Gewichtbedingt. Das hindert aber nicht, dass ich mich in dieser Hinsicht, seitdem ich in Deutschland lebe, vollkommen isoliert gefühlt habe. Und das Beglückendste an meinen Erlebnissen im Osten war für mich eben dies, dass ich dort sehr häufig unmittelbarer Niveau-Schau begegnet bin. Nicht so leicht verkennt ein überhaupt Geist-teilhaftiger Inder oder Chinese den Rang eines Menschen und selten schließt er von der äußeren Stellung auf das innere Niveau und umgekehrt. Bei den Völkern Europas begegnet man ursprünglichem Sinn für Niveau proportional deren angeborenem Aristokratismus. Aber dieser ist leider, wo noch vorherrschend, beinahe überall entartet. Der Engländer unterscheidet instinktiv nur zwischen dem, welcher ein Gentleman und dem, welcher keiner ist — und der Gentleman als solcher ist noch kein höherer Mensch. Der Franzose hat unmittelbaren Sinn nur für intellektuellen und literarischen Rang. Einzig der Spanier fasst in Europa noch selbstverständlich Ganzheit auf, weil er selber, als Typus von der Antike wenn nicht prä-Antike geprägt, noch wesentlich Ganzheit ist. Und einzig der Russe hat unmittelbaren Sinn für Echtheit, was mittelbar ursprünglichen Sinn für echte Werte bedingt. Jedes Mal, wenn ich von Pavianen lese, bin ich neiderfüllt. Bei diesen ersten Skizzen zum menschlichen Bilde eines Teufels stellt sich die Frage geistigen Niveaus ja nicht. Doch der Sinn für spezifisches Gewicht ist dermaßen hoch entwickelt, dass es überhaupt nicht vorkommen soll, dass nicht das jeweils mächtigste Männchen selbstverständlich, ohne vorhergehenden Wettbewerb, die Horde führt. Dieses alles erzähle ich nur skizzenhaft oder hingeworfenermaßen, um zu zeigen, wie viele ursprünglich vorhandene Bewusstseinslagen und Welthorizonte es gibt.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
III. Wandel der Reiche
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME