Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

III. Wandel der Reiche

I. Bewusstseinslagen und Welthorizonte - Ganzheit

Es wird wohl niemals festzustellen sein, wie sich ein physischer Typus irgend einmal in einen ganz anderen umgewandelt hat, was doch wieder und wieder vorgekommen sein muss. Indes mich deucht: vom erlebbaren Wandel der Bewusstseinslagen her sind wahrscheinlichere Analogieschlüsse zu ziehen, als aus der vollständigsten vergleichenden Überschau des Typenwandels im Verlauf der Erdzeitalter. Jede Seelenform ist in ihrem Sosein eine Ganzheit, und als Ganzheit verwandelt sie sich. Da jede Änderung eines Elementes wegen des Korrelationsgesetzes, welches alle organische Gestaltung regiert, sämtliche Elemente in Mitleidenschaft zieht, so versteht es sich eigentlich von selbst, dass es keine Übergänge gibt und sehr häufig phantastische Metamorphosen in die Erscheinung treten. Letztere finden sich in der Ontologie jedes Lebewesens in seiner Entwicklung vom Keim zur vollendeten Gestalt gespiegelt und in genauer Analogie dessen, was im Lauf der Jahrmillionen geschah, im Generationswechsel der Organismen, welche verschiedene Stadien durchlaufen. Bei all diesen Phänomenen nun besteht das Wesentliche darin, dass geschlossene Ganzheit auf geschlossene Ganzheit folgt. Das Archaische der Gestalten vieler Larven hat insofern genau den gleichen biologischen Sinn, wie das Archaische in der Kunst und das einfach-Starre der sozialpolitischen Lebensform junger oder verjüngter Völker. So irrsinnig es ist, Geistiges oder gar Spirituelles auf Biologisches zurückzuführen: die Verkörperung auch des Geistigsten geschieht allemal in der Körperlichkeit des Erdlebens und muss darum deren Normen widerspiegeln. Umgekehrt aber lässt sich von der Entwicklung des Geistigen her das biologische Werden am leichtesten verstehen.

Zur Illustration dessen sei wieder bei persönlicher Erinnerung angeknüpft. In meiner Kindheit leuchteten mir Vogel-, vor allem Raubvogelseelen am meisten ein. In ihnen spiegelten sich meine Elementartriebe reiner als in Säugetieren, vor allem als in Menschen. Unter diesen fühlte ich aus den gleichen Ursachen am frühesten Verwandtschaft mit Waldmenschen und Fischern; Gärtner konnte ich nicht leiden, wohl im Zusammenhang mit meinem Widerwillen gegen Gartenarbeit, und meine Sympathie für Ackerbauer war wenig größer. (Gleiches soll übrigens für alle Herren- und Eroberer-Völker charakteristisch sein.) Räuber hätte ich sicher geliebt, wenn sie mir je begegnet wären, dagegen fehlte dem Soldaten ob seiner für mein Gefühl künstlichen Diszipliniertheit jede Werbekraft in bezug auf mich. Das von vornherein Einleuchtende meiner Vorfahren, die ich als solche anerkannte, beruhte auf der Wiedererkennung des Eigenen, nur eben des künftigen Eigenen. Dementsprechend bin ich mit ungefähr vierzig Jahren nach manchem, biologisch als Generationswechsel zu verstehenden Umweg in deren Typus eingemündet. Überschaue ich nun auf einmal den weiten Weg vom Kameraden der Raubvögel zum Philosophen, den ich gegangen bin, so finde ich, dass aller Wandel in der Bewusstseinslage plötzlich eintrat: ein bis dahin Unbekanntes tauchte unerwartet in meinem Bewusstsein auf, eroberte es sodann — und bald war eine neue bis ins einzelne artikulierte Ganzheit da. So war ich 1902, nachdem ich Chamberlain begegnet war, ein völlig anderer als der Dorpatsche (oder wie es bei uns heißt: Dörptsche) Urbursch, unfähig geworden zu naher Beziehung zu denen, mit denen ich mich vor knapp zwei Jahren vorher am besten und selbstverständlichsten verstanden hatte; das waren alles ungeistige, wenn auch durchaus nicht dumme Menschen. Das bewusst- und dominant-Werden des verstehenden Geists in mir verschob so vollständig alle Proportionen, dass ich seither alles anders sah, erfuhr, erlebte und bewertete, weswegen alle vorher angesetzten Lebensgleichungen nicht mehr aufgingen. Diesen Verwandlungsprozess kennt jeder vom Auftreten seiner ersten großen Liebe her: alle Bedeutungsakzente verschieben sich, die Aufmerksamkeit, auf welche das meiste ankommt, zentriert sich um und nun ist es so, als seien plötzlich neue Seelenorgane da. Noch besser illustriert den gleichen Vorgang jeder Frau der Übergang vom Ichzentrierten jungen Mädchen zur selbstlosen Mutter. Wo es sich nun um geistige Wandlungen handelt, die nicht in phylogenetischer Bereitschaft vorgebildet sind, da erscheint das, was ich als neue Seelenorgane bezeichnete, zunächst nicht gefestigter als es Traumgestalten sind; darum ereignen sich Rückfälle und überwältigende Gegenbewegungen in einer Seele desto häufiger, je höher hinan sie sich entwickelt und vor allem, je schneller sie dies tut. Je länger indes seine Seelenorgane tätig sind und ihnen entsprechende psychische Gestaltungen herausstellen, an welchen die flüssige Psyche ihre sie einfassende Form finden kann, so wie dies sonst der Glaube an ein menschliches Vorbild oder an ein religiöses Dogma tut, desto mehr festigen, sie sich und so ist irgend einmal und meist überraschend schnell ein Dauer-Seelenzustand erreicht.

Das biologisch Wesentliche dabei ist nun, dass solche Veränderungen bis auf ganz seltene Ausnahmen ihren Naturgrund in äußeren Umständen haben, zu denen, von der Seele her geurteilt, auch die Folge der natürlichen Lebensphasen gehört. Freilich ist es so, dass nur das Äußere einen stark und tief berührt, zu dessen Auf- und Annahme innere Bereitschaft vorliegt; doch nachdem ich am Schluss des vorigen Paragraphen über diesen Punkt das hier Erforderliche gesagt, scheint es mir wichtiger, den Nachdruck auf die Notwendigkeit des Eingreifens äußerer Umstände zu legen, als auf die vorherbestehende Bereitschaft. Warum ich so urteile, ist wieder von der Liebe her am leichtesten einzusehen.

Freilich besteht bei jedem aus organischen Gründen zu bestimmten Zeiten Liebesbereitschaft: doch wem nicht die Richtige oder der Richtige begegnet (als welche freilich im Falle undifferenzierter Menschen niederen und mittleren Niveaus Tausende fungieren können) oder wer ihn oder sie nicht erkennt, der findet keine Erfüllung; was Höherbildung hätte einleiten sollen und können, wirkt nun verbildend oder zerstörerisch. Indes: bei dem festen Zusammenhang, in dem das individuelle mit dem kosmischen Werden steht, können sogar rein äußerliche Umstände ungeheure Bedeutung erlangen, so große, dass sie später aus dem persönlichen Schicksal gar nicht mehr herauszudenken sind. Hierfür bietet gerade meine Geschichte besonders lehrreiche Beispiele: besonders lehrreiche, weil das Äußerliche als solches meiner Seele ursprünglich so gut wie nichts bedeutet. Es war tatsächlich der an sich stupide Zufall der schweren Duellverwundung im Jahre 1899, dank der ich zum Geistigen wurde; vorher war meine physische Vitalität so ungeheuerlich, dass ich beim besten Willen nicht in der Lage war, mein Interesse auf Geistiges zu konzentrieren. Wie nun die Durchschneidung der Mammaria Interna meine Vitalität um gute siebzig Prozent geschwächt hatte, da zentrierte sich mein psychophysischer Organismus so rasend schnell auf den Geistesmenschen um, dass mich bald darauf meine Vorfahren kaum mehr wiedererkannten. Dank der gleichen Verwundung allein konnte ich mich einige Jahre lang als Ästhet einstellen, welcher Periode ich alle Verfeinerung danke, die ich erreicht habe. Meine ganze Entwicklung vom Verlassen Dorpats ab bis zur Vollendung des Reisetagebuches ist insofern die Frucht einer Duellverwundung, welche dadurch zustande kam, dass ich einen mir fremden Theologen durch ein gar nicht böse gemeintes Witzwort dermaßen reizte, dass er mir nach dem Leben trachtete. Die Darmstädter Phase ist in genau gleichem Sinne durch den äußeren Zufall des Verlustes von Heimat und Vermögen, die eine Neuzentrierung meiner Gesamtnatur erforderten, ausgelöst worden, und die Introversion ab 1937 durch die Unmöglichkeit, meiner Dynamik entsprechend weiter nach außen zu wirken. Diese Zusammenhänge sind samt und sonders ebenso zu verstehen, wie Liebeserlebnisse: ein neues, bis dahin mehr oder weniger latentes Element in mir wurde in Korrelation mit Äußerem bestimmend, und sogleich begann sich die frühere Ganzheit in eine neue Ganzheit umzuwandeln.

Genau so verwandeln sich auch Völker und Kulturen. sintemalen Wandel des Lebens Nerv und Norm ist, besteht bei jungen Generationen immer Bereitschaft zu zeitgemäßer Veränderung. Ob aber solcher eintritt, hängt von der Stärke der äußeren Einflüsse ab, deren allgemeinster und mächtigster die Not ist, und deren gestaltendster ein einmaliger großer Geist, welcher dem sinnlos Gewordenen neuen Sinn verleiht und der überdies genügend Strahlkraft besitzt, um die Menschen vom Unbewussten her trotz alles Widerstandes des Bewusstseins zu beeinflussen. Von hier aus übersieht man, scheint mir, gut, wie analog, wenn nicht identisch sich die Phänomenologie physischer und psychischer Metamorphosen darstellt. Es sind allemal einerseits übermächtige tellurische und kosmische Einflüsse gewesen, welche Neugestaltung als Extremausdruck der Anpassung erzwangen; andererseits aber waren in den verschiedenen Lebewesen allemal nur Bereitschaften bestimmter Art vorgebildet, von deren allgemeinem Sinne die Berufung, deren Vorhandensein die katholische Kirche beim Eintritt ins Kloster als Bedingung fordert, das Europäern einleuchtendste Sinnbild bietet. Und nun können wir auch die Frage der Erfüllung und des Glückes stellen und, soweit dies vorliegender Zusammenhang erfordert, lösen. Nur wo innerer Drang und äußerer Zwang harmonisch zusammenwirken, ist es je zu dauerhaften Neubildungen gekommen, welche allemal neuartige Ganzheiten waren. Auf der physischen Ebene bestimmt die Möglichkeit der Dauer so sehr alle Erscheinung, dass Übergänge außer als Embryonalphasen überhaupt nicht anzutreffen sind. Auf der psychischen, welche beim Menschen die eigentliche Ebene seiner Existenz ist, herrscht aber gerade das Vorläufige vor. Daher das Problematische des Menschendaseins . Es ist tief bedeutsam, dass der Mensch immer nur Götter oder wenigstens Halbgötter so vorgestellt hat, wie er sich selber selbstverständlich vorstellen würde, wenn in ihm die Möglichkeit der Vollendung des Tieres läge. Aber ebenso bedeutsam ist, dass die tiefsinnigsten Völker, wie die Inder, von Göttern insofern geringer dachten, als von Menschen, als jene sich nicht höher entwickeln konnten, und dass das Christentum die ganze Würde des Menschendaseins auf dessen Unvollkommenheit begründet hat. Als Erfüllung nun kann ein Mensch unter diesen Umständen nur die vom Standpunkt der ihm eingeborenen Aufstiegsmöglichkeiten letztmöglichen Ganzheiten anerkennen.

Dies erklärt die an sich paradoxale Tatsache, dass er normalerweise bei entsprechender Leistung in seinem letzten Alterszustand vor dem Verfalle seine Erfüllung sieht, obgleich diese an der Schwelle des Todes liegt. Glücksgefühl nun gibt nie das Dauerhafte und Endgültige, sondern gerade der schöne Augenblick, den man so gern festhielte, welcher nicht als innerlich notwendiges Stadium der Entwicklung, sondern aus Zufall kam. Darum kann es anderes als überraschendes Glück, dessen Schwinden gleichzeitig zitternd vorausgeahnt wird, nicht geben. Wie kommt es nun, dass kaum ein tieferer Mann von Wortgewissen in bezug auf sein noch so schönes Erleben je von Glück redet, während Frauen alles Erfreuliche als Glück bezeichnen? Es kommt daher, dass echten Männern an Erfüllung liegt, die ganz und gar von ihrer inneren Kraft abhängt, Frauen hingegen an dem, was ihrer jeweiligen Stimmung wohl tut und darum, da jede Stimmung ein Oberflächliches ist, nur von außen her kommen kann. Darum sollte man Frauen nicht wegen ihrer Wandelbarkeit und Untreue schelten, sondern die Pathetik dessen einsehen, dass gerade ihnen so viel mehr als Männern an dauernder Erfülltheit liegt, und dass die meisten gerade wegen der Unbeständigkeit aller ihrer Zustände treu sind.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
III. Wandel der Reiche
© 1998- Schule des Rades
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