Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

III. Wandel der Reiche

I. Bewusstseinslagen und Welthorizonte - Krieg

Es ist nun aber doch nicht so, dass bei untermenschlichen Seelen alles stimmte. Je tiefer einer Tiere versteht, desto gewisser wird ihm, dass von ihnen innerhalb der Grenzen ihres Typus das gleiche gilt, wie von Menschenseelen. Alle sind nur sozusagen als bestimmte Gestaltungen überhaupt festgelegt. Auch das niederste Tier reagiert von Fall zu Fall ein wenig anders und zeigt wenigstens Rudimente der Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, sich von der Psyche her veränderten Umständen anzupassen, von Überlegung und von freier Wahl. So gibt es auf allen Lebensstufen mehr oder weniger lebenstüchtige Individuen und mehr oder weniger glückliche Charaktere; und weit ausgesprochener noch als beim Menschen gibt es glückliche und unglückliche Schicksale. Man denke nur daran, wie wenige von den Myriaden ausgestreuter Samen von Pflanzen und niederen Tieren zur Entwicklung gelangen und wie vieler und zum großen Teile unwahrscheinlicher, weil im Begegnen ganz bestimmter anderer Wesen bestehender Zufälle es bedarf, damit ein Tier, dessen organisches Geschick im Generationswechsel besteht, das seine erfüllt! Ich denke hier zumal an eine festsitzende Art von Wanzen, welche nur dann, wenn eine Kuh so unter ihr vorbeikommt, dass sie auf sie herunterfallen kann, zur Fortpflanzung gelangt: auf das Eintreten dieses Zufalles soll sie unter Umständen siebzehn Jahre warten können. …Ferner stimmt alles bei Tieren schon darum nicht notwendig, weil die äußeren Umstände schneller wechseln als sich die Reaktionsart eines Typus ändern kann und weil Festgefahrenheit der geringsten Neuerung gegenüber hilflos macht. Wie wenig lebenstüchtig sind zum Beispiel gezähmte Tiere! Haustiere sind verloren, wenn sie der Hege des Menschen entlaufen und keine innere Möglichkeit besteht, sehr schnell in den wilden Urtypus zurückzuschlagen. Besonders eindrucksvoll äußert sich das gleiche bei den meisten in der Gefangenschaft aufgewachsenen wilden Tieren. Meine jungen Raubvögel zum Beispiel, mit der einzigen Ausnahme von Hühnerhabichten und Sperbern, griffen lebende Vögel überhaupt nicht an. Meinen zahmen Uhu sperrte ich einmal versuchshalber vier Tage lang mit einem Raben zusammen ein: der arme Nachtvogel verhungerte beinahe, während der weitergefütterte Rabe sich immer lustiger und dem aus der Art geschlagenen Uhu gegenüber immer verachtender und frecher gebärdete. Gleichsinnig setzten sich Bachstelzen und Schwalben, die sonst vor jedem nahenden Raubvogel beim ersten Bemerken seiner warnend die Flucht ergriffen, vertrauensvoll dicht neben meine jungen Wanderfalken, wenn diese sich auf dem First des Hauses niederließen. Aber bei allen Wesen, die wir kennen, außer dem Menschen, besteht letztlich nur die Alternative Sieg oder Tod, eine Alternative, die innerhalb des Menschenlebens nur im Fall des totalen Krieges vorkommt. Und da der Krieg keine natürlich-notwendige Erscheinung des Menschenlebens ist — Weltreiche des ältesten Altertums haben den Krieg überhaupt nicht gekannt und viel von diesem Zustand lebte in der Seelenverfassung Chinas bis zum großen chinesisch-japanischen Kriege fort — und der totale Krieg gar die jüngste und künstlichste aller Erfindungen ist, so darf man verallgemeinernd sagen, dass die Wahl zwischen Sieg und Tod überhaupt nicht zum normalen Menschengeschick gehört. Auch hier erweist sich der Mensch als das problematische Tier, insofern es für ihn keine einfachen und ein-für-alle-maligen Problemlösungen gibt. Genau besehen muss er sogar von Fall zu Fall mehrere miteinander unvereinbare Philosophien anwenden, um genügend Koordinaten zu gewinnen, die den gemeinten Mittelpunkt einigermaßen genau bestimmen, so wie die neueste Physik, um allen Tatsachen gerecht zu werden, sowohl die Undulations- wie die Korpuskulartheorie des Lichts als richtig anerkennen muss. Andererseits nun aber sind Menschen Tieren viel ähnlicher als die meisten merken. Auch der wandlungsfähigste, einfallsreichste und freieste, sogar der treuloseste Mensch reagiert und agiert seiner Eigenart gemäß. Was ihn grundsätzlich vom Tiere unterscheidet, ist, im Zusammenhang dieser Betrachtung geurteilt, der Umstand, dass ein Schwebezustand zwischen Sieg und Tod für ihn die Norm darstellt, und dass dabei der Gleichgewichtspunkt der Gefahrenzone so viel näher liegt, als derjenigen der Sicherheit, dass man ohne viel Übertreibung sagen darf: die natürliche Daseinsebene des Menschen ist die des Irrtums und des Wahns, wovon die bewusste Lüge in dieser Blickrichtung nur als Abart erscheint.

Woher nun diese Sonderstellung des Menschen? Daher, dass das eigentliche und das will sagen, geistig-seelische Leben des Menschen oberhalb des organischen Lebens verläuft, in dem er mit jedem anderen Lebewesen übereinstimmt. Ursprünglich erlebt der Mensch überhaupt nicht Tatsachen, ist sein Bewusstsein, wissenschaftlich beurteilt, ganz und gar auf Irreales bezogen; seine ganze Einpassung in die Natur und physische Umwelt geschieht vom Unbewussten her durch das, was die Biologie organische Regulation heißt. Hierzu ist auch die erste Verstandesbetätigung zu rechnen, worüber ich mich nicht weiter auszubreiten brauche, da das Kapitel Städter und Urnaturen das hier zu Sagende bereits impliziert. Zur Ergänzung und Erläuterung sei nur noch darauf hingewiesen, dass gemäß jüngsten gesicherten Forschungsergebnissen nicht nur das Haus der Schnecke und das Netz der Spinne, sondern auch die Schutzbedeckung vieler Seetiere durch selbstgesammelte Fremdkörper, ja der Nestbau der Vögel ebenso verstanden werden muss, wie im Menschen die Bildung des Skeletts. Der elementare Verstand, der sich am nächstliegenden Materiellen betätigt, arbeitet kaum unsicherer als der tierische Instinkt. Wie sehr Logik überhaupt zum elementar-Organischen gehört, ersieht man ferner daraus, dass beinahe jedem Gründe und Begründungen einfallen, wenn er einen Vorteil für sich erreichen will oder aber sich zu verteidigen hat, dass juristisches Denken nirgends so verbreitet ist, wie unter Negern, und dass beinahe jeder Verrückte von seinen Wahnideen aus mit untadelhafter Logik operiert. Mit dem überorganischen Leben allererst beginnen Irrtum und Wahn die Rolle zu spielen, welche das Menschenleben von dem des Tieres am deutlichsten unterscheidet. Hier nun ist der Primat des nicht-Natürlichen absolut. Nicht nützliche Arbeit, sondern zweckfreies Spiel ist der Urausdruck menschlicher Betätigung: nicht erkannte Naturgesetze, sondern (vom Standpunkt der Wissenschaft) willkürlich ersonnene Regeln, nicht zweckmäßige Handlungen, sondern Riten, auf welche beide zurückbezogen die Tatsachen des Lebens anderes bedeuten als sie von sich aus tun, umgrenzen die Ebene bewussten und als wichtig empfundenen Erlebens. Ja man geht kaum zu weit, wenn man behauptet, dass bisher nur gewissermaßen monströs geartete Menschenarten Tatsachen als solche bemerkt und ihre Lebensgestaltung auf sie eingestellt haben. Der Verzicht auf das spezifisch Menschliche, welchen diese Einstellung bedingte, hat allemal Verbildungen gezeitigt, welche den Menschen unweiser und böser erscheinen lassen als jedes Tier. Die Beherrschung der Natur dank Anpassung an deren Gesetze hat vorläufig zu einer ungeheuren Bedeutungssteigerung des Zerstörungspols im Menschenleben geführt, welche nahezu vollständig im Rahmen der zwei Lutherschen Kategorien des groben und des feinen Mordes zu begreifen ist. Unter letzterem verstehe ich die Schädigung des Lebens durch künstliche Eingriffe, deren schlimme Wirkungen erst nach und nach sichtbar werden. Wodurch denn erklärt wird, warum das Menschenleben erst durch den Sieg des Naturalismus im weitesten Verstand im großen Stil dem Bösen überantwortet worden ist. Noch in unserem Mittelalter waren nicht strategische und politische (von wirtschaftlichen zu schweigen), sondern moralische und religiöse Erwägungen letztentscheidend; so konnte es keinen totalen Krieg, keinen anerkannten Machiavellismus geben. Erst seitdem das Eigentum nicht mehr als heilig gilt, was es vom Naturstandpunkt zweifellos nicht ist, ist radikale Beraubung möglich. Erst seitdem der Mensch sich dem konstruierten Gesichtspunkt der Natur angeglichen hat, der das Individuum nichts, die Gattung alles bedeutet, ist Menschenwürde nicht die letzte Instanz. Darum sollte es mich nicht wundern, wenn des zeitweiligen Sieges der naturwissenschaftlichen Weltanschauung einmal als bösesten Falls in der Menschheitsgeschichte gedacht würde, als eines weit schlimmeren und tieferen, als es einstmals derjenige des lieben dummen, seiner Frau höflich nachgebenden Adams war. Die letzten Gedankengänge erscheinen mir so wichtig, dass ich ihren Sinn noch einmal zugespitzt zusammenfassen möchte. Die Akzentlegung auf die Tatsachen, die erst mit unserem XVI. oder XVII. Jahrhundert anhub, und zwar lange noch ausschließlich in Europa, bedeutet an erster Stelle Abkehr vom Geist, weshalb es natürlich ist, dass der Fortschritt immer mehr dem Verderben zuführt und an der theoretisch vorstellbaren Grenze mit Menschheitsselbstmord enden kann. Für den Menschen als wesentlich geistbestimmtes Wesen ist einzig normal, im Inneren und Innerlichen orientiert zu sein, von ihm sein Gesetz zu empfangen. Sobald er sich nach außen zukehrt, verlieren alle Gesetze und moralischen Werte ihren Grund, Halt und Sinn. Da tritt im geistigen Zusammenhang an die Stelle der Frage Warum unvermeidlicherweise schließlich die Frage Warum nicht und auf diese können keine festzustellenden äußeren Tatsachen die angemessene Antwort geben. So bleibt dem Geist bald nur eines: sich destruktiv zu äußern. Er kann somit nur entheiligen, entwerten, entgeisten, in innerlichen Wahrheiten kann er nur Vorurteil sehen. Damit zerfällt zwangsläufig früh oder spät alle Geist-Ordnung, das Leben verliert all seinen Wert und so wird der Mensch innerlich ohnmächtiger, je größer seine Macht auf der Ebene des Äußerlichen wird. Bevor er zum Selbstzerstörer wird, wird der Mensch so geistesblind, und damit erhält das blinde Schicksal eine Übermacht, die es in keiner abergläubischen Zeit jemals gehabt hat.

Das in bezug auf die äußere Natur Irreale in der Weltanschauung und Lebensgestaltung urtümlicher Völker war und ist allemal real in bezug auf die Seele und das metaphysisch-Wirkliche. Darum konvergiert das vorgeschrittenste religiöse Erleben und metaphysische Verstehen von jeder neuen Bewusstseinsganzheit her erneut, unter Überspringung der Zwischenstadien, mit Urüberlieferung. Man gedenke nur der urchristlichen Wesensschau im Vergleich zur differenzierten Geistigkeit der Spätantike, oder gar in dieser Weltkrise des Neueinleuchtens östlicher Weisheit einerseits und der heidnischen Ur-Realitäten vitalen Charakters wie Blut, Boden und dumpfes Schicksal andererseits. Aber beinahe alle Bewusstseinslagen, denen einer seit Jahrhunderten in Europa begegnen konnte, sind nicht durch Ur-Realitäten bestimmt, sondern durch Vorurteile. Dies beruht darauf, dass jede beginnende neue Einsicht von der Gana ergriffen und in noch so vorläufigem Stadium konsolidiert dem routinierten Prozess des Lebens eingeordnet wird. Wir zeigten oben, dass und wie jede neue Bewusstseinslage durch Einbruch eines neuen Elements, welches die bisherige als Ganzheit veränderte, zustandegekommen ist. Aus dieser Blickrichtung sind sogar organische Mutation und religiöse Bekehrung in einheitlichem Zusammenhang zu überschauen. So lange Zeit Bekehrung und Erleuchtung im Unbewussten vorbereitet gewesen seien: der Wandel selber geschieht allemal plötzlich in Form eines Unstetigkeitsmoments in der Entwicklung und verändert alsdann auf einmal den ganzen Menschen. Ähnlich hat auch der Artwandel zur Zeit der großen Weltkrisen zweifellos im Reich des Sichtbaren plötzlich stattgefunden. Besonders eindrucksvoll kennzeichnet solche Plötzlichkeit in kritischen Zeiten den Wandel der Bewusstseinseinstellung im Abstand von nur einer Generation, wobei sich die Wandlung auch hier im Mutterschoße des Unsichtbaren und Unbewussten vollzieht. Alle jungen Deutschen des Jahres 1940 erschienen gegenüber denen der Jahre nach dem Zusammenbruch als neuartige und dabei unter sich gleichgeartete Menschen, ganz einerlei, wo und wie die jeweiligen Eltern standen und welchen Einfluss diese auszuüben suchten. Offenbar ist es so, wie Hellseher von jeher behaupten, dass die Seele des Kindes bis etwa zum siebenten Jahre allen psychischen Einflüssen wehrlos geöffnet ist, so dass sie gar nicht umhin kann, sich orts- und zeitgeistgemäß zu entwickeln. In welchen Richtungen die Veränderungen erfolgen, hängt von den jeweiligen geistig-seelischen Dominanten ab. Mal dominierte der Glaube an religiöse Wirklichkeiten und Werte, mal die persönliche Überzeugung oder die theoretisch un-unterbaute Haltung; mal stellte die Ehrfurcht den Grundton dar, mal die Kritik. Seit dem Siege der naturwissenschaftlichen Weltanschauung wirken als Dominanten die bloßen Meinungen, die der das Äußerliche allein bemerkende Verstand aus den Ergebnissen unbeteiligter Beobachtung abstrahiert. Wobei auch die oberflächlichsten Meinungen gelegentlich zu aus tiefsten inneren Quellen gespeisten Glaubensdogmen werden: siehe das materialistisch gewordene Russland. Das alte Russland war ehrlich und tief christlich, ganz und gar auf spirituelle Werte rückbezogen. Seit jedoch…1 Auch die antibolschewistischen Russen, welche nicht in die Fremde auswanderten und darum echte Russen blieben, sind Kinder des bolschewistischen Zeitgeists, gleich wie alle Amerikaner, gleichviel wes Bluts, die in den Vereinigten Staaten schon geboren wurden, wesentlich Amerikaner sind: neue Dominanten schaffen eben eine vorherbestehende Ganzheit unentrinnbar in eine neue Ganzheit um.

Von den zeitgenössischen jungen Generationen her ist nun der Sinn der Vorläufigkeit aller spezifisch menschlichen Lebensgestaltung besonders deutlich einzusehen. Wohl keiner, der kein sehr großer Psychologe war, sah noch am Anfang des ersten Weltkriegs voraus, dass die Nachweltkriegsjugend in erster Linie kritikfeindlich werden würde. Und dennoch musste es so kommen. Das Leben verträgt einfach keinen Zustand, der keine geschlossene Ganzheit wäre. Wo die Ganzheit von einem festen Skelett getragen wird, ist ein hohes Maß von Oberflächenspannungen erträglich, weil diese in diesem Falle die Ganzheit nicht gefährden. Wo aber das Skelett fehlt und alles Gewebe noch zart ist, dort kann auf die leiseste Spannung Zerreißung folgen. Was nun das Erdenleben zusammenhält, ist unter allen Umständen die träge Gana und deren Eigengesetz greift desto schneller und gebieterischer ein, je mehr eine Ganzheit als gefährdet empfunden wird. Darum gerinnen junge Lebensformen so rasend schnell zu besonders mechanischer Routine, das klassische Beispiel hierfür bietet die nordamerikanische Psychologie. Da insofern das Grundstreben des Lebendigen auf Fixierung des Geistes geht, so kommt es, dass sich Irrtümer, Vorurteile oder sonstige Vorläufigkeiten nicht nur Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte, ja manchmal Jahrtausende länger erhalten als dies, vom Verstande her geurteilt, nicht nur notwendig gewesen wäre, sondern hätte möglich sein sollen: Einsicht als solche bedeutet eben den allermeisten Menschen nichts; erst wo sie, durch Gewalt aufgezwungen, der zwangliebenden Gana eingebildet und damit, psychologisch geurteilt, zum Vorurteil geworden ist, kann sie zur Dominante der Lebensgestaltung werden. In Ceylon unterhielt ich mich mit einem gebildeten hochmögenden Singhalesen über die respektiven Vorzüge der zwei verschiedenen Arten von landesüblichem Reisbau: mein Gesprächspartner begriff meine Fragestellung einfach nicht: die eine Art ist eben up-country-custom, die andere low-country-custom. Meine Mutter hatte als junge Frau die allergrößte Mühe, ihre Leute zum Essen von Elchfleisch, einem der besten Wildbrets, zu bewegen, was bei den vielen Elchen, welche mein Vater alljährlich erlegte und der Schwierigkeit von Absatz und Einkauf von auswärts im abgelegenen Könno eine Lebensfrage für ihren Haushalt war: lange wollten sie lieber gar kein Fleisch als Ungewohntes essen und sich mit der Hauptnahrung der damaligen Esten, Silkud (gesalzene Strömlinge) begnügen. Solche Vorurteile kommen aber meist durch Zufall zustande; so bin ich überzeugt, dass das folgende Erlebnis von mir als Sinnbild für die Entstehung vieler fester Lebensformen gelten darf. In meinem Hotel in Mandalay in Birma war das Essen dermaßen miserabel, dass ich selber auf den Markt ging, einzukaufen. Dort erstand ich spottbillig riesengroße Süßwasser-Langusten, welche nachher wunderbar schmeckten. Abends erzählte ich von diesen mir bis dahin unbekannten Tieren dem englischen Residenten. Erbleichend fragte er mich:

Sie haben sie doch nicht etwa gegessen? Jawohl, soweit ich mich erinnere, fünf oder sechs davon. Oh Gott, dann müssen Sie sterben…

Ich fühlte mich an jenem Abend besonders wohl und auch später ereignete sich nichts Übles. Wie ich dann feststellte, hatte das Vorurteil, dank dem kein Brite über fünfzig Jahre lang das beste Tier, welches im Irawaddy lebt, verspeist hatte, seinen Ursprung daher, dass bei den Kämpfen der Fünfzigerjahre ein englischer Soldat an einem Unterleibsleiden gestorben war, von dem es hieß, dass das Langustenessen die Ursache gewesen wäre. Fast immer bleibt die Aufmerksamkeit der Völker an dem, was ihnen eine Kuriosität scheint, haften. Und wahrscheinlich gehen unverhältnismäßig viele später sehr ernst genommene Dinge auf Komisches oder auf komisch Empfundenes zurück. Was einfache und ungebildete Menschen zuerst frappiert ist das, worüber sie lachen können; andererseits lachen sie aber über alles Ungewohnte. Wahrscheinlich hat Adam sich zuerst den Bauch gehalten, als er der während seines Schlafes entstandenen Eva ansichtig wurde. Je geistig geweckter nun eine Menschenart, desto mehr haftet ihre Aufmerksamkeit an dem, was objektiv komisch ist. Darum sind Komödien als Ausdruck von Wahrheit und Wahrhaftigkeit allemal ernster zu nehmen als Tragödien, ließe sich auf einer Geschichte des Witzes und des für witzig Geltenden wahrscheinlich eine tiefere Gesamtschau der seelischen Entwicklung des Menschengeschlechtes gründen, als auf allen Tatsachen. Ist es nicht merkwürdig, dass jeder Mann über nichts so selbstverständlich lacht, wie über Anekdoten, welche nackte Tatbestände des Geschlechtslebens wiedergeben? Die primitivsten Europäer sind die Engländer: völlig eindeutig beweist dies die eine Tatsache, dass sie gerade im Falle alles zweifellos Ernsten fordern, dass es mit sense of humour behandelt und betrachtet werde.

Was nun aber von Menschenmehrheiten einmal bemerkt und geglaubt ward, bleibt haften. Wie ich in den Zwanzigerjahren einer ziemlich verwelkten Dame vorgestellt wurde, fragte mich die Hausfrau, ob ich sie nicht wunderschön fände. Ich finde sie scheußlich, erwiderte ich. Die Hausfrau sah mich entgeistert an. Der tonangebende Herr in ihrem Kreis hatte sie zwanzig Jahre früher zur schönsten Frau der Stadt erklärt und seither war niemand darauf gekommen, selber zu schauen und zu urteilen. Auf dieser Gana-Beherrschtheit beruht der ganze Glaube an Präzendenzfälle, dem das Fortleben von Tradition zum allergrößten Teil sein Dasein dankt. Vom Geist her ist überhaupt nicht einzusehen, warum etwas, weil es früher so war, in Zukunft ebenso sein sollte. Tatsächlich aber geht beinahe alles Denken von letzterem Vorurteile aus und ist alle Neuerung und aller Fortschritt auf Erden von den ganz wenigen ausgegangen, welche die Kraft aufbrachten, die Gana-Bindung in sich zu überwinden. Dass der größte Teil der großen Neuerer homines novi waren, erklärt sich durch deren Unbelastetheit durch Überlieferung. In diesem Sinne unterschied mein witziger Jugendgefährte, Alexander Stael von Holstein, der als berühmter Orientalist in Peking endete und von dessen phantastischer Petersburger Zeit, die dem Komödiendichter Shakespeare eine Fundgrube bedeutet hätte, ich im ersten Kapitel des ersten Bandes einiges erzählte, zwischen Menschen, die keine Vorurteile mehr und solchen, die noch keine haben. Die meisten haben deren noch so viele, dass sie dies physiologisch unfähig macht, sich anders zu verhalten, als sie es seit Jahrhunderten gewohnt waren. England, in dessen Denken der Präzedenzfall die größte Rolle spielt, bedeutet der Krieg heute noch an erster Stelle erlaubten Seeraub, einfach, weil Englands Großmachtstellung durch das Piratentum Francis Drakes und ähnlicher Freibeuter eingeleitet wurde. Ähnlich hat Frankreich von Weltkrieg und Versailler Diktat so wenig loskommen können, dass es nicht nur nicht bemerkte, wie Deutschland seit 1933 aufbaute, von Verstehen zu schweigen, sondern sogar nach dem Polenfeldzug durch die gleichen Methoden des Kriegführens, welche dort den deutschen Sieg herbeiführten, überrascht wurde. Mit eigenen Augen sehen, Neues bemerken, und gar eigene Einfälle haben verschwindend wenige Menschen. Im großen und ganzen hat Tarde, der geistreichste aller Soziologen, mit der These seiner lois de l’imitation gar sehr recht, welche, leicht karikiert zusammengefasst, behauptet, seit Adam sei den Menschen nur einige zehn Male Neues eingefallen; beinahe alle vom Menschen gestaltete Erscheinung beruhe auf Nachahmung. Auf jeden Einbruch eines Neuen folgt eben zur Wiederherstellung der Lebensganzheit festere Ganabindung, so dass es kein Wunder ist, dass die Konsequenzen, die aus einer neuen Einsicht für den verstehenden Geist augenblicklich folgen, vom Leben nur nach Jahrhunderten zähester Auseinandersetzung zwischen alt und jung gezogen werden. Dieses Ungeheuerliche wird möglich dadurch, dass die allermeisten Menschen nicht nur Gewohntes allein verstehen, sondern allein Erwartetes bemerken.

1 Diese Punkte stammen vom Autor [Anmerkung des Keyserling-Archivs]
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
III. Wandel der Reiche
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