Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

III. Wandel der Reiche

II. Wandel der Reiche - Geistesfreiheit und Selbstbestimmung

Hiermit gelange ich zum innerlich-subjektiven Aspekte dessen, von dessen äußerlich-Objektivem die bisherigen Erinnerungen und Auseinandersetzungen handelten. Dazu muss ich das, was noch zu sagen sein wird, auf den persönlichen Grundton abstimmen, welcher zumal den ersten Kapiteln dieses Werkes seinen Charakter gab. Insbesondere muss ich bei den Schlussseiten des ersten Kapitels Vorfahren wieder anknüpfen und dann auch bei Tolstoi. Jener letzte Teil von Vorfahren handelte von meinen Konflikten mit meinen baltischen Landsleuten und berührte in ihren großen Zügen auch die späteren, in welche ich mit meiner jeweiligen menschlichen Umwelt geriet. Der empirisch tiefste Grund aller war der, dass ich einer anderen Zeitgeisteinheit angehörte und angehöre, als alle meine mir bekannten Zeitgenossen. Vor dem ersten Weltkrieg fühlte ich mich deplaciert und aufgabelos. In der Tat, wäre das Reisetagebuch, das im großen und ganzen schon 1913 fertiggestellt war, vor dem Krieg erschienen, es hätte keinesfalls das bedeutet, weder für mich noch für andere, was es ab 1919 bedeutet hat. Ich selber sah bis zum Ausbruch des Krieges keine andere mögliche Existenzform für mich vor mir, als die des zurückgezogenen stillen und ironischen Zuschauers, den Moralisten des XVIII. Jahrhunderts nachstilisiert; ich fühlte mich auch entsprechend alt. Als mein Vater starb, sagte sein Freund Reinhold Stael von Holstein, der baltische Historiker, seufzend, mit ihm schiede der letzte Europäer unseres Landes außer ihm. Um wie viel fremder als mein Vater musste ich mich fühlen in der seither auf dem Wege der Enteuropäisierung und Entgeistigung weit vorgeschrittenen baltischen Umwelt! Wohl fühlte ich mich, außer daheim in Rayküll, nur mehr in den Salons von Paris, London und Wien, in denen noch die alte Kulturtradition lebendig war, besonders im Sinn des inneren Abstandes zum augenblicklichen Geschehen. Denn dass vor allem unterscheidet die Menschen des Chauffeur-Zeitalters von der alteuropäischen Welt, dass sie nicht mehr schreiben, nur noch telephonieren können, und dieses letztere eigentlich in keiner artikulierten Sprache mehr, sondern in etwas ähnlichem wie der Sprache, in welcher die Kornaks mit ihren Elephanten reden, von welcher die Inder behaupten, nicht Menschen, sondern Elephanten hätten sie erfunden; die nichts vorausplanen, sich nur von Überraschung zu Überraschung wohlfühlen, nur in der Gegenwart leben außer Zusammenhang mit dem Gesamtgeschehen, und bei allem dabei sein müssen, um es bald darauf zum besten neuer Eindrücke zu vergessen. Ich wollte zu keiner Zeit meines Lebens irgendwo in diesem Sinn dabei sein. Dessen bedurfte ich nie, um für meine Zwecke genügend im Bilde zu sein: jeder Abstand-geborene und Abstand-schaffende Brief brachte mir einen Menschen näher als persönlicher Kontakt, nur große Zusammenhänge bedeuteten mir Wesentliches, und vor allem war mein Leben nicht auf Re-agieren, sondern auf Agieren, auf Existenz von innen heraus eingestellt. Nichts ist charakteristischer für den neuen Zeitgeist, als dass sich der Amerikaner, dessen prototypischer Vertreter, überhaupt keine andere Beziehung zu Ereignissen vorstellen kann, als dass er ihnen gegenüber re-agiert. Darum vor allem ist in seinen Augen der Andere immer im Recht, findet er es anmaßend, initiatorisch Wert zu behaupten, beweist ihm die Zahl der Käufer oder Liebhaber den Wert eines Gegenstandes u.s.f. — Aber ich kannte mich selbst dabei gar nicht; so war ich wesentlich in keiner Weise dem Kulturtypus des XVIII. Jahrhunderts ähnlich, was von meinem Großvater im hohen Grade galt, sondern ursprünglich ein primitiver und in vielen Hinsichten undifferenzierter, der Zukunft zugewandter Mensch. Das merkte ich zuerst am Aufjauchzen, welches der Ausbruch des ersten Weltkrieges bei mir auslöste. Damals fühlte ich als erstes: jetzt endlich kommt deine Zeit. Und wie dann die alte Welt überall zu zerfallen begann, da bekümmerte mich das weit weniger, obgleich meine eigene Existenzbasis dabei mit zerfiel, als dass ich beglückt durch die Gewissheit war, dass das Ende des Alten mir den Weg zur Erfüllung meiner Sendung auf Erden freimachte. Aber lange sah ich hierbei durchaus nicht klar; zu sehr hatte ich mich mein ganzes früheres Leben lang an den Ereignissen als solchen desinteressiert und die Außenwelt nur als Reaktiv behandelt. Zeitweilig wähnte ich, auf den ersten Weltkrieg werde ohne Übergang schon das ökumenische Zeitalter folgen, das ich, wie schon das Reisetagebuch beweist, welches durchaus dessen Geistes Kind ist, als einzig mögliches Heil forderte. Auch darin irrte ich, dass ich zeitweilig im Geiste der Internationale einen Weg zum Heil sah. Wie dann die große nationalistische Reaktion auf diese kam, da erkannte ich, dass ich in Wahrheit einer viel späteren Zeit angehörte, als der gegenwärtigen, und dass der Franzose recht hatte, welcher 1940 über das Spektrum schrieb:

Keyserling a surtout un défaut: il s’est trompé de guerre. Il s’imaginait que sa mission commencerait à se realiser avec la fin de la première Guerre Mondiale. A la vérité, elle n’a commencé à se dessiner qu’apres la seconde.

Von hier aus leuchtet ein, dass ich nach und nach in Konflikte mit den Vertretern sämtlicher bisheriger Zeitgeister kommen musste: zu Hause mit den Balten, in Deutschland zuerst mit den Deutschnationalen, aber auch mit den Liberalen und Linksradikalen, da ich unwillkürlich eine extrem aristokratische und hierarchische Weltordnung vertrete, später mit den Nationalisten jüngster Färbung. Wer von Natur dem ökumenischen Typus angehört, kann unmöglich Nationalist sein und schon gar nicht mit Vertretern ausschließlichen Kämpfertums und Befürwortern der Gewalt sympathisieren. Damit wiederum geriet ich in Konflikt nicht nur mit den Bolschewisten, sondern auch mit einem großen Teil der Nationalsozialisten. Niemand liebt es, nicht als das endgültig Richtige, sondern nur als vorübergehender Zustand angesehen zu werden, und ich bin ein viel zu schlechter Schauspieler, als dass es mir je gelungen wäre, meine Überzeugung zu verbergen, dass es sich bei allen zeitgenössischen Gestaltungen um Vorläufigkeiten handelte. Dazu kam aber als ausschlaggebend dies, dass ich nicht umhin konnte, in den politischen Zielsetzungen meiner Zeit überhaupt etwas Nebensächliches zu sehen. Als wesentliches Ziel alles dessen, was sich ereignete, erkannte ich nur jenes Wachstum in der Geistesfreiheit und Selbstbestimmung und Weite und Tragfähigkeit der Seele an, das ich ab 1920 von der Tribüne der Schule der Weisheit aus in immer neuen Varianten verkündete und in meinem wohl endgültigen Hauptwerk Das Buch vom Ursprungin für mich letztgültiger Form formuliert habe. Der letzte Sinn aller Wandlung und aller Zerstörung dieser Zeit ist das Bestreben, welches unbewusst heute das ganze Menschengeschlecht beseelt, alle Zwischenreichsbildungen zu durchstoßen, um klar verstehend zu dem Ursprung zu gelangen, aus dem heraus die hohen Religionen entstanden sind. Das ist dasselbe Ziel, für welches ich 1912 bei der Niederschrift des Amerika-Abschnitts des Reisetagebuchs die Formel fand, dass das bisherige Zeitalter der Differentiation nunmehr einmünde in eins der Integration. Unter diesen Umständen konnte ich meiner Anlage und meiner geistigen Zielsetzung nach in den verschiedenen Zuständen, von den zerfallenden und neuentstehenden Reichen bis zu den Sonderstimmungen des jeweiligen Zeitgeistes nur das sehen, was der Reinkarnationsgläubige in den verschiedenen Verkörperungen sieht: Gelegenheiten und Etappen der Selbstverwirklichung. Damit bejahte, ja begrüßte ich auch an sich schlechte Zeiten und Zeitgeister, sofern sie dazu verhalfen. Nie hatte ich Verständnis für jene immer noch erschreckend zahlreichen Naiven, welche unentwegt glauben, dass alles zu etwas gut sei vom Standpunkt des Individuums und gar, dass denen, so Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Zu solcher Selbstüberhebung einer Art, wie sie sich die Frommen ohne Scheu gestatten, war ich schon als Kind zu einsichtig. Nie entgleiste ich jemals so weit, dass ich einen für mich noch so unerfreulichen Zustand deshalb als absolut schlecht verurteilte. Aber ich wusste früh, dass kein falsch gestelltes Lebensproblem wirklich erledigt ist, bevor es nicht seine letzten Konsequenzen ausgewirkt hat. So bejahte ich das Wollen der Internationale als kürzesten Weg, den falschen und perversen Universalismus zu erledigen (alles Nähere darüber steht im Kapitel Humanité et Nations der Révolution Mondiale) und das Zeitalter der Gewalttätigkeit als Weg, an bitterer Erfahrung zu lernen, dass Christus doch tiefer sah als die römischen Heiden. Ja, ich begrüßte den zeitweiligen Verlust der Geistesfreiheit, die meine eigene Existenz zu zerstören drohte, weil mir klar war, dass nur das in-Frage-Stellen der Werte, welche seit Jahrtausenden als höchste erkannt sind, aber die allen so selbstverständlich geworden waren, dass sie ihren Sinn gar nicht mehr verstanden, zu einem neuen Sieg des Geistes führen könnte, ja dass Unterdrückung der kürzeste Weg zu wirklichem frei-Werden war. Denn die Unterdrückung früherer Zeit, deren Erinnerung solange den Aufstieg im Gang erhielt, hatte das XX. Jahrhundert vergessen; so mussten uralte Erfahrungen neu gemacht werden. Dass hier der Sinn auch der kriegerischen Auseinandersetzungen lag und liegt, wusste ich nachweislich, wie ich hier doch öffentlich feststellen möchte, schon zu Beginn des ersten Weltkrieges; die kleine Schrift On the Meaning of the War enthält meines Erachtens endgültige Fassungen für das meiste, um das es noch dreißig Jahre später geht. Aber die phantastischen Gegenbewegungen, welche gerade dieser kleine, von überlegener Warte geschriebene, von reinem Geist der Liebe diktierte Artikel dreißig Jahre hindurch immer wieder ausgelöst hat, beweist schon, wie allein ich in der Verkörperung der Zeit des Neuaufbaues nach Erledigung der heutigen Konflikte bisher stand und noch heute, 1943, stehe. Die Vertreter anderer Zielsetzungen und Wertsysteme mussten allesamt in mir den Gegner sehen. Oder aber sie mussten den Umstand, dass ich zu keiner von ihrem Standpunkt wichtigsten Zeitaufgabe mit elementarer Leidenschaft Stellung oder Partei nahm und aktuelle Feindschaften nicht mitmachen konnte, Charakterlosigkeit erblicken. Kein Mensch kann einem höheren Niveau, als es das seine ist, gerecht werden, er kann es ja nicht übersehen; ja er vermag seine Existenz nicht einmal wahrzunehmen; der Enge kann den Weiten nicht verstehen, der in letzter Instanz Hassende keinen der Feindesliebe Fähigen, und der Ausschließliche vermag den Einschließenden als konkreten Menschentypus nicht einmal vorzustellen. Glücklicherweise erkannte ich früh, dass diese sozusagen ismaelitische Gegensatzstellung zu allem, wobei ich selbst keinerlei Gegensätzlichkeit fühlte, mein unentrinnbares Schicksal war, und stellte mich in meinem Tun und Lassen so ein, dass ich das Palladium, das ich mir anvertraut wusste, unter noch so großen Verzichten persönlicher Art in fernere Zukunft hinüberretten konnte.

So habe ich den Wandel der Reiche im weitesten wie im engsten Verstand, deren Zeuge ich außerhalb und in mir war, im Sinn sich ergänzender und zum Fortschritt notwendiger Wiederverkörperungen erlebt. Alle habe ich als Stadien bejaht, keines als letzte Instanz aufgefasst und gar absolut gut oder absolut schlecht gefunden. Meine eigene Linie hielt ich eindeutig und unbeirrbar, aber da deren Existenzebene oberhalb von Name und Form liegt, so gab mir dies niemals Anlass, als innerlich Beteiligter in die Tageskämpfe einzugreifen. Nur aus Erkenntnisgründen oder wo mir dies zur Erfüllung meines Schicksals, das empirisch natürlich eine Sonderexistenz darstellte, notwendig schien, behauptete ich Bestimmtes, und da konnte ich freilich streitbar genug erscheinen. So hielt ich aus sinnbildlichen Gründen auch Feindschaften durch, die ich in meiner Seele überhaupt nicht spürte. Für mich lebte ich mich so tief als irgend möglich in alle mir begegnenden Zustände und Zuständlichkeiten ein, um deren ganze Bedeutung zu realisieren, diese in mir zu verarbeiten, um an der Überwindung des Feindlichen oder Unzulänglichen zu wachsen oder mich besser artikulieren zu lernen. Wie ich mir durch den satirischen Geist des Spektrums und Amerikas diesseits und jenseits des Atlantiks meine besten Chancen zu materiellem Wiederaufstieg verdarb, reute mich dies doch keinen Augenblick. Ich fühlte in erster Linie, dass ich auch meine Neigung zur Ironie und Persiflage, ja zur Hybris gründlich ausleben musste, um sie so weit als nötig zu überwinden — ganz abgesehen von den positiven Werten, die ich durch meine damalige Einstellung und Betätigung vertrat. Ja, ich freute mich jedes Ärgernisses, das ich erregte, weil ich dadurch einerseits mich selber besser kennen lernte, andererseits den Sondercharakter dessen, was ich vertrat, schärfer umreißen konnte. So bejahte ich auch das, was mir von allem Missgeschick am schwersten zu ertragen schien, nämlich die Unmöglichkeit während der Jahre größter Vitalität überhaupt auf meine Sonderart zu wirken und meine sich in mir immer mehr stauenden Energien auszuströmen; ich bejahte sie, obgleich ich unsäglich dabei litt und immer wieder Vulkanausbrüchen vergleichbare Revolten dabei erlebte. Denn ich wusste, dass ich bei solcher Selbstüberwindung mehr vom Missgeschick haben würde als vom Glück. Tatsächlich hätte ich ohne diese schwerste Prüfung die Betrachtungen der Stille und vor allem Das Buch vom Ursprungniemals schreiben können. Nicht anders war es 1911 eine schwere Infektionskrankheit, die mir bei meiner Weltreise jeden Genuss im üblichen Sinn unmöglich machte und mich nach meiner Heimkehr auf Jahre zur Bewegungslosigkeit verdammte, welche die Vollendung des Reisetagebuchs ermöglichte: Krankheit-erzwungene Abgeschiedenheit war es, die einem so jungen Menschen, wie ich es damals war, die Einhaltung der zu diesem Werk erforderlichen inneren Distanz dauernd möglich machte.

Nachdem ich die Révolution Mondiale veröffentlicht hatte, sagte mir Otto Gmelin, er begreife nicht, wie einer inmitten so gewaltiger Ereignisse, die einen überdies aufs nächste affizieren, solch inneren Abstand gewinnen könne. Gerade solche Distanz-Einhaltung ist mir inneres Bedürfnis, denn bei meiner übergroßen Schmerzempfindlichkeit und Empfänglichkeit für Eindrücke aller Art kann ich nur bei großer innerer Abgeschiedenheit ich selbst sein, und diese Abgeschiedenheit schafft sich meine Seele aus Selbsterhaltungstrieb. Daher mein Lebensstil, den ich von meiner Pariser Zeit, also von 1903 ab, unverändert beibehalten habe. Aber aus dieser Distanz heraus habe ich alle Wandlungen der Reiche, deren Zeitgenosse ich war — und ich habe deren mehr aus nächster Nähe gesehen, als die meisten meiner Zeitgenossen, so nicht weniger als sechs Revolutionen, überdies habe ich mehrere Male Besitz und Vermögen verloren, durch den Bombenterror zuletzt mein Eigenheim — mit voller Intensität, mit allen Fasern meines Wesens erleben können und jede Unterschiedlichkeit bemerkt. Daher meine Fähigkeit zur Evokation meiner Großvater-, meiner Vaterwelt, der verschiedenen Kulturen, die in meinen Reisebüchern enthalten sind — dies alles, ohne dass ich Dichter wäre —; daher die sinngebenden Impulse, die ich den verschiedensten Völkern und in den verschiedensten Zuständen habe geben können. Was sich zuerst als Proteustum des Reisetagebuchmenschen manifestierte, wurde mir immer mehr zum gefügigen Mittel der Sinnesverwirklichung auf allen nur möglichen Ebenen. Die Unbeständigkeit der Erscheinungen, die Sterblichkeit aller Gestaltungen wurde mir immer mehr zum Ausdrucksmittel für das ewig Wertvolle, das ich meinte. Aus diesem Geist erwuchsen auch meine metapolitischen Schriften und Reden. Ich heiße sie metapolitisch, weil ich Politik nie als letztes gemeint habe, sondern lediglich in einem überpolitisierten Zeitalter oft keine andere Möglichkeit sah, meine aus dem reinen Geist stammenden Impulse auszuteilen, als indem ich auch die politische Materie als Verkörperungsmittel nutzte. Denn meiner Überzeugung nach spricht das Satzpaar, das ich 1918 prägte, gerade für die Zeit während des zweiten Weltkriegs wahr:

Politik muss überflüssig werden, das ist das neue Menschheitspostulat. Doch der Weg dahin ist gepflastert mit politischen Problemen.

1942 wurde mir endgültig klar, was ich letztlich wollte: den Menschen durch alle Zwischenreichsbildungen hindurch zu seinem Ursprung zurückführen und vom erkannten Ursprung her ein neues besseres Zwischenreich begründen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe bot mir der rapide Wandel der Reiche, den ich persönlich erleben durfte, die bestdenkbare Gelegenheit. Jeder neue Zustand ermöglichte mir, in anderer Verkörperung, von einem anderen Gesichtswinkel her das Gleiche zu vertreten und so durch die Vielheit der gezogenen Koordinaten den gemeinten Mittelpunkt desto eindeutiger zu bestimmen. Daher auch meine Vielsprachigkeit, meine Polyphonie überhaupt. Daher die Technik der Darmstädter Tagungen, im Zusammenklang vieler verschiedener Redner, von denen jeder Besonderes vertrat, etwas neues Eindeutiges als Impuls in die Welt zu setzen. Und in diesem Sinne ist auch meine innere Stellung zu den Wechselfällen meines äußeren Lebens zu verstehen. Ich sah ein Sinnvolles darin, dass ich erst russischer Staatsbürger und baltischer Großgrundbesitzer war, dann nach Deutschland auswandern musste und von dorther das wurde, was der damalige argentinische Außenminister also ausdrückte: der Ehrenbürger aller Völker. In Spanien wissen es gewiss noch viele, dass ich die Stichworte schuf für die neue spanische Imperialität.

In allem, was ich hier sage, urteile ich als der Geist als welchen allein ich mich selbst bejahe. Wie im Kapitel Zeitgenossen dargestellt, habe ich mich persönlich niemals gern gehabt. Zeitlebens habe ich bedauert, als empirisches Wesen nicht ein ganz anderer zu sein. Aber seit dem Reisetagebuch — man gedenke der Schlussabschnitte des Himalaya-Kapitels — sehe ich gerade auch in meiner Unzulänglichkeit nicht nur einen Antrieb zur, sondern ein direktes Mittel der Selbstverwirklichung. Wo ich mir nun selber dermaßen unsympathisch bin, kann ich mich auch von dem häßlichen Bild, welches die Menschenwelt seit dem ersten Weltkrieg bietet, nicht einfach mit Abscheu abwenden. Mir ist klar, dass ein Fortschritt über den bisherigen Menschheitszustand hinaus nur möglich ist, wenn alles verdrängte Böse manifest wird, wenn alle Hintergründe durchschaut werden und alle Absichten sich an der Erfahrung als das erweisen, was sie tatsächlich sind. Oft sprach ich’s in den Jahren der schlimmsten bolschewistischen Greuel aus: dieses Mal genügt es nicht, wie zu Beginn des Christentums, dass der Mensch nur das Böse erleide, er muss das Böse persönlich getan haben, um den Sinn des Guten und Bösen zu realisieren. Leichter, als von gutgebliebenen Menschen mag das Heil dieses Mal von bekehrten Henkern kommen. Geht die Menschheit diesen Weg aber zu Ende, dann wird es der Hilfskonstruktion des Sündbewusstseins, das so entsetzlich viel Böses angerichtet hat, nicht mehr bedürfen.1

1 Vollendet Aurach 7. 11. 1943. [erweitert Herbst 1944, Anmerkung des Keyserling-Archivs]
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
III. Wandel der Reiche
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