Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

In den Himalayas: Dharma

Noch einmal bin ich diese Nacht den Gipfel, welcher von allen ringsum die weiteste Aussicht bietet, hinangeritten, den Aufgang der Sonne zu sehen. Dieser verlief leider unmerklich, da die Nebel schon zu hoch hinangestiegen waren. Aber durch Stunden vorher war mir vergönnt, die Giganten zu schauen, die sich alabastern vom schwarzen Himmel abhoben. Während dieser Stunden war mir Wunderbar weit zumut. Wieder einmal war mir, als hätte ich mein Ziel bereits erreicht, als wäre ich schon ausgekrochen aus der Puppe meines Menschen. Und wie ich da der Wirklichkeit gedachte, die so kläglich zurücksteht hinter dem, was sein sollte und möglich ist, da verwandelte sich meine Bitternis von jüngst auf einmal in Freude. Wie schön, dachte ich jetzt, dass ich noch nicht am Ziele bin! So habe ich zu tun; so hat mein Erdendasein Sinn. Und wie gut, dass meine Anlage nicht günstig ist! So werde ich Freude erleben an der getanen Arbeit. Nicht das erreichte Ziel ist es ja, sondern die bezwungene Schwierigkeit, die das Lebensgefühl beglückend steigert. Ich will zusehen, wie weit ich komme mit dieser Person, die ich hinieden doch nie ganz überwinden werde.

So allein sollte ich immer, sollte jeder das Problem seines Lebens stellen. Es ist nicht möglich, seine Anlagen zu verändern — aber wozu auch? Keine verkörpert an sich einen Wert, jede ist nur eine Ausdrucksgelegenheit, vermittelst jeder kann das Äußerste verwirklicht werden. Und je mehr Schwierigkeit dies bietet, desto eher gelingt es. Noch nie hat jemand Größtes auf dem Gebiet vollbracht, dessen Beherrschung ihm am leichtesten fiel; nichts steht dem Genie mehr im Wege, als sein Talent. Fast nie wird ein Gerechter zum Heiligen. Äußerste Kraftanspannung lösen ungünstige Umstände am sichersten aus. So habe ich alle Ursache zur Freude.

Ich will zusehen, wie weit ich komme auf meiner Bahn; jetzt müsste es ja im Sturmschritt vorwärts gehen, weit schneller zum mindesten als dazumal, da ich nicht klar erkannte, worauf es ankommt. Damals verlor ich viel Zeit durch Zweifel, Rück- und Seitenblicke; ich machte mir Vorwürfe, vielen Ansprüchen nicht genügen zu können, die an mich herantraten, zumal was das Gebiet altruistischer Betätigung betraf. Die hätte ich mir ersparen können. Ich, als bestimmte, beschränkte Person bin ja nur ein Organ des Selbst, das mein Wesen bezeichnet; und dies Organ soll funktionieren, seiner Natur gemäß; dazu allein ist es da. Indem es sein Äußerstes leistet, noch so blind auf sein Sonderziel bedacht, handelt es besser im Sinn des Ganzen, für das Ganze, als wenn es versuchte, diesem direkt zu dienen. Zu letzterem sind andere berufen. Die Mahnung Sri Krishnas: lieber sein eigenes, noch so niedriges Dharma erfüllen, als das noch so erlauchte eines anderen, enthält die Quintessenz aller Ethik. Das objektive Ideal, das Absolute, kann die Erscheinung nur dann vollständig durchdringen, wenn der persönliche Mittelpunkt dieser zu jenes Brennpunkt wird. Das innerlichst-Persönliche, keiner Außenwelt zugängliche, ist gleichzeitig der Ort, der mit dem Zentrum des Alls in unmittelbarem Zusammenhange steht. Dank dem kann Gott sich durch jede Natur manifestieren, aber nur insoweit, als diese sich selbst gemäß lebt. So braucht sich keine um sich selbst zu grämen. Ich nun bin ganz besonders günstig gestellt deshalb, weil ich nun vollkommen klar erkenne, worauf es ankommt. Jetzt kann ich alles und jedes im Geist des Einen betreiben, so dass mir auch alles und jedes zum Heil gereichen muss. Was soll mich noch entmutigen, seitdem ich weiß? Was mich noch aufhalten? Weder Krankheit noch Unglück, weder eigenes noch fremdes Versagen, weder Tugend noch Laster. Alles im Leben dient dem Wissenden…

Ich habe es gut. Heute fühle ich mein Glück so intensiv, dass ich es ausstrahlen möchte über die ganze Menschheit. Möchte ich ihr doch zu ermutigendem Beispiel werden! Möchte sie lernen an mir, wie wenig Grund sie zum Verzagen hat! Noch immer krankt sie am Aberglauben der guten Anlage, noch immer verehrt sie in bestimmten Zuständen Ideale; noch immer wähnt sie, dass es vorbildliche Naturen gibt. So wird sie nicht freudig, sondern beklommen, wo sie aufschauen muss, und die Liebe nicht ausreicht, den Neid zu ersticken. Aber es gibt keine vorbildlichen Naturen, kann keine geben. Kein noch so Großer war als Natur verehrungswert. Wenn Buddha und Christus uns höchste Beispiele bedeuten, so liegt dies nicht an ihrer Anlage, sondern an dem, was sie gemacht haben aus ihr; es liegt an ihrem Wiedergeborensein im Geiste. Aber jene Größten waren von Hause aus doch so begnadet, dass es nicht leicht gelingt, über ihr Angeborenes hinwegzusehen; jeder fühlt unwillkürlich, indem er ihrer gedenkt, seine ungünstigere Stellung. Meine Person nun ist vollendet unvorbildlich. Mein Dharma erfordert eine Existenz, die kaum jemand außer mir ersprießlich wäre, ein Abweisen der allermeisten Bindungen, die mit Recht als bildendste gelten, so dass wohl nichts von dem, was ich tue und bin, irgend jemand ein Beispiel im Guten sein kann. Geradezu abnorm muss ich erscheinen, weil ja Proteus auf der Ebene des Menschendaseins nicht als universellere, sondern als extrem spezialisierte Erscheinung wirken muss. Eben das macht mich zum Beispiel geschickt. Kein Mensch ist als Naturprodukt vorbildlich — es besteht keinerlei Gefahr, das irgend jemand mich zum Vorbilde nähme; aber jeder wird es in dem Fall, dass er innerhalb naturgegebener Grenzen seine äußerste Vollendung erreicht; dahin könnte ich, müsste ich kommen. Und selbst wenn ich nicht soweit gelange, wenn mich der Tod ereilt auf halbem Weg, wird, wenn Vollendungsstreben nur mein ganzes Leben beseelte, wenn jede Leistung dieses rein zum Ausdruck bringt, und sei die Leistung an sich noch so gering, jeder Strebende von mir lernen können. Er wird sehen an mir, dass die Natur in Wahrheit keine Fessel bedeutet, sondern den Weg zur Freiheit, dass der Geist es vermag, alle Erscheinung zu transfigurieren; dass wir wesentlich einem Geistesreiche angehören, dessen Gesetze ganz andere sind, als die der Erde, deren ganze Bedeutung eben darauf beruht, dass sie jenem zum Mittel dienen kann. Es gibt überhaupt nur geistige Bedeutung; die Bedeutung allein wiederum gibt Tatsachen Sinn.

So hängt es vom Geiste ab, in dem er lebt, ob eines Menschen unzulängliche Anlage, ob sein Missgeschick, sein Leid, und umgekehrt sein Glück, ihm zum Heil wird oder zum Verderben.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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