Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Canton

Leider trete ich meinen Aufenthalt in China unter ungünstigen Verhältnissen an: das Land steht in voller Revolution. Solche Perioden heißt man wohl große Zeiten und manche zehren ihr Leben lang davon, dass sie dabei gewesen sind: den Tieferblickenden dünken Epochen gewaltsamer politischer Umwälzung als die uninteressantesten von allen nur möglichen. Angesichts außerordentlicher äußerer Ereignisse geraten die Allermeisten nämlich außer Gleichgewicht; sie leben an der Oberfläche, die ihrerseits keine normale und für das Wesen nicht symbolisch ist; ihr Eigentliches tritt gar nicht zutage. Was bedeuteten die Gewalttaten der Terreur-Periode oder der Juli-Revolution in bezug auf die friedlichen bourgeois von Paris, die sie verübten? Nichts. Diese waren bloße Schauspieler eines Massenimpulses. Allerdings gibt es Ausnahmenaturen, echte Sturmvögel, die nur zu solchen Epochen ganz sie selbst sein können, und die sind dann hochinteressant; aber Sturmvögel sind seltener als man denkt; bei der Mehrzahl hat das Betragen in Ausnahmesituationen nicht die mindeste symbolische Bedeutung. Fast jeder Gentleman beweist Mut im Augenblick der Gefahr, fast jede Mutter, wenn ihre Kinder bedroht sind, und speziell in Deutschland bewährt sich beinahe jeder angesichts der typischen Fährnisse, denen er von Berufs wegen ausgesetzt ist: der Kapitän beim Sinken seines Schiffs, der General in der Schlacht, der Bürgermeister, wenn eine Seuche seine Stadt befällt usw. Nur sind diese Leute als Helden nicht mehr sie selbst als sonst, sondern weniger oder gar nicht: sie handeln nicht als Individuen, sondern als Repräsentanten; und sehr oft, nur zu oft, hat dieses typische Handeln den Sinn eines Sich-Verkriechens vor dem eigentlichen Selbst, wie die Rhetorik des Delinquenten auf dem Schafott. Wenn Napoleon bloß auf das Verhalten seiner Generäle in extremis Wert legte, so lag das daran, dass in seinem Fall alle Entscheidung in extremis fiel, und die Menschen an sich ihm gleichgültig waren; wäre ihm um deren eigentliches Sein zu tun gewesen, er hätte anders geurteilt. Freilich äußert sich dieses nicht notwendig im Rahmen ihres täglichen Daseins, wie Maeterlinck wahrhaben will, denn der passt nicht notwendig zum Menschen; nur der entsprechende Rahmen kommt in Frage, dieser aber kann, par définition, kein Ausnahmezustand sein. Zumal in China, dem Land des ewigen Friedens und der Ordnung! Diese Revolution kann ich überhaupt nicht ernst nehmen und wenn ich nicht sehr irre, so tut dies auch kein wurzelechter Chinese in dem Sinn, wie dies dem Europäer selbstverständlich dünkt; ich habe den Eindruck, dass er sie so ansieht, wie Revolutionen überall angesehen werden sollten: als eine Krise des Organismus. Über gewisse Entwickelungsstadien kommt der Körper nicht ohne Gewaltsamkeit hinweg: er erkrankt, er fiebert, kocht auf; in diesem Sinn sind Revolutionen mitunter unvermeidlich, (wenn auch kaum die Hälfte derer, welche die neuere Geschichte verzeichnet, diesen Charakter tragen dürfte); speziell die französische entsprach ohne Zweifel einer inneren Notwendigkeit, so wenig erfreulich ihre Folgen im allgemeinen, zumal für Frankreich, sich erwiesen haben, denn auf andere Weise waren die nicht mehr lebensfähigen aber gerade dank ihrer Erstarrtheit starken Formen und Institutionen des ancien régime nicht zu brechen. Immerhin bedeutet eine noch so unvermeidliche Kinderkrankheit keine Heldentat. Ich kann schwer ein Lächeln unterdrücken, wenn ich die Taten des Volks verherrlichen höre. Dieses ridicule wird China sich nicht geben. Es wird Sun Yat-Sen auch nicht lange als Helden verehren, wie dies in Europa sicher geschähe, sondern ihm wohl vielleicht dankbar sein dafür, was er angestiftet, ihn im übrigen aber nicht anders beurteilen, als was er ist: als gutartigen wenn auch nicht harmlosen Ideologen.

Nicht nur im Sinne der Zeit, auch in dem des Raumes stellt sich mein Anfang in China weniger günstig dar, als ich erhofft hatte: in Canton drängt sich einem die Außenseite des Lebens so übermächtig auf, dass es physisch unmöglich erscheint, durch sie hindurchzusehen. Nun ist das öffentliche Leben als solches ganz uninteressant, weil dessen Formen Ausdruck nicht der Seele, sondern der objektiven Notwendigkeiten oder Opportunitäten des Zusammenlebens überhaupt sind und daher nicht nur von Volk zu Volk, sondern sogar vom Menschen zum Tiere zu dem Sinne nach kaum variieren. Man hat viel über das Fremdartige der chinesischen Institutionen geschrieben: ich finde sie den europäischen nur zu ähnlich; so anders sie de facto sein mögen, so wenig weichen sie in der Bedeutung von ihnen ab. In dieser Geschäftsund Großstadt, die berühmt ist wegen ihrer Außerordentlichkeit, habe ich kaum überhaupt das Bewusstsein, mich in fremder Umgebung zu befinden. Was könnte (um die Gegenprobe zu machen) ein chinesischer Metaphysiker in Berlin oder Frankfurt lernen? Vom Geist, der dort freilich ein anderer ist als hier, würde er im Großstadtgetriebe wenig spüren. Er würde etwas weniger Fleiß und Arbeit, sehr viel mehr Unruhe feststellen und wahrscheinlich zum Ergebnis gelangen, dass wir Europäer Menschen seien ganz gleicher Art, nur von niedrigerem Kulturniveau.

Um nicht leer auszugehen, schalte ich den Metaphysiker fürs erste aus und stelle den reinen Beobachter ein. An Geschäftigkeit übertrifft Canton wohl alles, was ich gesehen; Tagediebe scheint es überhaupt keine zu geben. Und das Unheimliche dabei ist, dass alle diese Arbeitstiere heiter dreinschauen. Ich beginne zu verstehen, warum die Chinesen dem Europäer so leicht als Unmenschen vorkommen. Wer sie mit Affen vergleicht, der bedenke, worin das spezifisch Groteske des Affen besteht: dem Kontrast zwischen einem menschlich-klugen Auge und einem tierischen Gesicht, weswegen jedes extrem intelligente und zugleich lebhafte Auge der Physiognomie etwas Affenartiges gibt, sogar im Fall eines Mannes wie Kant. Die Cantonesen wirken nicht tierisch sondern unmenschlich, weil man fühlt, dass hinter diesem für unsere Begriffe menschenunwürdigen Dasein nicht rohe Natur sondern Bildung steckt. Diese Heiterkeit ist ein Kulturprodukt… Woher das über die Maßen Unsympathische dieser Stadt? es will mir wahrhaftig nicht gelingen, reine Eindrücke zu gewinnen. Am Schmutz und Gestank kann es nicht liegen, gegen welchen in China nicht mehr einzuwenden ist, als in Italien: er gehört zum spezifischen Charakter und sogar zum spezifischen Charme; die an sich recht peinlichen Ausdünstungen von Benares habe ich auf die Dauer beinahe lieb gehabt. Am spezifisch Chinesischen kann es noch weniger liegen, denn dieses scheint im Gegenteil sympathisch zu sein. Wahrscheinlich liegt es an der extrem-kommerziellen Atmosphäre. Noch nie bin ich längere Zeit unter Geschäftsleuten kleinen Stils geweilt, ohne eine Störung meines Gleichgewichts davonzutragen. Aber auch diese Erwägung entscheidet die Frage nicht… Endlich hab’ ich’s: was mich in Canton so widerwärtig berührt, ist das Seelenlos-Maschinelle des Lebens. Die Menschen schaffen hier im tiefsten Sinne zweck- und ziellos; ihnen fehlt das vollkommen, was die Idealität des Geschäftsmanns ausmacht: das Handeln unter großen Gesichtspunkten; gleich Ameisen rackern sie sich ab. Und wenn Ameisen, die sicher nur Ameisen sind, hochintelligente Gesichter tragen und dabei unzweifelhaft gebildet sind, so wirkt das beängstigend.

Es kann nicht wahr sein, dass in Canton das Herz Chinas schlägt, wie so häufig behauptet wird. Canton ist nicht mehr typisch für dieses Reich, wie Marseille oder Neapel für Europa. Aber soweit typisch ist es wahrscheinlich doch, und vielleicht ist es gut, dass mir diese Seite Chinas ganz zuerst in so aufdringlicher Form entgegengetreten ist, da ich sie sonst über dem vielen Schönen, das mir bevorsteht, übersehen hätte. Sicher steht der Chinese der Ameise näher als irgendein Mensch; sicher steht er gerade in diesem Sinne unter uns. Aber eben hier wurzelt seine unverständliche Superiorität: die ungeheure soziale Bildung der niedersten Volksschichten. Es gibt keine Arbeiterin unter Ameisen, die an Gebildetheit in ihrer Sphäre dem größten Grand-Seigneur nicht gleichkäme.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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