Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Canton: Kunstgewerbe

Nun wäre ich doch soweit eingelebt, dass die negativen Empfindungen, welche Canton nach wie vor in mir auslöst, mich bei der geistigen Betrachtung kaum mehr stören. Wie schön ist, trotz allem, diese Stadt! Alles Dekorative ist von einer Vollendung, wie ich es nirgends bisher gesehen. Die Goldschmiede-, die Holz- und Elfenbeinschnitzkunst — was immer zum Kunstgewerbe gehört — steht auf unglaublich hoher Stufe; der erbärmlichste Handwerker hier scheint im höchsten Sinn Geschmack zu besitzen. Und wenn ich dann sehe, was für nüchterne, trockene Gesellen diese wunderbaren Kleinkünstler sind, dann bin ich jedesmal dekonzertiert. Offenbar bedeutet diese ganze Kultur in bezug auf den einzelnen gar nichts mehr; alle Vollendung beruht auf Routine. Unwillkürlich denke ich an die fernen Zeiten zurück, wo die erstarrte Form noch von Leben vibrierte… Dann aber frage ich mich, ob schöne Formen je geherrscht haben, bevor sie sich von ihrem Sinne losgelöst hatten? Florenz wird damals, als Leonardo und Michelangelo in ihm schufen, nicht entfernt so schön gewesen sein, wie zur Zeit ihres Niedergangs; zur Epoche, da die Form entstand, war sie eben noch nicht vorhanden. So ist das China von heute vermutlich sehenswerter als das der Tang-Dynastie…

Die Chinesen, die einstmals gewaltige Schöpfer waren, haben ihre Erfindungsfähigkeit offenbar eingebüßt. Um so bedeutsamer ist es, dass sie nicht entartet erscheinen — in der Sphäre der Kunst nicht mehr als in der des Lebens — wie dies zu Zeiten der Stagnation im Westen fast immer geschah; bei ihnen scheint vielmehr das Befolgen der Tradition dem Erfinden biologisch äquivalent. Alles Ungestaltete ist in China schon auskristallisiert, womit das Ende der Neuschöpfung, für eine Weile wenigstens, erreicht ist. Wenn aber das gleiche mit unverminderter Kraft immer wieder von neuem entsteht, dann ist das alles eher als Sterilität: es ist der Weg der Natur, welche auch durch ungeheure Zeiträume am gleichen festhält, ehe sie sich zu Neuerungen entschließt. Man muss die Kultur der Chinesen offenbar nach geologischen Epochen beurteilen, um ihr gerecht zu werden. So wird auch ihre Neuerungsfeindlichkeit zu deuten sein: sie sind sicher nicht wesentlich neuerungsfeindlich, denn im Lauf der Geschichte hat China keine geringeren Wandlungen als Europa durchgemacht; nur hat es sich weniger dabei beeilt. Und im allgemeinen ist es kein gutes sondern ein schlechtes Zeichen, wenn einer zu viel Eile beweist. Wohl kann es bedeuten, dass er sein Ziel so hochgesteckt hat, dass er keine Minute verlieren darf, wenn er es überhaupt erreichen will; meist aber bedeutet es nur, dass er sein Ende vorausahnt…

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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