Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Canton: Geister

In den meisten Tempeln haben die Soldaten die Götterbilder zerschlagen und die Masse sieht hierin kein Sakrileg. Vom Standpunkte der Kirche her betrachtet sind die Chinesen freilich irreligiös; als ausgesprochene Verstandesmenschen verhalten sie sich skeptisch zu allen Jenseitsmythen. Die Grundstimmung der meisten Gebildeten theologischen Fragen gegenüber ist die des Konfuzius, dass es überflüssig und schädlich sei, sich mit transzendenten Problemen abzugeben; der Sinn der Welt träte im Natürlichen und Greifbaren ganz zutage. Dass nun die Chinesen im tieferen Sinne irreligiös wären, ist sicher nicht wahr, und hierauf werde ich später wohl zurückzukommen haben. Aber soviel scheint gewiss, dass ihnen der Gottesdienst nichts Religiöses bedeutet; was hier zutage tritt, ist nichts als Aberglaube und Magie. Mich wunderte es nun, dass auch die Gebildeten in diesem Land, wo die öffentliche Meinung in ecclesiasticis so frei ist, sich bis zu einem gewissen, keineswegs geringen Grade an den Tempelriten und religiösen Verrichtungen beteiligen und ich bemühte mich, hinter den Sinn der Tatsache zu kommen. Da stellte sich denn ein gar Merkwürdiges heraus: ihnen bedeuten die Tempel ungefähr das, wie bei uns Kulturbureaus und Wirtschaftsberatungsstellen, und die Priester soviel wie Ingenieure. Sie sind die Fachleute, welche den Verkehr mit der Geisterwelt zu regeln haben.

Diese Idee finde ich nun nicht oberflächlich, sondern tief, wenn auch ein wenig grotesk gefasst, wie es in China für unsere Begriffe so häufig vorkommt. Auch den Indern sind die Götter nicht transzendente Wesen im Sinn des Christengotts, sondern Naturerscheinungen höherer Art, und die Riten dazu da, zu diesen gute Beziehungen zu unterhalten. Aber der Inder ist so kirchlich-religiös, dass er den Göttern unwillkürlich mehr zugesteht, als seiner strikten Vorstellung von ihnen entspricht; daher wirkt selbst der Kāli-Kultus nicht wesentlich verschieden von einem christlichen Gottesdienst. Die Chinesen hiergegen, praktisch und nüchtern, haben aus den Prämissen sämtliche Folgerungen gezogen, die überhaupt aus ihnen zu ziehen waren: wenn es Dämonen gibt, und wenn es möglich ist, ihre unwillkommene Wirksamkeit in eine willkommene umzusetzen, dann muss dies selbstredend geschehen; es muss Institutionen und Leute geben, welche dies wichtige Geschäft berufsmäßig betreiben. Das soll denn der Sinn der Kirche sein.

Es ist nicht zu glauben, wie beschäftigt die Techniker sind, welche die Dämonen zu besänftigen haben. China strotzt buchstäblich von Geistern, so sehr, dass die Bequemlichkeit des Lebens ernstlich unter den Störungen leidet, welche die unaufhörliche Rücksichtnahme auf sie bedingt. Weder kann man begraben, noch heiraten, wenn es einem beliebt, noch dort, wo man möchte, noch immer den Menschen, den man mag: alles hängt von Inkommensurabilien ab. Ein Missionar nun, den ich sprach, hat einen hohen Beamten einst befragt, in der Absicht, ihm seinen Glauben an Geister zu nehmen, woher es denn komme, dass in Europa keine umgingen? Er erhielt darauf die Antwort: wenn niemand in Europa an Geister glaubt, dann gibt es dort selbstverständlich keine; er persönlich wäre auch sehr dafür, dass sie aus China gleichfalls wichen; nur sei dies leider kaum zu erwarten, da der Glaube an sie zu allgemein ist, um baldigst auszusterben. Er meinte, in China seien sie objektiv wirklich, weil die Menschen stark an sie glaubten. Und in der Tat scheint es also zu sein: was immer als Einwirkung von Geistern gedeutet werden kann, als Besessenheit, Verzaubertsein usw., kommt in China häufiger vor als irgendwo sonst. — Wie feinsinnig war jener Mandarin! Er war es nicht minder als jener Brahmane, der auf die Frage, wozu das Gebet zu den Göttern nütze, da diese doch auch Naturerscheinungen seien, unwesenhaft und vergänglich, die Antwort erteilte: Gebete sind nützlich, auf dass die Götter gekräftigt würden. Gleichviel, wollte er sagen, ob sie objektive oder bloß subjektive Wirklichkeiten darstellen, jedenfalls wird durch gläubiges Gebet ein Leitungsdraht geschaffen, durch welchen die Vorstellung auf den Betenden zurückwirken kann. — Nein, ich kann in dem, was fast alle europäischen Residenten und Reisenden am Chinesen tadeln, kein Zeichen der Oberflächlichkeit sehen; im Gegenteil. Die Chinesen sehen jedenfalls tiefer in den Sinn der Dinge hinein, als die französischen Fortschrittler, deren Christenverfolgung nur als Insipidität bezeichnet werden kann; der chinesische Aberglaube ist tiefsinniger als der moderne Unglaube. Aber freilich ließen sich aus dieser Tiefe der Einsicht bessere und förderlichere Konsequenzen ziehen, als die Chinesen bisher verstanden haben.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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