Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Macau

Aus dem geschäftigen Lärm Cantons bin ich nach der idyllischsten, friedlichsten Stätte geflüchtet, die es in Ost-Asien gibt: nach dem entzückend gelegenen Macau, woselbst Camões die Luisiaden vollendet hat. Wie sehr mich die Atmosphäre Chinas schon besitzt! Wie selbstverständlich drückt sich die Reaktion gegen die City in meiner Seele dahin aus, dass mir quietistische Gedanken à la Laotse und Dschuang Tse kommen; denn sicher bedeutet die extreme Form, in welcher der Quietismus sich bei diesen äußert, eine Reaktion gegen die extreme Gesellig- und Geschäftigkeit, welche China schon zu ihrer Zeit ausgezeichnet hat. Wenn ich hier in ihren Schriften lese, dann ist mir, als lauschte ich dem Echo meiner selbst; die gleichen Stimmungen in indischer oder europäischer Färbung würden mich als fremd, ja als taktlos berühren.

Was ist es, dass der chinesischen Mystik ihren besonderen Charakter gibt? — Gewiss nicht ihr Sinn, ihr Gehalt; in dieser Hinsicht stimmt sie mit der Weisheit aller Völker und Zeiten überein. Es ist einerseits die Ausdrucksweise. Über diese brauche ich mich nicht weiter auszulassen, da sie eine unmittelbare Funktion des chinesischen Schriftsystems ist. Wie dieses überhaupt, so drückt auch die taoistische Philosophie weniger bestimmte Gedanken als deren äußersten Sinn aus. Da nun dieser Sinn allein der Unsterblichkeit teilhaftig ist, während die begrifflichen Verkörperungen sämtlich, früh oder spät, dahinwelken müssen, so bedingt dieser Umstand allerdings eine absolute Überlegenheit der chinesischen Fassungen letzter Erkenntnisse: sie allein, wie sie dastehen, werden fortleben; was in allen übrigen Literaturen nur von einigen wenigen Urworten gilt, gilt prinzipiell von allen Ausdrücken chinesischer Weisheit. Aber um diese objektiven Dinge ist es mir heute nicht zu tun: ich bin zu müde nach Canton, zu erholungsbedürftig; und dann ist Macau auch viel zu schön, als dass ich mich mit abstrakten Fragen gern befasste. Wenn ich heute an Laotse denke, so sehe ich nicht den Verkünder ewiger Wahrheiten vor mir, sondern den gemütlichen alten Herrn mit dem twinkle in his eye, mit dem unversiegbaren Humor, der gewinnenden bonhomie; und wenn ich über die Eigenart seiner Weisheit nachsinne, so meine ich die konkrete Eigenart, das spezifisch Chinesische an ihr. Diese äußert sich nun hauptsächlich im Grundton der Vor- und Umsicht, der in allen, auch den sublimsten Sätzen chinesischer Weisheit mitklingt. Nur keine Unannehmlichkeiten haben; alles fein vorausberechnen, vorausorganisieren; lieber sein Licht unter den Scheffel stellen als durch sein Leuchten unliebsame Aufmerksamkeit auf sich ziehen; lieber schwach erscheinen als stark; unter allen Umständen nachgeben. — Das ist ebenso typisch chinesisch, wie die Sehnsucht nach Frieden um jeden Preis es für den Inder ist, und tätiger Optimismus für den Abendländer. Eigentlich kann mir diese Farbe nicht sympathisch sein. Aber seit ich in Canton gewesen, verstehe ich sie so gut, dass ich beinahe bereit wäre, sie für den Augenblick selber zu bekennen. Wie soll einer stolz und frei nach Art der griechischen Weisen, oder seren-detachiert im Sinn eines Rishi werden, wenn es buchstäblich unmöglich ist, die Masse von sich fernzuhalten? Innerhalb dieser bleibt dem Weisen nichts übrig, als schlau zu sein, wenn er ein halbwegs erträgliches Leben führen will. Der Okzidentale trägt in solchen Fällen am häufigsten die Maske des Charlatans, weil unser Pöbel in seiner Vorliebe für das Neue und Ungewöhnliche dem Exzentrik gern gestattet, was er dem Weisen nie verzeihen würde, so dass es sich für diesen als beste Politik erweist, seine Weisheit als Narrheit passieren zu lassen. In China, wo das Außerordentliche unter allen Umständen verurteilt wird, bleibt dem Bedeutenden nichts anderes übrig, als jeden Anstoß überhaupt zu vermeiden, was freilich nur auf Kosten des Stolzes gelingt. Daher das Extreme der Kultur- und Gemeinschaftsfeindschaft der wenigen, denen es dennoch glückte, sich aus der Masse zurückzuziehen: es wäre unmenschlich, wenn sie auch diese letzte Spur von Ressentiment überwunden hätten. Wie vieles in China erklärt sich durch die Übervölkerung! Und wie lehrreich sind für uns Weiße, die wir ja gleichfalls, früh oder spät, zu einer kompakten Masse heranwachsen werden, die Wirkungen, die sie auf das Chinesentemperament gehabt! Ihr verdankt es ohne Zweifel seine ungeheuere moralische Kultur, in der es noch heute die ganze übrige Menschheit übertrifft. Es ist nicht möglich, bei so dichtem Beieinanderleben, wie dies in China die Regel ist, als Ungebildeter zu gedeihen; da bedeutet ein Rüpel kaum weniger Schlimmes, als ein gemeingefährlicher Verbrecher unter uns. Aber andrerseits die Nachteile! Wie soll ein Original sich entwickeln inmitten so ungeheuerer Massensuggestion? Wie soll es sich vor allem zur Geltung bringen? Schon bei uns ist es keineswegs notwendig, dass das Genie seine Bestimmung erfüllt; in China kann solches nur dank einem unerhört günstigen Zufall geschehen. Mag einer noch so viel Talent haben in einem kleinen entlegenen Dorf — wie soll er sich emporarbeiten, wenn soviel Millionen im Wege stehen? Da bedeutet Resignation a priori, allerdings das einzig Ersprießliche…

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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