Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Macau: Vorbild

Laotse sagt:

Wer sein Licht erkennt
Und dennoch im Dunkel weilt,
Der ist das Vorbild der Welt.

Das Vorbild… Ich weiß nicht, ob Richard Wilhelms Übersetzung hier genau ist, aber es sollte mich nicht wundernehmen. Hier, an dieser Stelle, ist die Kluft, die unsere Weltanschauung (der es als Sünde gilt sein Licht unter den Scheffel zu stellen), von der taoistischen scheidet, besonders deutlich zu übersehen.

Hieße es nicht Vorbild sondern Spiegel, dann wäre der Ausspruch einwandfrei. Unbewusstes Schaffen ohne Absicht, Vorwärtsschreiten ohne Weiterwollen, Sich-Bescheiden im Rahmen des Gegebenen — das ist in der Tat der Weg der Natur; und der Mann, der bewusst in ihre Spuren tritt, darf wohl als ihr Spiegel bezeichnet werden. Aber als ihr Vorbild? Lediglich dann, wenn nichts Höheres denkbar erscheint, als der Weg der Natur. Dieses ist in der Tat die Voraussetzung der gesamten chinesischen Weisheit. Während wir oberhalb der Natur ein Reich der Freiheit anerkennen, während wir es als unsere Aufgabe betrachten, den Geist der Freiheit der Naturbestimmtheit einzubilden, wodurch sich das natürliche statische Gleichgewicht nicht als Ideal sondern als Zu-Überwindendes darstellt und das Schaffen gegenüber dem Befolgen, das Überwinden gegenüber dem Sich-Fügen, allgemein das Wollen gegenüber dem Nichtwollen als der höhere Wert erscheint, haben die Chinesen gerade umgekehrt geurteilt So kommt es im äußersten zur Paradoxie, dass der Erleuchtete es als seine Aufgabe betrachtet, sein Licht unter den Scheffel zu stellen.

Der taoistischen Weisheit wird daraufhin wieder und wieder der Vorwurf eines unfruchtbaren Quietismus gemacht, nicht zum mindesten von Seiten der Konfuzianer, die doch im Letzten eines Geistes sind mit ihr. Ohne Zweifel versagt sie bei der bewussten Gestaltung dieses Lebens, wie denn auch schöpferische Arbeit ihren Grundsätzen zuwider ist. Nun ist aber doch nicht zu leugnen, dass in den Werken der taoistischen Klassiker die vielleicht tiefsten Aussprüche zur Lebensweisheit enthalten sind, die wir überhaupt besitzen, und dies zwar gerade vom Standpunkte unseres Ideals, des Ideals der schöpferischen Autonomie. Wie ist das möglich? Es ist möglich deshalb, weil das Tao, der Sinn (wie Wilhelm unübertrefflich übersetzt) im Naturschaffen bisher vollkommener zum Ausdruck kommt, als im freiesten Walten der Freiheit; so dass ein Leben, welches durchaus das Walten der Naturgewalten spiegelte, nicht umhin kann zur Vollendung zu führen.

Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.
Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel und Erde ist,
Dass sie nicht sich selber leben.
Darum können sie dauernd Leben geben.
Also auch der Berufene:
Er setzt sein Selbst hintan,
Und sein Selbst kommt voran.
Er entäußert sich seines Selbst,
Und sein Selbst bleibt erhalten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eigenes will,
Darum wird sein Eigenes vollendet?

Dieser herrliche Ausspruch Laotses ist wahr trotz der mythischen Verknüpfung, die der Weise zwischen Himmel und Mensch statuiert, weil er hier das Naturschaffen dem tiefsten Sinne nach versteht, und dem Sinne nach zwischen vegetativem und göttlichen Leben kein Unterschied besteht. So verstanden, hat der Ruf: zurück zur Natur! den Menschen immer vorwärts gebracht. Sogar wo er falsch verstanden wird, wie dies von Seiten Rousseaus und auch einiger späterer Taoisten geschah, richtet er selten nur Unheil an, weil eben die Natur in ihrer Sphäre vollkommen ist und daher sogar ein oberflächliches Kopieren ihrer, ein Zurückgehen auf ihre Zustände als solche, den begriffsgefangenen Menschen seinem lebendigen Mittelpunkte näher bringt. So viel vom Sinn der taoistischen Weisheit. Über die einzigartige Bedeutung ihres Ausdrucks habe ich mich schon ausgesprochen: von allen Formeln des Metaphysisch-Wirklichen, die bisher gefunden wurden, dürften die chinesischen allein unsterblich sein. Was nun den Menschentypus betrifft, den sie gestaltet, so kommt ihm jene Zwitterstellung zu, die auch für den Künstler charakteristisch ist: im Höchstfall gehört er zum Höchsten, was Menschenart darstellen kann; in allen anderen Verkörperungen, außer der höchsten, erscheint er anderen Typen unterlegen. So groß ein Laotse gewesen sein mag — der durchschnittliche Taoist war wohl immer ein minderwertiger Geselle.

Wenigstens müssen wir ihn also beurteilen, die wir die Bestimmung des Menschen darin sehen, über das bloß Natürliche hinauszugehen. Wenn auch wir einen Laotse als einen Größten verehren, so liegt dies daran, dass dieser große Mann die Erscheinung überhaupt durchdrungen hatte und also sowohl über die Bestimmtheit der Natur als die Bestimmung des Menschen hinausgegangen war. Ich deutete vorhin an, dass auch die Konfuzianer den Taoisten als niederen Typus beurteilen, während uns der Gegensatz zwischen konfuzianischer und taoistischer Weisheit gar nicht so groß erscheinen will: das ist das Chinesische an beiden Schulen. Hiermit wäre ich denn bei dem Punkte wieder angelangt, bei dem ich gestern abgebrochen hatte. Diese Weisheit ist eben doch chinesische Weisheit, und insofern nicht übernational und schwer von unsereinem ganz zu würdigen. Wenn ich daher sage, der durchschnittliche Taoist sei ein minderwertiger Geselle, so verleihe ich mit diesem peremptorischen Urteil möglicherweise nur meiner Europäerbeschränktheit Ausdruck.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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