Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Colombo

Wie wird mir auf Lanka, der grünen Insel? — Stündlich spüre ich mich anders werden. Ich fühle: in dieser Treibhausluft frommt es nicht zu arbeiten, zu wollen, zu streben; nur was von selbst geschieht, gelingt. Und es geschieht unglaublich viel von selbst, mehr als ich je für möglich gehalten hätte. Eigentlich alles in mir geschieht von selbst. Unaufhaltsam flaut mein Wollen ab. Ich verwandele mich zu einem sanften, weichen, genießenden Wesen, ohne Ehrgeiz und ohne Schaffensdrang.

Mein ganzes Leben wird zum Vegetationsprozess. Aber freilich: dieser Begriff erscheint nur gegenständlich, wenn er aus der Tropenflora abgezogen wird, nicht aus derjenigen nördlicher Breiten. Dort bedeutet Vegetieren ein Minimum an Leben — ein Dasein, das gerade nur sich selbst genügt; hier hingegen ein Maximum; diese Gewächse, die über Nacht von der Erde zum Himmel aufsprießen, sind an Lebenskraft den Göttern gleich. Auch auf Ceylon bedeutet Vegetieren ein Dasein, das ohne Anstrengung verläuft, aber der Anstrengung bedarf es eben nicht; es gelingt alles auch ohne sie. Das Vegetieren wird zur Form alles Lebens, sogar des geistigen. Auch der Geist wuchert, den Tropenpflanzen gleich. Schon spüre ich’s an mir selbst: die Vorstellungswelt des tropischen Menschen ist nur von der Botanik aus begreiflich. Wie die Blumen sprießen die Bilder in ihm auf, überreich, üppig, wirr durcheinander, ohne Mühe noch Aufsicht seitens des Gärtners, und insofern unverantwortlich. So ist wohl die Entwicklungsgeschichte des indischen Mythos zu deuten. Die herbe Lehre der Weisen des Nordwestens hat sich in den südlichen Zonen nicht lange erhalten können; bald begann die Einfachheit zu ziellosem Überfluss auszuwachsen. Unaufhaltsam sprossen Tausende von Göttern aus dem fruchtbaren Erdreich auf. Der Hinduismus in seinem unübersichtlichen Reichtum ist gewiss nur als vegetativer Vorgang zu verstehen.

Mit der Erscheinung, die sich von selbst versteht, identifiziert man sich nicht; keiner verlegt sein Ich in den Stoffwechsel hinein, in den Kreislauf des Bluts. Nur das, was irgendwie von unserer Bestimmung abhängt, empfinden wir als zum Selbste gehörig. So rechnet kein ernstzunehmender Abendländer die materielle Außenwelt zu sich, wohl aber die psychische, die Sphäre der Gedanken und Vorstellungen. Auf dieser natürlichen Verknüpfung sind jene typisch-westlichen Philosophien begründet, in welchen das Sein mit dem Denken, Wollen oder Handeln identifiziert erscheint. In den Tropen — schon spüre ich’s — kommt man gar nicht darauf, die psychischen Phänomene anders zu beurteilen, als die körperlichen; man kann gar nicht darauf kommen, sie metaphysisch ernst zu nehmen. Alles, was in mir vorgeht, wird in mir, wie da draußen die Pflanzen werden. Nicht ich denke, sondern es denkt in mir, nicht ich will, sondern es will in mir. So geschieht es in Wahrheit überall. Allein auch Ceylon, wo die Natur alles Nötige tut, auf dass der Mensch sich nicht missverstehe, indem sie das, was ihr zugehört, mit Nachdruck für sich in Anspruch nimmt, wird sich jeder dieser Wahrheit bewusst. Für den mittelmäßigsten Braunen muss sich Buddhas Erkenntnislehre von selbst verstehen. Der noch so gebildete Europäer sieht ihre Wahrheit nur ausnahmsweise ein. Da er sich eben dort des Handelns bewusst ist, wo jener die Tatsache des Nicht-Handelns konstatiert, neigt er notwendig dazu, einen Teil der Natur dem Selbste anzurechnen.

Die Māyādoktrin, die Lehre von der Unwirklichkeit der Welt, ist im gleichen Sinne typisch für den Tropengürtel, wie es der Naturalismus für den Norden ist. Im Norden, wo der Mensch sich ohne Rast in die Natur hineinversetzen muss, um ihre Prozesse im Gang zu erhalten, liegt nichts ihm näher, als sie durchaus ernst zu nehmen; gibt er dieser Neigung nun nach, systematisiert er die Ansichten, zu denen sie führt, dann entsteht jene Weltanschauung, nach welcher der Mensch in seinen psychischen Prozessen ganz enthalten ist. Versteht sich der Naturprozess hingegen von selbst, braucht sich der Geist überhaupt nicht um ihn zu kümmern, dann liegt es umgekehrt nahe, die Phänomene nicht ernst zu nehmen. Mehr noch: da die Willensimpulse so gering sind, dass es der Wunsch nicht zur Gedankenvaterschaft bringt, so wird dort der Erscheinungscharakter der Welt leicht so aufgefasst, dass alles konkrete Geschehen nur Trug und Gaukelspiel sei. Auch diese Weltanschauung bedeutet, genau wie ihr Gegenpol, der Naturalismus, nicht mehr als ein passage à la limite, und ist insofern menschengemäß genug. Bezeichnend ist nun, dass Pol und Gegenpol in einem zusammenstimmen: in der Stellung, die sie dem Absoluten gegenüber einnehmen. Beide leugnen ein solches schlankweg. Der Naturalismus, weil das starke Bewusstsein der Naturprozesse ein Jenseits derselben überflüssig erscheinen lässt; der Buddhismus aus entgegengesetzten Motiven. Alles, dessen der Mensch sich konkret bewusst werden kann, gehört zur Natur. Wo diese nun als nichtwirklich empfunden wird, wendet sich das Bewusstsein von seinen möglichen Inhalten ab; dort wird es leerer und leerer, bis schließlich nichts vorhanden bleibt. So ist dem ceylonesischen Buddhisten das Nichtsein der Hintergrund des Scheins; mehr enthält diese Welt ihm nicht. Solche Vorstellung ist in Europa kaum zu fassen. Seitdem ich auf Ceylon weile, beginne auch ich sie gegenständlich zu finden.

Man hat die Māyālehre mit den Philosophien verglichen, die in Europa die Unwirklichkeit der Welt vertreten haben. Dieser Vergleich trifft nicht einmal an der Oberfläche zu. Alle europäischen Illusionisten waren, sofern sie als ehrlich gelten dürfen, blutleere Theoretiker, denen eine logische Konstruktion dichter schien, als das Erlebnis; kein Westländer glaubt innerlich an die Māyā. Und doch gibt es Geister unter uns, die Wohl ein Recht hätten, sich zur buddhistischen Weltanschauung zu bekennen. Dem späten Kulturmenschen wird es schwerer und schwerer, sich in irgendeiner Form zu verwirklichen. Seine Gedanken, seine Gefühle, seine Taten bedeuten nichts in bezug auf ihn; er ist sie nicht und kann sie nicht mehr werden. Diese Bewusstseinslage ist der buddhistischen äquivalent. Allein sie hat hier Entgegengesetztes zur Folge. Der Zustand des Buddhisten ist ein glücklicher, denn nichts wünscht er sehnlicher, als dem bestimmten Dasein zu entrinnen. Der des modernen Europäers ist tragisch, denn ihn verzehrt die Sehnsucht, zu sein. Er empfindet es als Impotenz, dass er sich nicht verwirklichen kann. Das Sein absolut zu leugnen — diese Rettung des buddhistischen Nihilisten — ist dem vitalen Europäer unmöglich. So hat eben der Umstand, der auf Ceylon den Glauben an Buddhas Lehre befestigt hat, bei uns den Erfolg Friedrich Nietzsches bedingt. Nietzsches Lehre vom Übermenschen ist nämlich kein Ausdruck von Größe, sondern einer der Sehnsucht nach Größe, wohl der ergreifendste, welcher jemals gefunden ward.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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