Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Tsingtau: Äußerlichkeit

Ich muss mich doch auch der Kehrseite der chinesischen Formkultur zuwenden: der ungeheuerlichen Äußerlichkeit, die sie als ganzes heute kennzeichnet.

Dass sie überhaupt äußerlich ist, versteht sich von selbst: unmöglich kann vollendete Form wahrhaftiger Ausdruck selbst einer höchstgebildeten Masse sein. Eine Masse mag liebenswürdig, rücksichtsvoll, zuvorkommend und dennoch aufrichtig sein, aber nicht aufrichtig und zugleich höfisch-höflich; soviel Form zu füllen geht über ihre Kraft. Woher aber der extreme Charakter der chinesischen Äußerlichkeit? — Denn extrem ist er in der Tat. Der Durchschnittschinese ist dessen, was sich schickt, dermaßen eingedenk, dass er sich nur ausnahmsweise ohne Hintergedanken gibt; nur wo er sich vollkommen sicher fühlt, ganz unbefangen zeigt; er ist recht eigentlich, sein ganzes Leben entlang, sein eigener Zeremonienmeister. Dementsprechend fühlt er sich nur verantwortlich für das, was nach außen zu geschieht, für das Klappen des Zeremonials; die Gesinnung ist nicht von seinem Ressort, dünkt ihn belanglos. — Ein Lebendig-Gewordenes ist als solches nie abzuleiten; das Eigentliche entrinnt der Begründung. Immerhin kann es nicht schaden, wenn ich die allgemeinen Ursachen, welche in Frage kommen, in abstracto kurz zusammenfasse: der extreme Charakter der chinesischen Äußerlichkeit rührt daher, dass ein Volk von geringem Individualitätsbewusstsein, von außerordentlichem Formensinn und von ausgesprochen sozialer Veranlagung seit Jahrtausenden in zu vielen Exemplaren vorhanden war.

Man stelle sich vor, abertausende von friedfertigen praktischen Menschen befänden sich in kleinstem Raum zusammengepfercht, könnten nimmer aus ihm hinaus. Die einzige Möglichkeit eines guten Auskommens läge da in striktem Befolgen dessen, was allen richtig dünkt. Im Verkehr kommt es nie auf die Gesinnung an sich, sondern auf deren Ausdruck an, nicht auf das Sein, sondern den Schein; in einem Gemeinwesen, wie dem vorausgesetzten, wäre dies in äußerstem Maße der Fall. Es gäbe überhaupt keinen Spielraum für persönliche Velleitäten, nur ein Leben, das streng der Norm entspräche, könnte gedeihen. Bestände überdies ursprüngliche Neigung, das Unumgängliche zu tun, so käme dies dem Prestige der Sitte weiter zugute, das auch der Formensinn nur steigern kann. Auf diese Weise erschiene das Gemeinschaftsleben bald ganz nach objektiven Normen reguliert und eben damit veräußerlicht. — Der tatsächliche Zustand der chinesischen Gesellschaft lässt sich, wie man sieht, a priori, konstruieren. Was beweist das? Wie naturgemäß er ist. Tatsächlich stehen denn auch wir den Chinesen näher als wir glauben. Wir machen uns gern lustig über das chinesische Gesicht, die Sucht vor allem den Schein zu wahren; das Paradox, dass einer ohne Murren die Folgen seines Unrechttuns trägt, sofern er nur fingieren kann, als leide er unschuldig oder als sei sein Leiden gar kein Leiden: von uns gilt genau das gleiche. Auch bei uns kommt im Gemeinschaftsleben alles auf den Ruf, die öffentliche Meinung, den Nimbus, den Mythos an; auch bei uns bedingt das Gemeinschaftsleben allenthalben Veräußerlichung. Sobald Rücksicht auf andere überhaupt das Verhalten beeinflusst, muss die Aufrichtigkeit, die Treue gegen sich selbst in den Hintergrund treten; sobald jene entscheidet, kommt diese überhaupt nicht mehr in Frage. Mit dem Setzen des Rücksichtnehmens als Wert wird die bloße Möglichkeit einer Kongruenz von Sein und Tun, oder von Sein und Schein, im Prinzip aufgehoben. Man führe hiergegen nur nicht die christliche Liebe an: gerade sie ist wesentlich rücksichtslos; sie schert sich den Teufel um die Gefühle des Nächsten; sie will ihm gut um des Guten willen. Nur insofern wir schlechte Christen sind, nehmen wir Rücksicht auf unsere Mitmenschen. — Die chinesische Gesellschaft bringt also nur Typisches extrem, meinetwegen karikiert zum Ausdruck; die Chinesen sind kein exzentrisches Volk, sie sind nur die ausgeprägtesten und konsequentesten Menschen. Und in gewissem Sinn sind sie die aufrichtigsten. Wir alle schauspielern ständig vor uns selbst; wir alle halten uns, in bewusster Selbsttäuschung, für anders als wir wissen, dass wir sind; wir alle sind es innerlich zufrieden, wenn, dank noch so bedenklichen Transaktionen, die Apparancen vor uns selber gewahrt bleiben. Nur vor anderen scheuen wir den Schein. Die Selbstentwickelung der Idee, wie Hegel sagen würde, hat das kurzweilige Ergebnis gezeitigt, dass wir uns anderen gegenüber gerader erweisen als vor uns selbst; dass wir aus Unwahrhaftigkeit wahrhaftig sind. Demgegenüber wirkt die chinesische Art, vor anderen ebenso zu spielen wie vor sich selbst, ohne Zweifel als die aufrichtigere. Man wähne nicht, ich scherze hier bloß; ich meine es ganz ernst. Wer an die größere Aufrichtigkeit der Chinesen nicht glauben sollte, der nehme einmal die Zeitungen zur Hand, in der sie ihre inneren Angelegenheiten besprechen: nie ist mir. so uneitle Betrachtungsart begegnet, nie so rückhaltlose Sachlichkeit. Wo sie es aufrichtig meinen, dort sind sie’s auch, sonst nicht; wir tun so, als wären wir es immer.

Auch das ist typisch, kein Beweis der Exzentrizität, dass von den Chinesen dem Zeremonial eine Bedeutung zuerkannt wird, die dem modernen Menschen ungeheuerlich vorkommt. Allerdings kommt es in China mehr auf die Form als auf die Sache an: aber diesem Verhältnis begegnen wir überall auf einem bestimmten Entwickelungsstadium. Je mehr ein Volk noch Naturvolk ist, also je einfacher, urwüchsiger es sich nach der Theorie des 18. Jahrhunderts darstellen sollte, desto mehr bedeutet ihm das Ritual. Im Lauf der Entwickelung subtilisiert sich dies Verhältnis zunächst; die Riten werden verstrickter, verfeinerter; bis dann einmal der Punkt erreicht erscheint, wo der Einzelne sich gegen die von der Gesamtheit geschaffenen Normen aufbäumt und die historische Form zuletzt zerbricht. Wir Europäer befinden uns im letzten der skizzierten Stadien, die gebildeten Chinesen hingegen auf dem vorletzten; dem, wo die objektive Norm ihre äußerste Gestaltetheit erreicht hat. Dieses stellen die Chinesen in klassischer Typik dar, klassischer noch als in Europa die Franzosen des 17. Jahrhunderts, deren Zustand der chinesische von gestern so auffallend gleicht; ihnen gilt die Form des Geschehens recht eigentlich als dessen Substanz. Psychologisch beruht diese Auffassung darauf, dass der Mensch den Gestaltungen, die er erfand, zunächst nicht gewachsen ist und sie dementsprechend überschätzt — im Fall der Riten genau wie in dem der Maschinen (die mechanistische Weltanschauung von heute ist der ritualistischen psychologisch äquivalent); er sieht in ihnen selbständige Wesenheiten, nicht bloß Organe oder Ausdrucksmittel seiner selbst. Biologisch aber hängt sie unmittelbar mit der Unindividualisiertheit des Menschen dieser Stufe zusammen. Wo die Klasse im Bewusstsein des Einzelnen mehr bedeutet als dieser selbst, dort gehen die Normen, die für die Gemeinschaft gelten, der persönlichen Gleichung notwendig voran; dort hat striktes Befolgen der Sitte die gleiche metaphysische Bedeutung wie bei unsereinem die Aufrichtigkeit. Je nach der geistigen Befähigung und Kultur wird dies verschieden gedeutet: mystisch veranlagte Völker, gleich den Indern, sprechen den Riten magische Tugenden zu, phantasieärmere, wie die Franzosen, beruhigen sich bei der Sitte als letzter Instanz. Die Chinesen nun haben die tiefsinnigste Theorie ersonnen, die sich für dieses Verhältnis überhaupt erdenken ließe, und zwar tiefsinnig weniger im Sinn des Verständnisses als im bedeutsameren der Wirkung auf das Leben: sie haben gelehrt und den Glauben bekannt, dass das Befolgen der objektiven Norm den Einzelnen notwendig seiner persönlichen Vollendung zuführt. Die Masse ist trotzdem äußerlich geblieben, aber dem höheren Durchschnitt war damit ein Weg gewiesen, der sicherer, wenn nicht schneller, zum Ziel führt, als alle, welche wir gewandelt sind.

Die Bedeutung der Zeremonie in China ist eine typische, keine außerordentliche Erscheinung; sie ist typisch für eine Gesellschaft von geringer Individualisiertheit und gleichzeitig hoher Kultur. Der moderne Europäer findet es schwer, die Lebensformen einer solchen ernst zu nehmen. Aber wenn Gestaltungen überhaupt ernst zu nehmen sind, dann sind es diese auch. Für den Metaphysiker besteht kein Unterschied zwischen den Formen, welche die Natur in die Welt setzt und denen der erfinderischen Phantasie. Als Erscheinungen sind beide gleich wirklich, dem Sinne nach sind beide eins. Und wenn auch er zuweilen nicht umhin kann, die chinoiserie ein wenig grotesk zu finden, als Karikatur allgemeiner Menschenart, so erscheint sie ihm gleichzeitig gesteigert zur Karikatur der Schöpfung überhaupt. Alle bestimmte Gestaltung kann als Vorurteil gelten; jegliche wirkt, von irgendeinem Standpunkte aus besehen, grotesk. Es ist eine Frage der Stimmung, der jeweiligen Laune, ob man über den Menschen als solchen, dieses seltsame Zwitterprodukt, oder die speziellen Zeremonien, die er bei der Begrüßung beobachtet, zu lächeln Lust verspürt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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