Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Durch Shantung

Immer mehr packt mich, beeindruckt mich die Größe Chinas. Es ist ein Universum für sich, so wesentlich groß, wie kein anderes Reich, das ich betreten habe, und schon verstehe ich gut, dass seine Bewohner die übrige Welt wenig ernst zu nehmen geneigt sind. Bisweilen fühle ich mich an Russland gemahnt, jenes andere Riesenreich, das immerdar groß erscheinen wird, was immer ihm widerfahren mag: was ist dieses Gemeinsame, das mir durch alle Unterschiede hindurch so stark ins Bewusstsein tritt? Ich weiß es nicht recht; aber ich glaube, dass es die Großzügigkeit ist, welche China im selben Sinne von allen Ländern des Ostens, wie Russland von denen des Westens unterscheidet. Es gibt nichts Weiteres, Umfassenderes, als die braune Ebene, und im engsten spiegelt sie sich wieder; jeder wurzelechte Russe ist wesentlich (wenn auch nicht immer tatsächlich) eine weite, großzügige Natur. So ist auch die klare, scharf umrissene chinesische Landschaft einförmig, rhythmisch und groß und die Bewohner tragen ihren Stempel. Auch der Chinese wirkt wesentlich weit, so trocken und philiströs er häufig sei, denn der chinoiserie liegt eine gewaltige Einheit zugrunde. Der überaus vielsagende Ausdruck chinoiserie ruft zunächst ja die Vorstellung von Kleinlichem wach, wie denn das Entsprechende in Birma, Siam und Japan tatsächlich kleinlichen Charakter trägt. In China spürt man durch jede Arabeske hindurch die Substanz einer mächtigen Volksseele. Und deren Macht ist unheimlich werbend. Ich weiß es gewiss: auf die Dauer würde sie von mir vollkommen Besitz ergreifen, wie sie von so vielen schon Besitz ergriffen hat.

Die Substantialität der Chinesen fällt desto stärker in die Augen, weil das Äußerliche vielfach einen Charakter trägt, den wir Europäer nur schwer in der Vorstellung mit Tiefe zu verneinen wissen; das Zierliche, Graziöse, Verschnörkelte kommt uns als solches oberflächlich vor. Der Chinese aber ist tief; vielleicht der tiefste aller Menschen. Keiner wurzelt so tief in der Naturordnung, ist so wesentlich-moralisch; keinem bedeutet das Äußere so viel. Nur tiefe Menschen sind fähig, die Form so ernstzunehmen.

Aber was der chinesischen Tiefe ihr einzigartiges Gewicht verleiht, ist dass sie fleischgewordene Tiefe ist; sie ist gleichsam spiritualisierte Schwerkraft. In den Meisterwerken der altchinesischen Kunst trägt der Geist einen so kräftigen Körper, wie nirgends sonst. Wie gewaltig wirken altchinesische Buddha-Statuen! Sie atmen das Kraftmaß, das ein Gott besitzen müsste, um auf Erden als Gott zu erscheinen. Etwas von dieser Kraft wohnt jedem Chinesen inne, China als ganzes aber ist durch und durch von ihr beseelt.

Wer China würdigen will, muss unentwegt die Chinoiserie, die Größe des Reichs und die wurzelhafte Kraft seiner Bewohner auf einmal im Auge behalten. Die Courtoisie muss er mit der Substantialität, die Zierlichkeit der Kunst mit der Größe der Natur zusammenschauen. Wie wenig hängt doch wesentliche Größe vom Zufall der Ausdrucksgelegenheiten ab! Diese Größe wird einzig vom Sein bestimmt. China ist groß geblieben, obschon es im Kriege meist geschlagen ward, obgleich es selten eine starke politische Einheit war und wird groß bleiben, auch wenn es einmal aufgeteilt werden sollte.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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