Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Tsi Nan Fu

So eindrucksvolle Bilder der Ländlichkeit, wie auf der Fahrt durch das Innere Chinas, haben sich noch nie vor mir entrollt. Aller Boden ist in Kultur, sorgfältig gedüngt, sauber und sachgemäß beackert, bis zu den höchsten Kuppen der Hügel hinan, die den Pyramiden Ägyptens gleich in künstlichen Terrassen abfallen. Die Dörfer, aus Lehm erbaut, von Lehmmauern umgürtet, wirken als Naturformen in dieser Landschaft: so wenig heben sie sich ab vom bräunlichen Hintergrund. Überall sieht man die Bauern bei der Arbeit, methodisch, bedächtig und heiter, überall wird die weite Fläche von ihnen belebt; das Blau ihrer Kittel gehört so notwendig zum Bild, wie das Grün der bestellten Felder und das grelle Gelb der ausgetrockneten Strombetten. Der gelbe lebendige Mensch ist aus dieser Ebene nicht hinauszudenken. Zugleich aber stellt diese einen einzigen unermeßlich großen Friedhof dar. Kaum eine Ackerparzelle, die nicht zahlreiche Grabhügel trüge; wieder und wieder muss sich der Pflug pietätvoll durch die Gedenksteine hindurchwinden. Einen solchen Eindruck der Wurzelechtheit, der Bodenständigkeit gibt keine andere Bauernschaft. Hier geht das ganze Leben und das ganze Sterben im angestammten Acker auf. Der Mensch gehört ihm, nicht er dem Menschen; unveräußerbar, lässt er seine Kinder nimmer los. Mag deren Zahl noch so sehr anwachsen, sie verbleiben auf ihm, durch immer emsigere Arbeit der Natur ihre kargen Gaben abtrotzend; und sind sie tot, dann kehren sie vertrauend in den Mutterschoß zurück. Dort aber leben sie für immer fort. Dem chinesischen Bauern, gleich dem vorhistorischen Griechen, gilt das scheinbar Tote für belebt. Die Scholle strahlt ihm den Geist seiner Vorfahren aus, sie sind es, die seine Mühe lohnen, die ihn für seine Versäumnis züchtigen. So ist ihm der angestammte Grund und Boden zugleich seine Geschichte, sein Gedächtnis, seine Erinnerung; er kann ihn ebensowenig verleugnen wie sich selbst; er ist selbst ja nur ein Teil seiner. — Was sind alle ländlichen Idyllen, von den Georgicae bis zu Hermann und Dorothea, neben dieser Epopöe?

Ich muss an die Verse Laotses denken:

Der Mensch hat die Erde zum Vorbild,
Die Erde hat den Himmel zum Vorbild,
Der Himmel hat den Sinn zum Vorbild,
Und der Sinn hat sich selber zum Vorbild.

Der chinesischen Weltanschauung nach bilden Himmel und Erde, Weltgeschehen und Menschenleben, Moralität und normaler Naturverlauf einen einzigen festen Zusammenhang. Der Himmel steht über der Erde und die Erde über dem Menschen. Der Bauer ist der Mensch, der ihr am strengsten unterworfen ist. Insofern aber bildet er das Fundament des ganzen Zusammenhangs. Tut er nicht genau seine Pflicht, dann geraten Staat sowohl als Himmel ins Wanken. Damit erhält er eine Würde, wie kein anderes Wesen der Welt. Würde erkennt ihm im Prinzip wohl jede politische Weltanschauung zu; überall wird das Höchste vom Untersten getragen, das Höchstdifferenzierte von der amorphen Masse; das liegt in der Natur der Dinge. Für Chinesen aber hat diese Würde einen besonderen, gar wundersamen Sinn: ihr Geist setzt einen lebendigen, nicht bloß einen mechanischen Zusammenhang zwischen sämtlichen Teilen der Welt, wodurch das Höchste im Untersten nicht allein begründet, sondern gespiegelt erscheint; der chinesische Bauer könnte sich, wofern er dächte, als Träger des Himmels fühlen. Wo sonst ist das dumpfe Dasein der Masse zum Spiegel bewusster Weisheit geweiht worden? wo sonst die triebhaft befolgte Lebensroutine zum Sinnbild gedankenvollster Harmonie? Das ist eine Organisierung des Lebens, die dem Sinne nach nie übertroffen ward. Und dieser große Sinn hat dann, wie immer, wo er wahrhaft groß ist, auch dort die Erscheinung durchdrungen, wo er kaum verstanden worden ist. Der Zusammenhang, den die Mythe postuliert, steht im Chinesenleben tatsächlich verwirklicht da. Die differenzierten Organe, zumal die Kaiser, haben wohl häufig versagt: der chinesische Bauer war von je und ist noch heute ganz wie er sein soll. Da sieht man, wie sehr es der Geist vermag, die Welt über sich hinauszuheben, wie blind jene Naturalisten sind, welche die Ideale verleugnen und abweisen, die sich nicht als der Natur ursprünglich gemäß erweisen lassen: ob sie ihr ursprünglich gemäß sind oder nicht — sie können es werden. Der Geist säet in die Materie seine Ideale ein, und wenn die Saat aufgekommen und reif geworden ist, erscheint das Weltall verwandelt.

In der Beherrschung der Natur sind wir Europäer China weit voraus; das Leben als ihr bewusster Teil hat dort seinen bisher höchsten Ausdruck gefunden. Und schließlich sind wir Teile der Natur; ob als Herrscher oder als Beherrschte — die Grundsynthese bleibt die gleiche. Dieser Grundsynthese ist der Chinese sich vollbewusst; wir sind es nicht; insofern steht er über uns.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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