Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Ordnung und Gesetz

Ein wahnsinniger Sandsturm wütet; in den Straßen stürmt es. Die Mongolen peitschen ihre Maultierzüge vorwärts, um schneller das Obdach zu erreichen; die Chinesen in den Rickshaws tragen Tücher vor den Augen, die sich unter dem Druck des sandbeschwerten Windes wie schmutzige Schminke den Gesichtern anschmiegen. Keine Möglichkeit irgend etwas zu besichtigen. Ich verbringe meine Zeit damit, die Geschichte Tsu Hsi’s, der großen Kaiserin-Witwe, zu lesen.

Diese Herrscherin, die nach unseren Maßstäben bemessen, auf grauenerregende Weise gewütet hat, welcher Menschen nicht heiliger waren als Fliegen, die eine Hofdame einst ohne Umstände ertränken ließ, weil ihr Eintreten sie beim Malen gestört hatte — diese Herrscherin gilt ihrem Volke als gutherziges, ja allzu gutes Frauenzimmer; dieses Urteil vernahm ich erst heute von einem Mandarin, welcher unter ihr gedient hatte. Ohne Zweifel, sie war eine große Natur, und solche sind niemals schlecht; sie hat das Beste gewollt, ihre Herrscherpflichten nach bestem Gewissen erfüllt; die großen Traditionen Alt-Chinas waren in ihr in außerordentlichem Grade lebendig. Sie war eine hervorragende Regentin, eine wunderbare Menschenkennerin, zugleich eine echte Künstlerin und vollendet gebildet in der klassischen Literatur. Aber dennoch: gut war sie nicht; sie war ein Drache, kein Lamm. Dass sie unter dem Heiligenschein der Herzensgüte fortlebt, ist sehr bedeutsam, denn sicher hat dies tiefere Gründe als jene typische Metamorphose in der Erinnerung, dank welcher sogar Napoleon zeitweilig als prud’homme und Gemütsmensch gepriesen ward.

Die Hauptursache dieses Verhältnisses ist wohl die psychologische Intuition, der Sinn für das Wesen eines Menschen, der alle Asiaten und vor allem die Chinesen auszeichnet. Von Indien ab habe ich es bewundern können, wie sicher der östliche Mensch jedermann instinktiv nach dem ihm entsprechenden Maßstabe misst. Dies Können rührt seinerseits im allgemeinen (wenn ich von besonderen empirischen Bedingungen absehe) von seinem Glauben an den Typus her; denn auch wir waren bessere Psychologen, solange wir in erster Linie nicht nach den besonderen Bestandteilen sondern dem Typus einer Seele ausschauten. Wer dies nämlich tut, muss synthetisch vorgehen, muss das Einzelne im Zusammenhange sehen, dem muss dieser den Elementen gegenüber das Primäre sein. So dünkt es den begabten Asiaten selbstverständlich, eines anderen Handlungen nicht an und für sich zu werten, sondern nach dem, was sie in bezug auf ihn bedeuten. Tsu Hsi’s Gesinnung nun war zweifellos edel. Sie mordete, entweder weil es ihr politisch notwendig schien, oder weil sie nichts Schlimmes darin sah (keinen Chinesen dünkt das vom Leben zum Tode Befördern als ein Außerordentliches) oder endlich weil sie es nicht gelernt hatte, ihre Impulse niederzukämpfen. Für alle diese Umstände hatten ihre Untertanen volles Verständnis. Sie begriffen, dass Gewalttätigkeit bei Menschen in hoher und höchster Stellung nicht mehr zu bedeuten braucht, als ein ärgerliches Achselzucken beim kleinen Mann. Sie wussten ferner, wie schwer es ist, bei großer Machtfülle beherrscht zu bleiben, und stellten daher an ihre Kaiser geringere Anforderungen, als an ihresgleichen. Die Chinesen sind aus Erkenntnis tolerant, tolerant bis zur Charakterlosigkeit. Dies erklärt, wie gerade dieses Volk, dessen Weltanschauung wie keine andere moralisch orientiert erscheint, das keinen Menschen zum Herrschen für juristisch berechtigt anerkennt, der nicht auch moralisch dazu qualifiziert wäre, doch in praxi mehr Misswirtschaft duldet, als irgendein anderes von ähnlichem Kulturniveau. Die Chinesen glauben nicht, dass Menschen vollkommen sein können; sie zweifeln an der Möglichkeit fehlerfreien Funktionierens irgendeiner Institution, stehen tief skeptisch zu aller Verbesserung. Sie setzen voraus, dass hohe Beamte zur Gewalttätigkeit, niedere zur Schikane neigen, und sind es zufrieden, wenn die Missbräuche und Übelstände ein gewisses — schweigend als unvermeidlich anerkanntes — Maß nicht überschreiten. Es war sehr charakteristisch, was ein hoher Beamter neulich den berüchtigten Squeeze betreffend zu mir bemerkte: man müsse zwischen pure Squeeze und dirty Squeeze unterscheiden; dem, der nur soviel erpreßt, als er zu anständigem Unterhalte braucht (denn die offiziellen Gehälter reichen hierzu nicht aus) sei überhaupt kein Vorwurf zu machen; nur der das Maß überschreitende handele übel. Die Chinesen finden ihr noch so korruptes Regime erträglich, eben weil sie so viel verstehen und vom Menschen nur wenig erwarten. Sie setzen den Sinn überall über den Tatbestand. Deswegen finden sie auch ihr System, so schlecht es sich bewährt, doch besser als das unserige, dessen praktische Vorzüge sie nicht leugnen, weil es dem Sinne nach höher steht. Ihres ruht auf moralischer Grundlage, unseres nicht; diese Erwägung entscheidet. Ob die Beamten tatsächlich moralisch sind, tut wenig zur Sache, so erwünscht es wäre. Und schließlich verlangen sie von der Regierung in letzter Instanz nur eins: Autorität. Autorität schlechthin. Das ist die logische Folge ihres Ideals des Nicht-Regierens. Jede Autorität ist besser als keine, und eine schlecht sich bewährende besser als eine gute, sofern sie dem Sinne nach besser begründet ist.

Der grenzenlose Respekt des Chinesen vor Ordnung und Gesetz bedingt zugleich sein Sich-Schicken in gelegentliche Unregelmäßigkeit. Es kann nicht geleugnet werden, dass die Erfahrung für, nicht gegen die Zweckmäßigkeit seiner Auffassung spricht. In diesem Riesenreich, in welchem noch nie radikale Maßnahmen gegen bestehende Missbräuche ergriffen worden sind, hat im Großen mehr und dauerndere Ordnung geherrscht, als in allen energischer betriebenen Staatswesen; in diesem Land ohne Polizei, mit Behörden von zweifelhafter Integrität wird im ganzen weniger gestohlen, gemordet, veruntreut, gestritten, gehadert, als im so wohlorganisierten Deutschen Reich. Nichtsdestoweniger muss ich denen beistimmen, die gerade die Eigenschaften der Chinesen, die das Funktionieren dieses Staatskörpers gewährleisten, am unsympathischsten finden. Dem chinesischen Mittelstande fehlt moralischer Mut, des Heroismus scheint er völlig unfähig; seine Haut trägt er niemals zu Markt, er lügt lieber, als dass er eine Wahrheit sagt, die ihm Unbequemlichkeiten verursachen könnte. Er ist das Prototyp des Utilitariers. Ja er ist es mit Bewusstsein und Stolz. Und das gilt nicht allein vom bourgeois: Laotse sagt von den Meistern des Altertums:

Zögernd, wie wer im Winter einen Fluss durchschreitet,
Vorsichtig, wie wer von allen Seiten Nachbarn fürchtet,
Zurückhaltend, wie Gäste,
Einfach, wie unbearbeiteter Stoff,
Weit waren sie, wie die Tiefe,
Undurchsichtig waren sie, wie das Trübe.
Und weiter:
Ihre Art ist es, den Rückzug zu lieben.

Die sogenannten adligen Tugenden können dort nicht aufkommen, wo die Welt als unwandelbar gilt und Harmonie à tout prix als Ideal. Wer einer statischen Weltanschauung huldigt, geht für kein Ideal in den Tod, strebt die Welt nicht umzuwandeln, trägt überall nur dem gegebenen Rechnung. Wer dergestalt denkt und handelt, ist gewiss nicht adelig zu nennen. — Liegt nicht eine tiefe Ironie darin, dass der Chinese gerade dank seinen unsympathischen Eigenschaften das höchste Beispiel sozialer Ordnung gegeben, die größte soziale Bildung erreicht, die soziale Frage buchstäblich auf lange Zeit hinaus gelöst hat? Wird nicht der Fortschritt auch uns fortschreitend unedler machen, da doch mit wachsender Ordnung und Lebenssicherheit auch das Sicherheitsideal im Werte steigen muss?

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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