Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Chinesischer Klassizismus

Heute endlich ist der Geist des chinesischen Klassizismus über mich gekommen. — Zum Geist einer lebendiggewordenen Kultur gibt es keinen Zugang von außen her, er ist eine Monade ohne Fenster; wen er nicht besessen hat, der ergreift ihn nicht. Und er erscheint desto ausschließlicher, je mehr das Wort in ihm zu Fleisch geworden ist. Den Protestantismus zu verstehen, gelingt zur Not noch ohne Bekehrung; den Katholizismus versteht nur der, welcher in gewissen Stimmungen zum mindesten katholisch empfunden hat; im gleichen Sinn ist die französische Kultur ein Abgeschlosseneres als die deutsche. Und nun gar die chinesische! Wenn irgendeine scheinbar abstrakte Wesenheit den Anspruch auf konkrete Wirklichkeit erheben darf, dann ist es der Geist dieser Kultur. Er ist etwas dermaßen selbständiges, dass die Individuen, die er beseelt, kaum mehr Individuen sind: sie wirken als bloße Repräsentanten. — Was ich als äußere Anschauung schon oft erfahren hatte, das widerfuhr mir heute früh nun selbst, als ich in Begleitung eines Schriftgelehrten im Tempel Kung Fu Tses weilte.

Im Vorhofe dieses Tempels, den die Seelentafeln aller Weisen des Landes zieren, sind seit der Yüan-Dynastie die großen Staatsprüfungen abgehalten worden, und der Name jedes, der sie mit Ehren überstand, steht auf steinerner Tafel verewigt. Nebenan, in lauschiger Halle, sind die Werke der neun Klassiker dem dauerhaften Marmor eingeprägt. Eben dort pflegte der Kaiser alljährlich seine eigenen Gedichte vorzulesen. Es weht eine Atmosphäre der Kultur an dieser Stätte, wie ich sie gleich intensiv meines Wissens nie eingeatmet habe. Unaufhaltsam drang sie durch meine Poren ein. Und indem ich mich in die Seele des Literaten hineinversetzte, der mir mit ehrfurchtbebender Stimme die Denkmäler und Inschriften erläuterte und hie und da, mit begeistert leuchtenden Augen, berühmte Stellen aus den Klassikern vorlas, beschwor ich den Geist, nach dem ich fahndete.

Welch einzigartiger Geist! Es ist, so unerwartet dies klinge, der leibhaftige Geist der klassischen Philologie, und doch kein blasses Schemen, sondern ein ganz substantielles Gebilde, mit das dichteste, das mir in dieser Sphäre seit lange begegnet ist; seine Densität scheint mir erheblich größer, als die des Literaten, der mir zum Mittler dient. Hier ist also der Geist einer bestimmten literarischen Tradition tatsächlich zur Seele einer lebendigen Menschenklasse geworden. Ich mag mich wenden wohin ich will, welche Saite ich immer will meines Wesens zum Anklingen bringen: er lässt mich nicht los. Alles erfahre ich als Ausdruck, Erläuterung, Ergänzung oder Illustration der klassischen Weisheit, und zwar in der Form, welche diese stilistisch auszeichnet. Und seltsam: ich sollte mich beengt fühlen, tue es jedoch nicht; mir ist, als seien meine Erfahrungsmöglichkeiten durchaus nicht eingeschränkt; sie erscheinen nur wie anders gefärbt. — Aber nein: natürlich bin ich eingeschränkt, nur kann ich es nicht mehr spüren; ich habe mein normales Bewusstsein gegen ein anderes eingetauscht; und sollte als Philosoph doch wissen, dass die Rose von ihrem Standpunkte zu übersehen außerstande ist, inwiefern sie unter dem Veilchen steht. Nur soviel kann ich unmittelbar erkennen, was der objektiven Kritik standhalten dürfte: ich bin ungeheuer viel eindeutiger als sonst; auf alle Eindrücke reagiere ich einem einheitlichen Plane gemäß, alle Einfälle entspringen einem identischen Quell und beim Ausdruck zumal empfinde ich gar kein Zögern: wo ich sonst nach entsprechenden Formen mühsam suche, bilde ich mich jetzt instinktiv den überkommenen ein, und habe dabei das Bewusstsein, mich durchaus eigentlich, originell und persönlich auszudrücken.

Das ist ein sehr bedeutendes Erlebnis. Generell ist es mir nicht neu: der Geist des Katholizismus besitzt einen in eben dem Sinne; auch er gibt dem Bewusstsein weniger neue Inhalte, als dass er eine neue Bewusstseinsform erschafft, auch er ist so alldurchdringend, dass er jede einzelne Seelenregung ergreift; auch er vermag es, alles Persönliche in objektive Formen hineinzuleiten, so dass ein noch so freier Geist sich durch die Dogmen nicht notwendig beengt fühlt und der Spontanste, Lebendigste nicht selten an der Observanz überkommener Riten sein persönlich-entsprechendstes Ausdrucksmittel findet; auch er schafft recht eigentlich eine besondere Menschenart. Aber beim Katholizismus erscheint dies verständlicher, denn dessen Geist stellt einen hochentwickelten und so allseitig und fein differenzierten Organismus dar, dass er die Möglichkeiten des reichsten Individuums in sich begreift. Der des chinesischen Klassizismus hingegen ist arm zu nennen; der zugrunde liegenden Wurzelideen sind wenige und der Stamm ist wenig verzweigt und undicht ausgeschlagen. Wie kommt es, dass ich mich trotzdem nicht arm fühle, dass der chinesische Literat, potentiell wenigstens, ein Vollmensch ist? denn das ist der Puritaner nicht, das Kind eines gleich armen Geistes, das ist auch nicht der Buddhist, vom europäischen klassischen Philologen ganz zu schweigen, der im übrigen zum gleichen Genus gehört, wie der chinesische Literat. — Es liegt wiederum an dem, was ich wieder und wieder als das Hauptmerkmal östlicher Weisheit erkenne: an der Konzentration, der sie ihren Ursprung verdankt, und an der Konzentration, mit der sie studiert wird. Die Lehre der chinesischen Weisen ist karg und einsilbig nicht, weil sie ausschließt, sondern weil sie verdichtet; ihre Sätze stellen, so aufgefasst, wie ein gebildeter Chinese sie versteht, die Essenz aller nur möglichen Erscheinung erschöpfend dar. Und das gilt vom Ausdruck wie vom Sinne. Je tiefer ein Verhältnis erfasst wird, desto näher gelangt man dem Schnittpunkt der Koordinaten, die zu seiner Bestimmung dienen, desto weniger Begriffe kommen in Frage. Bei unserer arithmetischen Ausdrucksweise (in der wir notgedrungen auch die chinesische Weisheit darstellen), tritt das nicht immer deutlich an den Tag; bei der algebraischen der Chinesen liegt es auf der Hand, so dass der klassische Ausdruck als einzig-möglicher erscheint vom Standpunkte jedes, welcher den Sinn erfasst hat. Dieses aber ist ja das Ziel und der Erfolg der spezifisch-chinesischen Schulbildung. Uns klingt es grotesk, dass einer zehn bis zwanzig Jahre beim Studium des Konfuzius allein verbringen soll: er studiert eben nicht auf unsere Weise; er meditiert jeden einzelnen Satz, bis dass der Sinn sein Innerstes durchdrungen hat, und ist er dann am Ziel, so heißt das nicht, dass er den Konfuzius in unserem Sinne begriffen, sondern dass der Geist des großen Lehrers von ihm vollkommen Besitz ergriffen hat, gleich wie eine große Leidenschaft vom Menschen Besitz ergreift. Damit erhält denn das Philologische einen neuen Sinn. Wenn der Geist einer Kultur als besessen vorausgesetzt werden darf, dann kommt wirklich nichts anderes in Frage, als alle Aufmerksamkeit dem Ausdruck zuzuwenden, und wo dieser in der klassischen Literatur vollendet vorliegt, ist philologisches Studium tatsächlich das Tor zur Humanität. Unsere Philologen erkennen europäisch-klassischen Studien die gleiche Bedeutung zu; auch sie behaupten, der klassisch Gebildete, der des Lateinischen und des Griechischen Mächtige, der Kenner des Cicero, sei allen Aufgaben des Lebens gewachsen. Aber für Europa ist das nicht mehr wahr. Der Geist Griechenlands und Roms ist gar nicht unser Geist, sondern sein Vorfahr; und so vollendet er war, anderen hilft er nicht zur Vollendung, wie der chinesische dies tut, weil er nicht gleich tief wurzelt. Dieser verkörpert den Sinn gleichsam an sich, jenseits aller Erscheinungsform, jener in Gestalt eines bestimmten Phänomens, welches qualitativ verschieden ist von dem, das unser Dasein abgrenzt. Deshalb kann der klassische Philolog im heutigen Europa kein Vollmensch sein, ist dort klassische Bildung nicht unumgänglich zur vollendeten Ausbildung der Persönlichkeit und wenig nütze zur Meisterung des Lebens, so wertvoll ihr Besitz sonst sei. In China macht sie den Menschen vollendet und überdies zum praktischen Leben geschickt. Mit Recht wurden bis zur großen Revolution alle Staatsposten von Doktoren der Philologie besetzt, galt Bestehen der literarischen Staatsprüfungen als absoluter Befähigungsnachweis. Der Chinese, der den Geist seiner Klassiker innerlich aufgenommen hatte, war dem alt-chinesischen Leben in allen seinen Äußerungen im selben Sinn gewachsen, wie in Amerika der, welcher bei sonst noch so mittelmäßigen Kenntnissen vom Geist der Initiative durchaus besessen ist.

Aber freilich: dieser Geist ist ein erwachsener, fertiger Organismus; er kann sich fortpflanzen, betätigen — erneuern kann er sich nicht mehr; dem China, das nicht die Welt in sich beschließt, wird er nicht mehr zum Heile gereichen. Und dann ist er, bei allen seinen Vorzügen, allzusehr ein Geist der Philistrosität. Wenn der Philolog, der Schriftgelehrte, der Literat von einer Nation als Idealtypus verehrt werden kann, dann müssen die Eigenheiten dieser Menschenart irgendwie auch vom Wesen gelten. So ist es. Ich versenke mich in den Geist, der mich besitzt: ja, er ist unbeugsam, pedantisch, starr, altklug und schrullenhaft. Mein Bewusstsein ist das eines Schulmeisters, oder genauer, eines streberischen Musterschülers, welcher stolz auf sein Angeeignetes ist. Heute könnte ich nichts Leichtsinniges vornehmen, unmöglich mich verlieben, es sei denn in eine Musterschülerin; nimmer wagte ich’s, einen Gedanken zu verfolgen, dessen Richtung nicht durch Autorität gewiesen wäre, der Sinn unabhängig vom Wort interessiert mich nicht. Und das schlimmste dabei ist, dass ich mir in dieser Gestalt sehr wohl gefalle, dass es mich gar nicht hinausdrängt aus den Schranken meines Philistertums. — Ja, ja, die Tiefe, die sich einmal ausgeprägt hat, ist eben damit zur Oberfläche geworden. Eine kurze Zeit über erscheint diese dadurch vertieft, bald aber findet eine intime Umwandlung statt, dank welcher sie wiederum verflacht; der Geist, der sich dem Buchstaben erst einbildete, löst sich nun auf in ihm. So ist die Bedeutung jedes Kulturwerts letzthin eine Frage der Zeit. Dem Chinesen, dem es ums Ewige zu tun ist, muss es drum näher als allen anderen Menschen liegen, alle Gestaltung überhaupt zu verleugnen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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