Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Vollkommene Harmonie

Die letzten Tage, die ich für Peking übrig habe, verbringe ich auf Ausflügen in die Umgebung. Wie großzügig ist diese Natur! wie mächtig erweitert sie das Selbstbewusstsein! Die rhythmische Einförmigkeit der Landschaft gibt ihr den Anschein unbegrenzter Ausdehnung, die klare, trockene Luft macht alle Entfernung illusorisch; mir ist, als reichte mein Blick bis an die Grenzen der Welt. Wäre ich zu Peking als Erbe des Drachenthrons geboren — mir erschiene es wohl selbstverständlich, dass ich der Gebieter des Erdballs bin; zumal es der Beweise nicht bedürfte. Aus der Geschichte des Altertums erhellt, dass das bloße Dasein des Kaisers genügt, um die Welt in Ordnung zu erhalten. Von der Wiege auf würde mir Shun als Vorbild vor Augen gehalten werden. Dieser heilige Mann hat nur dagesessen, sein Antlitz gen Süden gewandt; und es herrschte vollkommene Harmonie. Die Jahreszeiten hielten ihre Fristen ein, alle Söhne dienten ihren Vätern, alle Gatten liebten einander, alle Beamten waren redlich und treu. Mir würde immer wieder versichert: wenn ich nur meine Person zur Vollendung brächte, dann würde der Kosmos sich von selber richten. Und wenn ich mir klar machte, was das sagen will, welch ungeheure Bedeutung mir innewohnt, und dann hinausblickte in die weite Natur ringsum, dann dächte ich freilich: ich bin groß!

Allein ich dächte es ohne Hybris, in aller Bescheidenheit; ich dächte es vielleicht in aller Demut. Ich hätte das gleiche Gefühl, das den Bergsteiger überkommt, wenn er endlich vom Gipfel seiner Sehnsucht um sich blickt: des Großseins, ja, aber inmitten eines so ungeheuer viel Größeren, dass er tatsächlich vielmehr im Bewusstsein seines Kleinseins schwelgt. Ich, der Kaiser, bin ja nur ein Rad im unendlichen Weltmechanismus; das Größte, das Schwungrad vielleicht, aber doch nur ein Glied im Betriebe. Und in Demut gedächte ich daraufhin der Unbeschränktheit meiner Gewalt. Weswegen heißt man mich unbeschränkt, wo ich doch für die ganze Schöpfung verantworte, wo eine geringfügige Nachlässigkeit meinerseits unsägliches Unheil zur Folge hätte? Man heißt mich unbeschränkt, weil Keiner über mir steht. Irgendwo muss die letzte Instanz doch erreicht sein. Alle moralische Wirksamkeit fußt auf Autorität, wo diese nicht unbedingt ist, dort fehlt sie ganz. Die Barbaren, die Christen, so vernehme ich, schieben jene unbedingte Autorität auf einen Gott ab, den niemand jemals gesehen hat. Das muss die Erfindung eines schlauen, aber ungerechten Kaisers gewesen sein, der es sich leicht machen wollte; oder bei dem der moralische Sinn nicht genügend ausgebildet war. Ich würde mich schämen, die äußerste Verantwortung nicht zu tragen. — Ich fahre hinaus aus der Psyche des Himmelssohns und hinein in einen der Vielen, die als Neugierige, vom Fernen Westen daherkommend, die Kaiserstadt des Fernen Ostens heimsuchen. Welch’ überraschende Entdeckung! Von einem ganz Großen bin ich in einen ganz Kleinen hineingewandert, und finde, dass dessen Selbsteinschätzung tausendmal größer ist. Er erkennt nichts über sich an; er hält sich für den höchstdenkbaren Menschen, den berufenen Weltbeherrscher. Überdies aber für unverantwortlich; er steht außerhalb des Naturzusammenhangs. — Welcher Autokrat ist der ehrwürdigere, der Kaiser, der bewusst die Verantwortung für den Weltprozess trägt, oder der freie Amerikaner, der sich des rühmt, die Welt zerschmeißen zu können?

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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