Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Hankow

Auf dem Wege von Peking hierher ward der Zug unversehens von Soldaten angehalten. Es war eine selbständige Division, die sich weder zur Republik noch zum Mandschuhause bekannte, die sich offenbar langweilte und die wenigen Abwechslungsmöglichkeiten, welche sich darboten, gierig ergriff. Erst sah es nicht unbedenklich aus, wie wenig die Zugführer selbst Bedenken zeigten: die Soldaten stürmten mit gefälltem Bajonett in die Waggons hinein, und machten Miene das Gepäck zu perquisitionnieren. Allein sie taten nichts; mitten im Sturm schienen sie auf irgend etwas zu warten; und wie dann die Friedensstifter kamen und mit sanfter Miene in sie hineinzureden begannen, da schienen sie zu haben, was sie wollten. Es dauerte Stunden, bis die Verhandlungen abgeschlossen waren; doch dann ließ man uns ungeschädigt ziehen.

Welch’ seltsame Soldateska! Während meines Aufenthaltes in Kanton tobte dort der Kampf zwischen Regierungstruppen und Piraten; aber gelegentlich wurde Pause gemacht, und dann verkehrten die Feinde so friedlich miteinander, als ob sie gar nicht im Streite lägen. In Hankow wird erzählt, dass die Fußball spielenden Residenten letzthin durch die Kugel, die vom nahen Schlachtfelde herüberschwirrten, belästigt wurden; sie schickten dem ihnen am nächsten postierten General eine Botschaft zu mit der Bitte, ob er das Schießen nicht lassen könne, bis dass sie ihren Match beendet hätten; und wirklich soll dieser ihrem Wunsche Folge geleistet haben. — Die Chinesen scheinen Krieger zu sein, wie man Schuster oder Strumpfwarenhändler ist, d. h. ohne irgendwelche Idealität mit dem Waffenhandwerk zu verknüpfen; und während sie es ausüben, scheinen sie mit dem Herzen kaum dabei. Was Wunder in einem Reich, dessen Volk seit Menschengedenken den Frieden à tout prix als höchstes Ideal bekennt? In der chinesischen Literatur stellt sich der Feldherr selten als Held, desto häufiger als Raufbold und Bramarbas dar, und gewöhnlich als roher Patron schlechthin. Nie ist es in China als Schmach empfunden worden, wenn ein Feldzug verloren ward; immer wurde den Waffen des Geistes über der Faust der Vorrang zuerkannt. Eine hübsche Legende berichtet, wie Gesandte eines Barbarenkönigs einst zum Kaiser kamen um ihm mit Krieg und Eroberung zu drohen. Dieser wusste anfangs nicht recht, was er erwidern sollte, denn von dem Unwert seines Heers war er überzeugt und über das fremde nicht genügend unterrichtet. Da fiel ihm der Dichter ein, der gerade an seinem Hofe weilte: der verstünde gewiss eine solche Antwort aufzusetzen, dass die Gesandten erschreckt von dannen ziehen würden. Der Dichter war, wie gewöhnlich, des Weines voll; nur mit Mühe gelang es zuletzt der Kaiserin, unter Mithilfe ihrer allerschönsten Frauen, ihn aus dem Rausche aufzurütteln. Doch wie er dann endlich begriff, um was es sich handelte, da erfand er aus dem Stegreif solch’ feine Rede, zugleich vom Geist so überlegener Kraft beseelt, dass die Gesandten wahrhaftig entsetzt von dannen zogen und ihrem Herren berichteten: solcher Macht sei sein Heer nicht gewachsen. — Mehrfach hatte ich im Gespräche mit Mandarinen bemerkt, dass sie physischen Mut nicht bewunderten, sondern verachteten. Zwar gaben sie zu, dass er zeitweilig von Nutzen sei, und dass man Leute unterhalten müsse, die ihn besitzen; nur seien dies keine höheren Menschen; Freude am Streit beweise Vulgarität. Der Soldat galt ihnen als tief unter dem Gelehrten stehend, mehr dem Bulldoggen als dem Menschen vergleichbar. Sicher gravitieren auch wir einem Zustand entgegen, woselbst die Tugenden des Kriegers an Bedeutung verlieren werden, indem die Gebrechen dieses Typus größer erscheinen werden, als seine Vorzüge; und in vielen Hinsichten ist er erstrebenswert. Aber wir werden seine Vorteile teuer bezahlen: philiströs, opferunfreudig werden, an Adel der Gesinnung verlieren. Leider bedeutet, so wie die Dinge einmal liegen, das Ideal des ewigen Friedens ein absolutes nur für das Himmelreich. Wir Erdbewohner bedürfen des Ansporns materieller Gefahr, wenn wir des Idealismus fähig bleiben sollen. Wie wenig rund ist, trotz Galilei, die Welt! Das Duell ist eine arg barbarische Einrichtung, welche verschwinden muss; schon heute widerspricht sie unserer ganzen sonstigen Lebensanschauung. Dennoch stehen die Menschentypen, die sich schlagen, in vielen Hinsichten über denen, die darüber hinaus sind. Ihr Vorurteil verbietet ihnen auf alle Fälle, natürlicher Furchtsamkeit nachzugeben, lehrt sie handeln der Erkenntnis gemäß, dass es höhere Werte als das Leben gibt und erzieht sie vor allem, indem es sie zwingt, dem Gegner gleiche Siegeschancen zu gewähren, zur Achtung fremder Persönlichkeit im höchsten Sinn.

Vor mir wälzt der Yangtse seine schmutzigen Fluten. Tausende von schwitzenden Kulis rackern sich ab auf den Dampfern und Dschunken, verladend, schleppend, tragend, schiebend, stoßend, ziehend, zerrend. Solches Leben frommt dem Chinesen besser als der Kampf für das Vaterland. Sein Idealismus tritt zutage in der Art, wie er die Mühe des Alltags trägt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME