Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Auf dem Yang Tse

Nun schwimme ich auf dem gütigen Strom, ohne den die unermeßlichen Landstrecken, die er durchfließt, ebenso viele Wüsteneien wären. Sein Gefälle ist bedeutend; allein es ist, als bewegten sich die Wasser kaum, so groß und schwer ist ihre Masse, gleichwie der Flug der Wildgans neben dem des Zaunkönigs langsam wirkt. Auf den Ufern des Yang Tse grünt es, wächst es, gedeiht es überall. Wohin ich blicke, ist das verständige Schaffen des Bauern zu spüren; wohin ich mich wende, erscheint er als die Hand der Natur.

Das ist das eigentliche China, das unsterbliche. Seit ich seine Blüte kennen gelernt, erkenne ich’s mit doppelter Deutlichkeit: die Wurzel der gesamten chinesischen Kultur ist ihr Bauerntum. Stellte das konfuzianische System nicht den vergeistigten Ausdruck eines wurzelechten Naturzustandes dar, nie hätte es zum Skelett ganz Chinas werden können.

Die Geschlechter, die zu den Zeiten Shuns und Yaus den Acker bestellten, sitzen heute noch auf der ererbten Scholle, ihres Stammbaums tief bewusst. Nur selten wandert einer aus. Wo der Bauer sich zeitlebens abgemüht, dort wird er auch der Erde zurückgegeben. Der Acker ist die Wiege ganz Chinas. Einen erblichen Adel gibt es nicht. Dann oder wann glückt es diesem oder jenem, die großen Prüfungen zu bestehen, und der rückt dann zu höheren Stellungen auf. Die Masse bleibt ewig wie sie war.

Ich kenne keinen, der länger unter chinesischen Bauern geweilt und sie nicht von Herzen zu lieben, ja zu verehren gelernt hätte. In ihnen sind die Tugenden der Patriarchenzeiten wirklich lebendig. Was Konfuzius und Mencius gelehrt, stellt ihr Leben wie selbstverständlich dar. Hier ist alle äußere Ordnung wirklich ganz aus der Gesinnung heraus geboren, ja hier erscheint kein System auch nur denkbar, dass nicht in natürlichen Trieben begründet wäre. Wann wären unter urwüchsigen Verhältnissen staatliche Gesetze notwendig gewesen, um die Beziehungen zwischen Familiengliedern zu regeln? Es ist den Eltern natürlich, ihre Kinder zu lieben und umgekehrt; es ist einer Sippe natürlich, zusammenzuhalten. Je dichter nun eine Bevölkerung ist und je friedlicher und vernünftiger veranlagt, desto mehr wird das Natürliche zum Sittengebot. Es liegt dermaßen auf der Hand, dass ein Dasein wie das ihre nur bei harmonischem Zusammenarbeiten gedeihen kann, dass es als frevlerisch, weil naturwidrig wirkt, die Harmonie zu stören; es liegt ferner dermaßen auf der Hand, dass die unvermeidliche Ordnung niemanden bedrückt, der sie als Verwirklichung seiner Wünsche bewillkommnet, dass es unumgänglich erscheint, die natürlichen sozialen Impulse nach Möglichkeit auszubilden. So ist denn die Liebe zwischen Familiengliedern, die Ehrfurcht vor Alter und Autorität, von den chinesischen Bauern so intensiv gepflegt worden, dass sie längst zu den formgebenden Momenten ihrer Seelen geworden sind. Nun liegt dem naiven Menschen nichts näher, als ins Unbegrenzte hinaus zu verallgemeinern; so ist das ganze große Reich nicht allein, nein das Weltall als ein Zusammenhang begriffen worden, der auf den natürlichen Beziehungen zwischen Familiengliedern beruht. Wenn die Söhne den Vätern die schuldige Ehrfurcht erweisen, dann wird es auch rechtzeitig regnen. Diese uraltchinesische Bauernweisheit, deren sich das einfache Volk wohl kaum bewusst war, so sehr es sie lebte und handelte, ist dann in den Meistern des Altertums explizit geworden. Und da diese eben das lehrten, was dem Handeln der Menschen ohnehin zugrunde lag, so geschah zweierlei: ihre Satzungen wurden ohne weiteres als richtig anerkannt, und sie wurden, nun sie auch dem Bewusstsein gegenwärtig waren, mit doppelter Aufmerksamkeit befolgt. Auf diese Weise geschah es, dass der Konfuzianismus mehr und mehr zur Bewusstseinsform Chinas heranwuchs, nachdem er längst schon seine Daseinsform dargestellt hatte, und mit dem Fortschritt der Nation sich wohl differenzierte, klärte, verkünstelte, aber nie seinen ursprünglichen Sinn verlor.

Das war möglich nur dank dem besonderen historischen Umstände, dass die Chinesen von Alters her bis heute eine Bauernnation geblieben sind, dass sich dort keine mächtigen Kasten gebildet haben, deren Lebensnormen den bäuerlichen entgegenstanden; dass die noch so komplizierte Verfassung der späteren Zeiten dem Sinne nach bis heute patriarchalisch geblieben ist. So gerieten die Satzungen Kung Fu-Tse’s und Mong Tse’s nie in Widerspruch mit der praktischen Nützlichkeit; so blieben sie zeitgemäß. Je tiefer einer zu denken fähig war, desto mehr musste er über ihre Weisheit staunen; so hat sich ihr Prestige im Lauf der Jahrhunderte ständig vermehrt. Und das war notwendig, wenn sie die alte Wirkungskraft behalten sollten. Die Ideen der alten Meister waren, so tief sie im Menschlichen wurzelten, doch allzu einfach; nur unkomplizierte, ursprüngliche Seelen gehen in der Naturordnung restlos auf. Aber freilich bleibt sie das Fundament auch der entwickeltesten. Dank nun dem Prestige, das die konfuzianischen Sätze genossen, sahen sich die subtilsten Geister veranlasst, sich tief in ihren Sinn hineinzuversenken, wodurch das in ihnen lebendig blieb oder aufs Neue lebendig wurde, was dem Bewusstsein nichtchinesischer Kulturmenschen nur. ganz ausnahmsweise gegenwärtig ist; daher die naturhafte Tiefe, welche noch so verfeinerte Chinesen meistens auszeichnet. Bei ihnen ist der Sinn für das Ursprüngliche stets lebendig, das Verhältnis der Kinder zu den Eltern und umgekehrt wird so tief erfasst, wie in Europa nirgends mehr; die Naturtriebe werden entsprechend kultiviert. Daher bei den Verfeinertesten immer noch ein lebendiger Sinn für das Einfache und Ursprüngliche, bei Dekadenten noch ein lebendiger Begriff für den Sinn der Moralität. Ich habe nie einen Chinesen gesehen, dem Moralität etwas anderes bedeutet hätte als gebildete Natur. Trotzdem ist freilich kein Mandarin ein so guter Konfuzianer wie jeder Bauer des Yang Tse-Tals, eben weil der Konfuzianismus ursprünglich nur dem Bauernhorizonte gemäß ist. Aber solange es keine Kasten in China gibt, solange der Bauer der Chinese bleibt und als solcher seinen Charakter nicht ändert, werden die Eigentümlichkeiten nicht aussterben, dank welchen der Chinese noch heute als der moralisch gebildetste Mensch erscheint.

Solange… Wird der Bauer auch nach der neuesten Umwälzung der Alte bleiben? Und wenn nicht, was dann? Mit tiefer Wehmut blicke ich auf die Felder und Dörfer ringsum, auf die unermüdlichen Landleute, die längs dem Yang-Tse-Gestade ihren altgewohnten Beschäftigungen nachgehen. Eine Armut, wie sie für den Chinesenbauern typisch erscheint, ist freilich ein absolutes Übel — aber wie soll sie überwunden werden ohne Anspornung des individuellen Egoismus, wodurch die moralische Grundlage der wunderbaren chinesischen Zivilisation, der allmächtige Familiensinn, zerstört würde? Für den Schmutz ist wenig anzuführen: aber wie soll Reinlichkeit einziehen, bevor der Wohlstand gewachsen ist? Entsetzlich ist es fürwahr, dass so viele Menschen Jahr für Jahr an Hunger und Seuchen zugrunde gehen; aber wo soll der Bevölkerungsüberschuss hin, wenn die Selbstregulierung der Natur zerbrochen wird? Allerdings ist ein höherer Gleichgewichtszustand denkbar, als der bisherige ihn darstellt, aber es wird Jahrhunderte währen, bis dass er herbeigeführt ist, und bis dahin wird das Elend größer werden, als es früher war. Was ist der Kern des sozialen Elends bei uns? Dass die Menschen zu viel wissen, um innerhalb der engen Verhältnisse, in denen sie leben, glücklich zu sein, und nicht genug wiederum, um einzusehen, dass der Zustand nur im Laufe langer Zeiträume verändert werden kann, weshalb es keinen Sinn für sie hat, gewaltsam aus ihm hinauszustreben. In Amerika ist es sicherlich angezeigt, jeden einzelnen lernen zu lassen, so viel er nur will, denn dort sind die Verhältnisse noch so weit, dass jedes Talent sich durchzukämpfen Aussicht hat; im engeren Europa sind sie’s nur ausnahmsweise, weswegen es besser wäre, wenn die Versuchung nicht über die Maßen gesteigert würde. Im übervölkerten und entsprechend armen China nun, mit seiner starren Gesellschaftsordnung, wird das, was für Europa ein Verhängnis ist, ganz sicher den Charakter einer Kalamität annehmen. Also wird es mit dem traditionellen Glück der Chinesen unter allen, auch den günstigsten Umständen, zu Ende sein.

Der Weg des Fortschritts stellt sich als eine endlose Serie intimer Tragödien dar. Das Glück hängt ausschließlich von inneren Umständen ab, ist von außen nicht herbeizuführen: insofern erscheint Fortschreiten als zwecklos, ja schädlich. Ein gegebener unabänderlicher Zustand löst auf die Dauer von selbst die innere Einstellung aus, dank welcher er erträglich wird; unter wechselnden Verhältnissen ist der innere Mensch außer Gleichgewicht. Nun besteht die Aufgabe darin, einen inneren Zustand zu erringen, der allen äußeren gerecht würde, d. h. praktisch von ihnen unabhängig wäre, und das heißt: einen Zustand höchster Kultur. Während also unter stationären Verhältnissen jeder Einzelne potentiell des Glückes teilhaftig war, ist es unter wechselnden nur der höhere Mensch. Hier befindet sich die Masse zu dauerndem Unglücklichsein verdammt. Vielleicht ist das die Absicht der Vorsehung, sofern es eine gibt, denn sicher entwickelt sich der Mensch im Unglück schneller als im Glück; vielleicht ist es gut, dass nunmehr eine Periode wachsenmüssenden Elends über die Menschheit hereingebrochen ist. Aber tragisch ist es, dass sie diese Periode als eine solche größeren Glückes willkommen heißt, denn die unvermeidliche Enttäuschung wird die Unbefriedigtheit ins Ungeheure steigern.

Die reflektorische Stellung des wohlwollenden Kulturmenschen diesem Schicksal gegenüber ist die eines Aufhaltenwollens. Deshalb sind alle wirklich gebildeten Chinesen reaktionär. Aber sie wären weiser, wenn sie ihr Mitleid niederkämpften. Sie sollten nach Möglichkeit den künftigen Gleichgewichtszustand antizipieren und der Masse als Beispiel vorhalten, denn nur so werden sie ihr wirklich helfen. Die Ideale von einst haben abgedankt; die vergangenen Typen der Vollendung können nicht mehr als vorbildlich gelten. Den Gebildeten, den Aristokraten liegt es in China wie überall ob, nicht eine vergangene Vollkommenheit zu perpetuieren, sondern aus ihrer besseren Einsicht heraus sobald als möglich den Typus herauszugestalten, welcher der Menschheit von morgen die Wege weisen kann.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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