Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Shanghai

Ich habe also Shen Chi-P’ei gesehen, den Literaten, von dem ich so viel gehört hatte. Die Erwartungen, die ich an seine Bekanntschaft knüpfte, waren groß. Fast jedesmal, wo das Gespräch zu Peking auf europäische Verhältnisse kam, und ich die Ansichten chinesischer Freunde zu berichtigen Veranlassung fand, sahen diese sich bedeutungsvoll (an und riefen aus: das hat uns Shen Chi-P’ei auch gesagt; nur wollten wir ihm nicht glauben, da er, so gelehrt er immer sei, sich mit der westlichen Kultur nur oberflächlich befasst hat. — Was musste das doch für ein Mann sein, der ohne zu wissen das Meiste verstand! — Der Augenschein, die persönliche Fühlung hat mir keine Enttäuschung gebracht. Shen Chi-P’ei ist die größte Erfüllung chinesischer Möglichkeit, die ich gesehen; er ist tatsächlich ein Edler, wie Kung Fu-Tse ihn gezeichnet hat. Ein Greis mit dem Feuer eines Jünglings; ehrwürdig und ernst, wie es dem Weisen ziemt, und dabei anmutig in seinem Gebaren, wie ein Mädchen; vollendet in der Form und zugleich ganz Tiefe und Sinn. In einem wunderbar hohen Grad bringt Shen jenes Ideal der Konkretisierung zur Darstellung, das für die chinesische Kultur vor allem charakteristisch ist. In ihm ist alle persönliche Tiefe zur typischen Form und Oberfläche geworden; keine Gebärde, die dem Buch der Riten nicht gemäß wäre, und doch auch keine, die nicht eben ihn, nur ihn zum entsprechenden Ausdruck brächte. Seine Unterhaltung ist wunderbar belehrend. Nie bin ich unter Chinesen so tiefem Verständnis des Nicht-Chinesischen begegnet, vom Chinesischen zu schweigen. Und dabei ist Shen einer der extremst-orthodoxen Konfuzianer, die ich gekannt; neuerungsfeindlich, reaktionär, ein Literat alten Schlages, der das Fremde kaum für kennenswert hält. Er ist eben so tief in sich selbst hineingelangt, dass alles Menschliche sich für ihn von selbst versteht, dass ganz wenige äußere Anhaltspunkte ihm genügen, um jeden menschlichen Sinn a priori, vorwegzunehmen. Wieder einmal sehe ich’s: jede Gestalt, auch die begrenzteste, ist eine mögliche Fassung des Unbegrenzten.

Ich bin glücklich, dieses Bild menschlicher Vollendung mit meinen leiblichen Augen gesehen zu haben. Schon lange trug ich mich damit, eine allgemeine Bestimmung des Chinesentums zu geben, aber ich wartete immer noch ab, ob mir nicht eine Tatsache begegnete, die eine Erweiterung des Kreises erforderte. Einer reicheren Natur und einer vollendeteren Kultur, als Shen sie verkörpert, werde ich in China nicht mehr treffen. So darf ich heute, die konkrete Anschauung vor Augen, mit gutem Gewissen an die Ausführung meines Vorhabens gehen. Es gilt zusammenzufassen und von einer einzigen Lichtquelle her zu beleuchten, was ich während meines Aufenthaltes in China unzusammenhängend bemerkt und aufgezeichnet habe.

Wohlbemerkt: um eine Bestimmung des Chinesentums, nicht des Chinesen ist mir heute zu tun; um das, was sich einerseits in abstracto fassen lässt, andrerseits für die ganze Menschheit symbolische Bedeutung hat. Die konkrete chinesische Substanz ist ein Absolutum, das weder abgeleitet, noch als Vorbild vorgezeichnet werden kann; sie, das Eigentliche, bleibt außerhalb meiner Betrachtung. Nur soviel darüber, unter dem frischen Eindruck Shen Chi-P’ei’s: die chinesische Substanz ist ein Großes; eine Entelechie, die an Potenz, wenn nicht an Reichtum, kaum übertroffen dasteht.

Der Chinese ist ohne Zweifel weniger individualisiert als der Europäer; ein Shen steht einem Kuli viel näher, als bei uns ein Intellektueller einem Landarbeiter; dieses springt um so mehr in die Augen, als die Unterschiede zwischen den Klassentypen in China ungeheuer viel größer sind als bei uns, was dem vorherbezeichneten Verhältnis entgegenwirkt. Der größte, überlegenste Chinese ist nicht Persönlichkeit im Goetheschen Sinn. Damit sind ihm bestimmte unüberschreitbare Grenzen gesetzt: alles das liegt jenseits seines Vermögens, was differenziertes Einzigkeitsbewusstsein voraussetzt: also individuelle Charakteristik, individualisierte Liebe, zumal jene unendliche und doch rein persönliche Liebe, welche Christus jeder einzelnen Seele entgegenbringen soll; seine Carität stellt, wo vorhanden, kein persönliches Verhältnis zum Einzelnen dar, sondern, gleich der stoischen Humanität, ein abstraktes zur Allgemeinheit. Aus eben dem Grunde fehlt ihm das Persönlich-Schöpferische, als welches unbedingt Einzigkeitsbewusstsein voraussetzt; aus eben dem Grunde ist er Intellektualist. Intellektualismus entsteht überall als subjektives Spiegelbild objektiv bestehender Gleichförmigkeit; wo eine unindividualisierte Menschheit (welche, wohlbemerkt, nie die früheste ist! Naturvölker sind viel individualisierter als Chinesen) hohe Verstandesanlagen besitzt, bekennt sie sich ausnahmslos zum Ideal, der Uniformierung, der Systematisierung, zum Postulat unbegrenzter Verallgemeinerungsmöglichkeit, denn nichts liegt dem Intellekt ursprünglich so nah, wie das Generalisieren. Wo nun die Tatsachen dies Verfahren durchaus rechtfertigen — je unindividualisierter ein Volk, desto mehr werden allgemein-abstrakte Bestimmungen dem Einzelnen gerecht — dort verstärkt sich die ursprüngliche Neigung in der Zeit. Damit ist dem möglichen Geistesleben eine weitere Schranke gesetzt: der Chinese als Intellektualist hat kein bewusstes Verhältnis zum Metaphysisch-Wirklichen; er bleibt, sofern er reflektiert, an der Oberfläche der Dinge haften.

Sehr bedeutsam ist nun, dass der Chinese uns trotz dieser Schranken in allen wesentlichen geistigen Hinsichten ebenbürtig ist: Wesenserfassung und Wesensausdruck setzen keine Individualisiertheit voraus. Als Mystiker kommt er den größten Europäern und Indern gleich, denn mystische Erkenntnis bedeutet Erfassen des tiefsten Lebensgrunds, welcher überall ein gleicher ist. Zum absolut Guten und Schönen steht der. Chinese in unmittelbarstem Verhältnis, weil die Verwirklichung des absoluten Ideals ausschließlich Funktion der Vollendung und unabhängig vom Charakter der Elemente ist. Überall, wo Wesentliches in Frage kommt, ist von Beschränktheit bei ihm nichts zu spüren. Das Wesen liegt eben tiefer als die Individualität. Diese Wahrheit hat China für immer bewiesen.

Insofern er wenig individualisiert ist, kann man wohl sagen, dass der Chinese auf einer niedrigeren Naturstufe steht als wir. So wenig ich dem Evolutionsdogma sonst hold bin: sicher entwickelt sich der Mensch als geistiges Wesen im Sinne fortschreitender Differenziation, und auf diesem Wege sind wir weiter gelangt als der Chinese. Ebenso sicher sind wir weniger weit als er in der Kultur, denn diese hängt ab vom Grade, bis zu welchem ein gegebener Naturzustand durchgebildet ward. An Durchgebildetheit ist der Chinese der erste, vorgeschrittenste Mensch; seine sämtlichen Anlagen sind durchgeistigt, überall erscheint der Ausdruck vollendet. So beweist Chinas Beispiel ein weiteres: dass Kultur in einer anderen Dimension als der Fortschritt liegt. Es beweist noch ein Drittes: dass es letzthin allein auf Durchbildung ankommt, denn auf und trotz seiner niederen Naturstufe ist der Chinese der Verwirklichung des Menschheitsideals näher gekommen, als wir bisher.

Demnach bedeutet das Chinesentum einerseits ein Überbleibsel aus vergangenen Entwicklungsstadien, andrerseits eine Vorwegnahme des Zukunftsideals. Für mich besteht kein Zweifel darüber, dass der Höchstgebildete künftiger Zeiten dem traditionellen Konfuzianer näher stehen wird als dem modernen Menschen, dass die soziale Ordnung der Zukunft der chinesischen ähnlicher sehen wird als dem, was unsere Utopisten erhoffen. Wohl wird der Mensch der Zukunft autonom sein; äußere Schranken wird es wenige mehr geben, und die bestehenden werden als pis-aller verurteilt werden, wie dies in China seit Jahrtausenden geschieht. Aber der Mensch wird sich dann selbst, aus eigener höherer Einsicht heraus, beschränken; er wird überindividuell, nicht individualistisch denken. Dieses Stadium vollendet-überindividuellen Denkens wird aber demjenigen unterindividuellen, auf welchem China steht, verwandter sein als unserem heutigen.

Das traditionale Chinesentum verhält sich sonach zum höchstdenkbaren Menschheitszustande nicht viel anders, wie die mythisch gefasste Weisheit antiker Weisen zur wissenschaftlichen Bestätigung ihrer in exakterer Form. Dem Sinne nach über die Rishis hinauszugehen ist schwer möglich; aber die gleichen Erkenntnisse lassen sich besser fassen. So wird auch die chinesische Kultur dem Sinne nach nie übertroffen werden. Was nun den Ausdruck betrifft, so hängt dessen Unzulängliches in allen prinzipiellen Hinsichten mit ihrem Intellektualismus zusammen. Das Ideal der Konkretisierung, an sich ein absolutes für diese Welt, verwirklicht sich in China nicht in der Vollendung unvergleichlicher, einzigartiger Seelen, sondern in der vollendet dargestellten Norm; dies bedingt, dass das Tiefste im Menschen unergriffen bleibt. Das Höchste wäre, das Konkretisierungsideal vermittelst des reinen Subjekts zu realisieren. Des Menschen Tiefstes ist reine Subjektivität, unobjektivierbar, unerfassbar von außen her; in und aus ihr gilt es unmittelbar zu leben. Der Chinese tut es nur mittelbar, durch Selbsthingabe an eine objektivierte Weisheit. Eine solche nun, so tief und umfassend sie sei, wird Besonderem nicht gerecht, sie weiß nur von Typen; sie muss veräußerlichen, da sie nicht von der einzelnen Seele ausgeht, sondern den abstrakten Beziehungen, die zwischen vielen bestehen, sie muss nivellieren, da sie nur auf das Allgemeine Rücksicht nimmt; und die Harmonie, die sie schafft, entsteht auf Kosten des Reichtums. Gelingt es uns dereinst, vermittelst freier Initiative vollentwickelter Individualitäten, die unbefangen ihre persönliche Vollendung anstreben, eine gleich vollkommene Harmonie zu begründen, wie sie in China besteht, so wird das soziale Ideal verwirklicht sein.

Noch ein Wort zur Frage unserer größeren Originalität den Völkern des Ostens gegenüber. Sie bedeutet keinen unbedingten Vorzug, denn sie wird durch ein entsprechend schlechteres Erinnerungsvermögen kompensiert. Ost und West verkörpern zurzeit die entgegengesetzten Pole des lebendigen Geschehens, den der Neuerung und den des Gedächtnisses. Die Stereotypie der Natur ist nichts anderes als Erinnerung, ihr Neuschaffen recht eigentlich Erfinden, und beide zusammen scheinen notwendig zum Fortbestand der Welt. Aktuell aber schließen sich Neugestalten und Festhalten fertiger Gestalten aus. Fast jeder schöpferische Geist hat über ein schlechtes Gedächtnis geklagt, den meisten Gedächtniskräftigen fällt wenig ein. Das Erinnerungsvermögen der Völker des Ostens ist ungeheuer; fast ließe es sich als Unfähigkeit zu vergessen definieren. Gleichermaßen ungeheuer ist dort die Dauerhaftigkeit einmal geprägter Lebensform und deren physische Vitalität. Die Kulturgestaltungen degenerieren im Osten ebenso langsam, wie die der Natur auf der ganzen Welt. Wir nun entarten, sobald es mit uns nicht vorwärts geht. Das macht, dass wir ein schlechtes Gedächtnis haben. Nur insofern wir forterfinden, erscheint unser Fortbestand gesichert. — Werden wir ad indefinitum forterfinden können? Oder dereinst hinüberschwenken zum entgegengesetzten Pol des Geschehens? Oder gar ganz verschwinden von diesem Planeten nach kurzer, übereilter Laufbahn? — Niemand vermag’s zu sagen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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