Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Durch Yamato

Ich beginne meinen Aufenthalt in Japan mit einer Fußwanderung durch Yamato, die Provinz des Landes, mit der seine ältesten und heiligsten Erinnerungen verknüpft sind. Es ist die Zeit der Pilgerfahrten zu den buddhistischen Heiligtümern; alle Straßen und Waldungen sind belebt, halb Japan scheint auf Ferienausflügen begriffen. Ich teile, so weit es irgend geht, das Leben meiner Reisegefährten, suche mit ihnen zu denken und zu fühlen, mit ihren Sinnen wahrzunehmen.

An geschmeidigem Reichtum dürfte Japans Natur wohl unübertroffen sein. Überraschend viel Koniferenarten gibt es hier, wunderbar mannigfaltig gestaltet ist das Laubholz; und die Nuancierung, welche die Verteilung der Farben und Formen auf verschiedene Höhen- und Tiefenlagen selbsttätig erzielt, könnte keine Absicht künstlerischer komponieren. Was Wunder, dass der Japaner viel Sinn für die Naturform besitzt! Gleichwie der, den ein günstiges Geschick inmitten von Kunstschätzen aufwachsen ließ, die er nicht als eine fremde Herrlichkeit, sondern als seine natürliche Umgebung betrachten durfte, bei nur mittelmäßigen Anlagen von Hause aus einen Geschmack und ein Auge besitzt, das sich künstlerisch weit höher begabte Sprossen barbarischer Länder nur ausnahmsweise aneignen, — in eben dem Sinne fördert eine reichgegliederte Natur. In Breiten, wo Licht- und Farbenkontraste so groß sind, dass die feineren Abstufungen unbemerkt bleiben, bringt es das visuell begabteste Volk nicht so weit in der Landschaftsmalerei, wie in Gegenden mit günstigeren Lichtbrechungsverhältnissen; nicht umsonst ist die des Westens in Holland, nicht in Italien aufgekommen und am weitesten gelangt. Japan nun zwingt das Auge zur Perzeption eben der Farben- und Formverhältnisse, die für die japanische Kunst charakteristisch sind; diese spezifische Nuance ist dort gegeben. Und ist sie einmal aufgefasst, verstanden, dann schafft ein künstlerischer Geist unwillkürlich in ihrem Sinne fort. Dieses nun, dieses Fortkomponieren im Geist und Sinn der Natur ist von den Künstlern des Fernen Ostens seit Alters mit einem Verständnis betrieben worden, wie nie bei uns. Es ist, als wäre das eigene Schönheitsstreben der Natur sich in ihnen bewusst geworden, als sei der Mensch hier das besondere Organ, vermittelst dessen sie ihre letzte Vollendung erzielt; hier verantwortet er gleichsam für den äußersten Zusammenklang. — Woher dieses wunderbare Können? Es geht auf die Methode des Sehenlernens zurück. Chinesische und japanische Maler sind Yogis; sie betrachten die Natur nicht von außen her, sondern versenken sich in sie, wie sich der Mystiker in Gott versenkt. Dadurch geraten sie aus dem Menschlichen hinaus und werden eins mit dem Geiste der Dinge. Der Mensch ist ja nicht allein Mensch — er ist zugleich, mit verschiedenen Teilen seines Wesens, Tier, Pflanze, Felsen und Meer; nur wird er sich dessen selten bewusst und weiß nur als Mensch zu empfinden. Lernt er es indes, mit dem eins zu werden, was als ein scheinbar Fremdes außer ihm lebt, dann kann er es auch aus sich heraus hervorbringen. So wohnt ostasiatischen Landschaftsbildern recht eigentlich Landschaftsleben inne, so gelingt es dem Japaner wie spielend, die Natur als Natur doch künstlerisch zu verwenden. Die unerreichte Vollendung japanischer Blumenarrangements rührt daher, dass der eigene Geist der Blumen den Strauß zum Strauße windet; forstmännisch bewirtschaftete Waldungen sind in Japan nicht häßlich, wie in Deutschland, weil hier der Mensch, anstatt den Bäumen seine Meinung aufzudrängen, sie in dem unterstützt, was sie selber am liebsten täten. Die natürliche Rotation der Gewächse wird berücksichtigt, von den besonderen Bedingungen des Terrains nie abgesehen. Und bildet ein überständiger Baum an einem Abhang eine schöne Silhouette, nun, so wird er dort stehen gelassen, auch wenn er, forstmännisch beurteilt, fallen sollte.

Freilich, um es im Naturverständnis soweit zu bringen, muss man eben Japaner sein. Ich glaube nicht, dass ein Gärtner irgendeines anderen Volks im japanischen Sinne Bäume zu zwergen wüßte, ohne jede Vergewaltigung der Natur; so weit ich sehe, gibt es keine lehrbare Methode dafür, beruht es ganz auf innerem Verständnis. Jeden Morgen sieht sich der Baumzüchter seine Pflänzlein sorgfältig an, und beraubt sie dann — eines Blattes oder Triebes! Weshalb gerade dieses? er vermag es selbst nicht zu sagen; jedoch er weiß, dass eben dieses Organ exstirpiert werden muss, auf dass der innere Wachstumsimpuls über die vorgesetzten Dimensionen nicht hinausführte, und der Erfolg gibt ihm fast jedesmal Recht. Solches Intuitionsvermögen lässt sich wohl nicht erklären; man muss es als Wunder gelten lassen. Aber sicher erscheint mir immerhin, dass die wunderbare Nuanciertheit der japanischen Natur, die Veränderung in der lebendigen Gestaltung, welche in Japan die geringste Terrainverschiebung mit sich bringt, ein wichtiges Moment bedeutet hat bei der Entwickelung der vorhandenen Anlagen. Schon beginne auch ich zu beobachten, wie ich früher nie beobachtet habe; mir ist, als wäre ich bis vor wenigen Tagen blind gewesen. Und genieße die Wundergabe des Schauens so intensiv, dass ich die sonst so willkommenen Dämmerstunden nicht ohne Missmut hereinbrechen sehe.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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