Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Durch Yamato: Hinterwäldlertum

Jetzt durchwandere ich entlegene Täler, die der Fuß des weißen Mannes kaum jemals betritt. Den Dorfbewohnern bin ich ein Gegenstand nicht endenwollender Kurzweil. Freundlich sind sie und gefällig so sehr sie’s nur sein könnten, allein sie lachen, wohin ich mich nur wende, wegen meiner für ihre Begriffe übermenschlichen Körpergröße. Heute früh, als ich einen steilen Bergpfad hinanstieg, fühlte ich mich plötzlich von rückwärts geschoben; wie ich mich umwandte, stürzten zwei bildhübsche Mädel lachend davon: sie hatten feststellen wollen, wie schwer ich sei. — Es ist doch etwas Wundersames um das Hinterwäldlertum. Ich kenne es gut von meiner Heimat her. Jedesmal, wenn ich auf mein abgelegenes Waldgut fahre, finde ich Gelegenheit zu ehrfürchtigem Staunen darob, wie bedeutsam im kleinsten Kreise das noch so Alltägliche wirkt, wie ungeheuer die enge Perspektive den Sinn des Nichtalltäglichen steigert. Mein Aufseher sieht die herumziehenden Arbeiter von den Inseln, die einen anderen Dialekt des Estnischen sprechen als er, kaum als Menschen an; Kraniche sind sie ihm. Er berichtet mir: neuerdings lebt hier ein gewisser Michel — man weiß nicht genau woher er kommt — seine Art ist auffällig — ganz richtig scheint es nicht mit ihm zu sein. Dieser Michel erweist sich dann als der trivialste aller Durchschnittsmenschen, aber vom Hintergrunde des Konnoschen Hinterwäldlertums hebt er sich ab, so typisch-großzügig, so plastisch, wie ein homerischer Held. — Und wie vollkommen sind die Hinterwäldler! Bei ihnen allein vielleicht unter den kleinen Leuten unserer Zeit bilden Form und Gehalt noch eine Einheit. Um in weiten Verhältnissen vollkommen zu sein, muss man viele Generationen hinter sich haben, die langsam ihren Gesichts- und Wirkungskreis erweitert haben; mit einem Mal, von heute auf morgen, gelingt es nicht. So wirkt in der modernen schnellebigen Welt, in welcher der Bauernsohn so oft als reicher Bürger endet, allenfalls das Exzentrische interessant; nicht umsonst stellen die Dichter unserer Zeit mit Vorliebe Verbrecher, Psychopathen und Hochstapler dar. Das bedeutet natürlich ein faute de mieux: Vollendung im Konzentrischen ist das Höhere. Das Exzentrische schließt wesentlich aus, das Konzentrische wesentlich ein, weshalb der konzentrische Mensch unter allen Umständen der Reichere, Tiefere, Wesenhaftere ist; er allein vermag in seiner Erscheinung das Tiefste unverkümmert zum Ausdruck zu bringen. Unter Hinterwäldlern wahrt jeder seine Eigenart, wird diese jedem bereitwilligst zugestanden; in der weiten amorphen Masse wollen alle wie alle sein. Die wesentliche Gestaltlosigkeit bedingt desto sklavischeres Hängen an der Konvention. In der Quersumme gleichsam wird die Form gesucht, die keine einzelne Ziffer für sich besitzt.

Das japanische Hinterwäldlertum ist mir sympathischer, als irgendeines, das ich jemals sah. Ihm eignet all das Süße, Zarte, Sinnige, Gemüt- und Reizvolle, das mir den kleinen Mann dieser Breiten, seit ich Lafcadio Hearn gelesen, so liebenswert erscheinen ließ. Die kleinen Leute hier sind liebenswert. Ihre Höflichkeit ist ohne Zweifel eine des Herzens, von Gewinnsucht und Übervorteilungsstreben habe ich nichts gespürt. Vielleicht zeigen sie mir auch ihre besten Seiten, weil ich, einem Winke meines Begleiters folgend, eines jungen Dichters aus Kyōtō, mich so zu ihnen verhalte, wie daheim als Feudalherr zur patriarchalisch denkenden Bauernschaft. In den entlegenen Tälern von Yamato ist das Mittelalter noch nicht vorüber; dort ist die Ära von Meiji kaum noch angebrochen; dort erwarten die Bauern vom Herrn noch Überlegenheit, Großzügigkeit, Distanz, jenes Bewusstsein so absoluten Darüberstehens, dass es eben deshalb im Verkehr die äußerste Familiarität gewähren lässt; dort wollen sie noch aufschauen können. Wie gern habe ich mich in eine Rolle zurückversetzt, die zu spielen unsere Welt immer weniger Gelegenheit gibt! Und der praktische Erfolg war der, dass sich überall Leute fanden, die mir Dienste leisteten und Gefälligkeiten erwiesen, ohne Bezahlung dafür annehmen zu wollen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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