Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Durch Yamato: Zufall der Geschichte

Wirklich: in vielen Beziehungen ist der Japaner uns nahe verwandt; jetzt, wo ich darauf aufmerksam geworden bin, fällt es mir mehr und mehr auf. Auch seine Energie ist kinetisch, auch sein Bewusstsein nach außen zugekehrt, vor allem aber ist er ebenso neugierig und neuerungssüchtig wie wir. Ob es nicht, metaphysisch betrachtet, Zufall bedeutet, dass seine Kultur trotzdem ein Ausdruck chinesischen Geistes ist? — Ich habe mich während dieser Tage, die ich ununterbrochen in Gesellschaft der Pilger zubrachte, bemüht, in die Seele des Japaners einzudringen, und das Wenige, was ich bisher erkannt, erlaubt mir schon kaum mehr Zweifel daran, dass dieses Volk unter anderen Einflüssen ganz anders geworden wäre. Desto dankbarer bin ich dafür, dass seine Geschichte eben so und nicht anders verlaufen ist: seinen einzigartigen Reiz verdankt es unstreitig der chinesischen Schule; alle Gestaltungen, die mich erfreuen, sind mir der Idee nach von China her bekannt. Und so frage ich mich, wie wir nordische Barbaren uns wohl entwickelt hätten, wenn wir anstatt unter griechisch-römischen unter chinesischen Einfluss geraten wären: wären wir am Ende weiter als wir sind? — Christen wären wir vermutlich auch dann, unter irgendeinem Namen; auch energisch, aktiv und erfinderisch; ästhetisch und moralisch sicher gebildeter. Wir wären weniger vorgeschritten in der Technik und Fabrikstädte gäbe es auf Erden noch morgen keine. Aber Wäre irgendein wesentlicher Nachteil daraus entstanden, dass die Germanen nicht von Rom sondern von Loyang ihre Kulturgüter bezogen hätten? — Ich weiß nicht recht. Ich kann hier schwer objektiv urteilen, weil mir am Europäer hauptsächlich auffällt, was ihm fehlt, und am Asiaten, was ihn vorteilhaft auszeichnet.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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