Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Kandy: Loskommen von den Schranken der Individualität

Dieses ist nun der dritte Tag, den ich beinahe ausschließlich in der Atmosphäre der buddhistischen Kirche zugebracht habe. Ich habe vielen Gottesdiensten beigewohnt, mit Priestern und Mönchen viel geplaudert und so manche Stunde hindurch in der kühlen, traulichen Dombibliothek droben im Kuppelbau mit der schönen Aussicht über den See in den Pali-Texten studiert, während aus den Hallen unter mir die Litaneien oder die schrillen, von Trommelwirbeln begleiteten Koloraturen der Klarinette, welche die Frommen zur Andacht ruft, gedämpft herauftönten. Wieder einmal erfahre ich’s: die Kenntnis des geistigen Gehaltes einer Lehre macht einen noch lange nicht zum Kenner derselben; ihre Konkretisierung birgt immer Überraschungen. Gleichviel ob eine Kirche die reine Lehre vertritt oder nicht — sie ist ein lebendiger Ausdruck ihres Geistes. Selbst wo die Kirche die Lehre nachweislich verbildet hat, tritt dieser in ihr doch deutlicher zutage als in noch so unverstümmelten Schrifttexten, wie denn der Krüppel das Leben immer noch besser zum Ausdruck bringt, als die beste Lebenstheorie.

Ich muss nun sagen, dass der buddhistische Priester mich durch die Höhe seines Niveaus überrascht. Nicht seines geistigen Niveaus, sondern seines menschlichen. Sein Typus ist dem des christlichen überlegen. Ihm eignet eine Sanftmut, ein Allverständnis, ein Wohlwollen, ein Über-den-Dingen-stehen, von dem der noch so Voreingenommene nicht behaupten wird, dass es für den christlichen Geistlichen charakteristisch sei. Ohne Zweifel liegt das an der vollendeten Uninteressiertheit, die der Buddhismus in seinen Gläubigen großzieht. In der Idee mag es wohl schöner erscheinen, für andere als sich selbst zu leben: so wie die Menschen einmal sind, macht aktive Nächstenliebe nicht weit, sondern eng; nur in Ausnahmefällen artet sie nicht in Zudringlichkeit und Herrschsucht aus. Wie taktlos sind alle Menschenverbesserer! Wie beschränkt alle Missionäre! Mag ein Mann von Hause aus noch so weitherzig sein, mag der Glaube den er bekennt, der universellste der Welt sein — das bloße Bekehrenwollen macht eng, denn psychologisch bedeutet es immer nur Eines: das Aufdrängen der eigenen Ansicht einem anderen. Wer das tut ist facto ipso beschränkt, und wer das dauernd tut, ja professionell betreibt, wird von Tag zu Tag beschränkter. Deswegen gehören Engherzigkeit, Aggressivität, Herrschsucht, Taktmangel und Unverständnis zu den typischen Zügen des christlichen, zumal des protestantischen Priesters. Eine Religion nun, welche gleich dem Buddhismus, die Sorge um das eigene Heil als einziges Motiv des Daseins hinstellt, kann solche Erscheinungen nicht zeitigen. Wohl scheint es, als müsste es statt dessen den krassesten Egoismus großziehen; aber dies geschieht innerhalb des Buddhismus aus zwei Gründen nicht: erstens, weil das eigene Heil dem Buddhismus nicht ewige Seligkeit des Individuums, sondern Loskommen von den Schranken der Individualität ist; wonach selbstische Wünsche ein Missverständnis bedeuten. Dann aber, weil Wohlwollen und Mitleiden den Buddhisten als die Tugenden gelten, deren Ausübung das Freiwerden vom Selbst am meisten begünstigt und beschleunigt. Dem Zusammenwirken der Ideale der Uninteressiertheit und der Nächstenliebe ist denn die Stimmung entsprossen, die dem Buddhismus wohl vor allem anderen seine Überlegenheit gibt: die spezifisch buddhistische Carität. Carität im christlichen Verstände bedeutet Gutes-Tun-Wollen; im buddhistischen: jeden auf seiner Stufe gelten lassen. Und dieses nicht im Sinne des Gleichgültigseins gegenüber dem Zustand, in dem ein anderer sich befindet, sondern des warmen Verständnisses für das Positive jedes Zustandes. Nach allgemein-indischer Anschauung steht jeder Einzelne genau auf der Stufe, auf die er hingehört, auf die er durch sein eigenes Verdienst hinauf- oder hinabgestiegen ist; also ist jedes Stadium innerlich berechtigt. Wohl wäre es wünschenswert, dass jeder Einzelne zum Höchsten hinaufgelangte, allein zum Höchsten hinauf führt kein Sprung, sondern nur langsam-stufenweiser Aufstieg, und jede Stufe hat ihre besondere Idealität. Während also das Christentum, solange es asketisch gesinnt war, das Leben in der Welt dem mönchischen gegenüber gering schätzte und am liebsten die ganze Menschheit auf einmal ins Kloster gesteckt hätte, liegt es dem Buddhismus, dessen Gesinnung prinzipiell noch weltfeindlicher ist, als die urchristliche, dem der Zustand des Mönches ausdrücklich als der höchste gilt, dennoch fern, um des Höheren willen das Niedere zu verurteilen. Jeder Zustand ist notwendig und insofern gut. Die Blüte widerlegt nicht das Blatt, und dieses nicht den Stengel und die Wurzel. Den Menschen wohlwollen heißt nicht alle Blätter gewaltsam zu Blüten umwandeln wollen, sondern sie als Blätter gelten zu lassen und liebend zu verstehen. Diese wunderbar überlegene Carität spricht aus allen, sonst noch so unbedeutenden buddhistischen Priestergesichtern. Nun wundere ich mich nicht mehr über die beispiellose Verehrung, die der buddhistische Geistliche beim Volk genießt. Es scheint ja auf den ersten Blick paradox, dass der Uninteressierte mehr Verehrung genießen sollte als der, welcher sich tätig um das Wohl seiner Mitmenschen bemüht. Tatsächlich ist dem überall so: der Mensch will nicht bevormundet werden; wer überzeugen will, überzeugt weit schwerer, als wer ohne Absicht und Hintergedanken für seine Person das ihm Rechterscheinende tut. Das absichtslose, selbstlose, reine Leben, das der Bhikshu führt, ist unter buddhistischen Voraussetzungen das höchste, das ein Mensch auf Erden führen kann. So dient, wer den Mönchen dient, seinem Ideal.

Die Atmosphäre dieser Kirche tut mir wunderbar wohl. Noch nie habe ich inmitten solchen Friedens geweilt. Und doch ist mir heute klarer denn je, dass der Buddhismus für den Europäer keine mögliche Religion bedeutet. Um so zu wirken, so formend, so positiv, wie er es unter den Singhalesen getan hat, muss das Seelenmaterial entsprechend sein — anders, sehr anders, als wir es liefern können. Bei uns, die wir das Phänomen durchaus bejahen, die wir nicht rasten können, deren ganze Energie kinetisch ist, würde das Leben für das eigene Heil sofort zu krassem Egoismus, das allgemeine Mitleid und Wohlwollen sofort zu plattem Tierschutzwesen ausarten und das Streben nach Nirwana alle die Übelstände zeitigen, welche Unwahrhaftigkeit gegen sich selbst unabwendbar nach sich zieht.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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