Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Kyoto

Noch bin ich tief ergriffen von der Tragödie, die sich auf den Brettern vor mir abgespielt hat. Es war ein berühmtes historisches Drama, meisterhaft geführt, meisterhaft dargestellt, schon insofern ergreifend; aber was mich überwältigte, war das Pathos der Stimmung, die das Psalmodieren alter Volksweisen zur stummen Pantomime, welche die eigentliche Handlung in rhythmischen Abständen ablöste, über dem ganzen verbreitete: ich erlebte eine vollendete Evokation des Mittelalters.

Dieses liegt in Japan ja nicht weit zurück; noch sind die ihm entsprechenden Bewusstseinszustände und Ausdrucksformen den Alten aus persönlicher Erfahrung vertraut, so dass es in Japan leichter gelingt, als in Europa, seinen Geist zu beschwören. Und dann trug dieser hier überhaupt viel krasseren Charakter, dementsprechend seine Gestaltungen stärker wirken. Ich glaube nicht, dass die Tugenden des Samurai aus so tiefen Wurzeln sprossen, wie die des fränkischen Rittersmanns; Vasallentreue, Ehrgefühl und Todesverachtung bedeuteten bei diesem wahrscheinlich mehr. Aber dank der eigentümlichen japanischen Anlage, welcher Darstellung und Sein nahezu gleiches bedeuten, der stilisierende Übertreibung natürlich ist, traten sie bei jenem pittoresker in die Erscheinung, weshalb das japanische Mittelalter an szenischem, überhaupt an künstlerischem Wert das unsere übertrifft. Der Inhalt des Schauspiels, dem ich beiwohnte, ist ungefähr wie folgt: Der Lehnsherr hat einem Vasallen-Clan eine wertvolle Schriftrolle anvertraut. Dasjenige Glied desselben, das sie bewahrt, beweist einer Dame seines Hofs mehr Zuneigung, als seiner stolzen Gattin gefällt. Diese beschließt, die Rivalin zu verderben. Zu diesem Zweck entwendet sie die Rolle, so dass der Vertreter des Lehnsherrn, der sie gleich darauf zurückfordern kommt, die Kiste leer findet. Irgend jemand muss den Schatz gestohlen haben. Die Schlossherrin bezichtigt das verhasste Fräulein dieser Tat und züchtigt sie drauf — die größte Schmach, die eine Edelgeborene befallen kann — vor versammeltem Hof mit ihrem Schuh. Auf diese Erniedrigung hin verübt die Verleumdete Selbstmord. Deren treue Dienerin jedoch rächt ihren Tod, indem sie die moralische Mörderin mit der gleichen Sandale wieder schlägt und dann in ritterlichem Zweikampf fällt. — Die Fabel ist einfach genug, und für unsere Begriffe wenig bedeutsam; uns scheinen ferner die tragischen Motive nicht in der Tiefe der Menschennatur, sondern in oberflächlicher Konvention begründet. Aber diesen Menschen war die Konvention Natur. Und wer unter dem Einfluss vollendeter Bühnendarstellung von der Atmosphäre des japanischen Mittelalters innerlichst ergriffen ward, dem tritt aus dem scheinbar Gekünstelten das Reinmenschliche ebenso ergreifend-nackt entgegen, wie aus der griechischen Schicksalstragödie. Auch das Schicksal war schließlich Konvention — wir glauben nicht mehr an seine Macht; auch die Leidenschaften, wie sie seither als Motive verwandt werden, sind keine notwendig bedingenden Ursachen — denn der Mensch kann über ihnen stehen; bloß darauf kommt es an, wo er tatsächlich steht. Identifiziert er sich wirklich und vollkommen mit einem törichten Vorurteil, dann gewinnt dieses die Tiefe der Natur. Die Intensität des Erlebens nun war beim mittelalterlichen Menschen so groß, dass seine Vorurteile mehr Pathos bedingen, als unter Modernen metaphysische Tragödien.

Ich empfinde so etwas wie Wehmut. Erklärlich genug: so sehr ich auch Geistesmensch bin — die Grundinstinkte des Ritters spüre ich dennoch sehr lebendig in mir, und diese passen nicht mehr in diese Zeit; des Edelmannes Tage sind gezählt. Welche Verblendung, darin das Zeichen eines unbedingten Fortschritts zu sehen! Allerdings beschließen die typischen Züge des Edelmanns keine absoluten Werte, aber solche wohnen keiner Gestaltung inne; alle sind nur bestimmte Lebensformen, als solche nicht wesentlich notwendig, bedingt, beschränkt, dem Wandel unterworfen und in der Betrachtung zumal beim Menschen leicht als zufällig zu erkennen, weil die Grenzen, die hier einen Typus vom anderen scheiden, geistige sind: Einseitigkeiten, Eigentümlichkeiten, Vorurteile. Allerdings erscheint der ritterliche Ehrbegriff der Theorie als Vorurteil, aber Gleiches gilt von der Standesehre des Kaufmannes, und erst recht von der Voraussetzungslosigkeit des Freidenkers. Die Frage ist, welche Vorurteile die besseren sind? Im Prinzip ist es vielleicht sinnlos, so zu fragen: ein Hirsch zu sein, ist vom Standpunkte des Pferdes ein Vorurteil und umgekehrt; alle Gestaltungen sind ein Ausdruck des Innerlich-Notwendigen im Rahmen des Äußerlich-Möglichen, ergänzen sich wechselseitig, verwandeln sich mehr oder weniger korrelativ. Aber es gibt dennoch bessere und schlechtere Vorurteile in dem Verstand, dass nicht jede Konstellation die Realisierung gleicher Werte zulässt und manche überhaupt verloren gehen, wenn eine bestimmte Lebensform ausstirbt. In diesem Sinne steht der Ritter turmhoch über den Typen, welche heute unaufhaltsam an seine Stelle treten; an moralischem Mut, Idealismus, Selbstverleugnung, an Treue, Gesinnungsadel und Nichtachtung materieller Vorteile kommt keiner ihm gleich. So dass die Menschheit durch das Aussterben des Ritters einen unersetzlichen Verlust erleidet.

Wohl beginnt heute ein Typus auszukristallisieren, welcher, ähnlichen Geistes wie der Ritter, diesem insofern überlegen ist, als er durch weniger spezielle Vorurteile zusammengehalten wird und der individuellen Anlage mehr freien Spielraum gewährt: das ist der intellektualisierte und universalisierte englische Gentleman. Aber der ist noch viel schwieriger darzustellen als jener, weswegen fraglich bleibt, ob er je dominieren wird. Es bedarf einer ungeheueren angeborenen Kultur, die in unseren Tagen ausschweifender Blutmischung selbst die Träger größter Namen nicht besitzen, und einer Fähigkeit der bewussten Selbstbeschränkung, welche den Idealen des emanzipierten Durchschnitts stracks zuwiderläuft, um in diesem höchsten Sinne Edelmann zu sein. Noch sind die wenigsten zur Freiheit reif, noch sind weitaus die meisten Herdenmenschen und unfähig, sich außerhalb gemeinschaftlicher Bindungen zu vollenden. So treten sie, wo sie die alten zerrissen haben, in neue Zusammenhänge ein, die viel oberflächlicher begründet sind als die historisch gewordenen. Heute schließen sich die Reichen zusammen: es war besser, als dies die Edlen taten. — Ich werde bitter. Wie sollte ich es nicht werden, da ich mit ansehen muss, wie der Zug der Zeit die Typen, welche die edelsten sein sollten, unaufhaltsam nieder zieht? Unter den Trägern großer historischer Namen gibt es schon erschrecklich wenig echte Aristokraten mehr. Es liegt in der Natur der Dinge begründet, dass ein Organ, das sich nicht entsprechend betätigen kann, entartet. Dieses geschieht auf zwei Wegen, je nachdem ob der Nachdruck auf dem entsprechend oder dem betätigen ruht: die starren Reaktionäre degenerieren, weil sie gar nichts tun; die fortschrittlichen hingegen, weil sie, wo sie ihrer Eigenart entsprechend nicht mehr leben können, sich auf anderen Bahnen versuchen, und auf diesen, wo die ererbten Instinkte versagen, direktionslos sind. Heute müssen sich die meisten Landedelleute als Kaufleute betätigen. Da sie nun von Natur keine sind, und nur durch Verstandesüberlegungen dabei geleitet werden, so lügen sie in metaphysischem Sinn, wo sie Geschäfte machen, was sich in der Erscheinung darin äußert, dass sie oft unvornehmere Geschäftsmänner sind als die Händler von Beruf. Im Blut liegt ihnen allein die ritterliche Standesehre, die spezifische Moralität des Händlers ist ihnen ein Fremdes, weshalb sie auf ihrer neuen Bahn nur allzu oft einer niedrigeren Klasse angehören, als die Vertreter alter Kaufmannsgeschlechter. Die Typen der Menschheit sind nicht vertauschbar und leider nur in geringem Maß verwandelbar. Hier bietet Japan das belehrendste aller Beispiele. In diesem Land ist die Moderne unmittelbar auf das Mittelalter gefolgt, die Ära der ökonomischen Gesichtspunkte unmittelbar auf die des Kreuzrittertums. Was war die Folge? — Unter Rittern ist der Krämer stets verachtet, und Verachtung erstickt den Edelsinn im Keim. Also waren die japanischen Kaufleute im Gegensatz zu den chinesischen typischerweise niedrig gesinnt. Die Ritter nun haben im Kriege ihren Ritterwert schlagend bewiesen; und dass die typisch-ritterliche Gesinnung auch heute noch lebendig ist, habe ich selbst zu erfahren vielfach Gelegenheit gehabt; oft hat mich die Ähnlichkeit des japanischen mit dem baltischen Edelmann frappiert: dort wie hier eine fast donquichoteske Verachtung des Geldes, hier wie dort eine sonst kaum mehr anzutreffende Großzügigkeit und Großmut. Aber heute sind die meisten Samurais materiell nicht in der Lage, auf die alte Art fortzuexistieren, heute müssen sie sich, um nicht zu verhungern, am ökonomischen Wettbewerb beteiligen, und hier werden sie durch keine sicheren Instinkte orientiert. So verlassen sie sich ausschließlich auf ihren Geschäftsverstand und da dieser nur weitsichtig ist, wo er von fester Charakterbasis aus arbeitet, so ist der Erfolg eben der, welcher allen vor Augen liegt: noch bin ich im Osten keinem weißen Geschäftsmann begegnet, der den Japaner nicht für einen niedrigen, gemeinen, ganz unzuverlässigen Gesellen hielte. — Während nun die mittelalterliche Tragödie sich auf den Brettern abspielte, erschienen die Gesichter aller, auch der europäisch gekleideten Japaner verklärt; es vibrierten Saiten in ihnen, die das moderne Leben nicht mehr zum Anklingen bringt. Und diese Saiten sind die tieferen, volleren, reineren — in Japan wie auf der ganzen Welt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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