Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Kyoto: Rhythmik

Immer mehr fängt mich der Charme dieses ästhetisch-reizvollsten aller Länder. Wie sonst im Reiche der Gedanken die Ideen, so ergreifen hier die Gegenstände der Außenwelt von mir Besitz und modulieren die Stimmung meiner Seele, bis dass sie aus eigenem Drang in deren Tonart fortkomponiert.

Ist es, weil ich in Japan ganz den Sinnen lebe, dass ich mich täglich jünger werden fühle? So wird es sein. Wir sind nun einmal für die Welt in diese Welt hineingeboren, zur Benutzung, nicht zur Verleugnung irdischen Könnens, und müssen es büßen, wenn wir zu früh jenseits der Sinne existieren wollen. Nachdem das Leben seinen irdischen Zenith überschritten hat, erfüllt es sich wohl mehr und mehr in einem Dasein rein geistiger Art Solange die Kurve jedoch auf Erden noch ansteigt, heischt die Sinnlichkeit gebieterisch ihr Recht. Der Naturprozess will sich nicht abkürzen lassen.

Aber das ist es nicht allein und nicht vor allem, was den Tonus meines Lebens in Japan so sehr hebt: es ist die einzigartige Befriedigung, dass ein Leben in und mit den Sinnen im Reich der Aufgehenden Sonne gewährt. Hier, wie nirgends sonst auf der Welt, ist das Äußere auf das Innere, die Natur auf den Menschen abgestimmt, so dass die möglichen Eindrücke von vornherein in harmonischem Verhältnis zu den möglichen Empfindungen stehen; und hier, wie nirgends sonst, ist dieses harmonische Verhältnis in den objektiv besten Rhythmen realisiert. Die Zahl solcher Rhythmen ist nicht unendlich: wie nur Kombinationen der Elemente in bestimmten Zahlenverhältnissen zu dauerhaften chemischen Verbindungen führen, wie nur Himmelskörper von bestimmtem Gewichtsverhältnis und in bestimmtem Abstand von einander des Vereinigens zu einem Systeme fähig sind, so ist auch das Größtmögliche an Schönheit, Befriedigung und Glück an bestimmte rhythmische Verhältnisse geknüpft. In der objektivierten Kunst, zumal der Musik, kann diese Darstellung leicht durchgeführt werden; je klassischer eine Komposition, desto mehr erscheint sie durch eben die Rhythmen bestimmt, welche draußen im Himmelsraum die Harmonie der Sphären regieren. Im Fall der subjektiven Empfindungen jedoch, wo ein objektiver Nachweis nicht zu erbringen ist, wird jeder, dessen Organisation genügend fein ist, eine gleiche persönliche Erfahrung machen. Keinen wüßte ich, der in Jaques-Dalcrozes rhythmische Gymnastik tiefer eingedrungen wäre und nicht von einer unerhörten Lebenssteigerung berichtet hätte, die er durch sie und in ihr erfahren: sie realisiert eben das objektive Optimum in der Rhythmik des menschlichen Gebärdenspiels; kein Künstlergemüt wüßte ich, dem sich die Schönheit eines Meisterwerkes nicht als ein objektives Absolutum darstellte, und last bat not least — das Glück, das zwei Menschen einander gewähren können, hängt überall vom Grade ihrer physiologischen und psychischen Sympathie ab, das heißt dem Verhältnisse, in dem die Saiten ihrer Naturen zusammenklingen. Genau in diesem Verstände ist das Verhältnis, in dem in Japan die objektivierte Kultur zur menschlichen Subjektivität steht, ein bestmögliches. Freilich muss man Japaner geworden sein, um dieses Optimum ungeschmälert zu empfinden; aber man wird eben in Japan zum Japaner; kein aufnahmefähiges Gemüt entgeht dieser Verwandlung. Und merkt er alsdann, dass die fremdartige ostasiatische Gestaltung auch ihm als objektives Optimum zu erscheinen beginnt, dann wird ihm auch klar, wie wenig dieser Stil als solcher bedeutet. Es sind die Verhältnisse innerhalb der Konvention, die ihn beglücken; die gleichen wären auch auf griechisch darstellbar; und dass er in Japan das Japanische am meisten genießt, beweist nur, wie sehr dieser spezifische Stil dem ambiente gemäß ist.

Ich denke an China zurück. Nein, die Vollendung, die ich heute im Auge habe, ist spezifisch japanisch, nicht chinesisch, und ob auch jede einzelne schöne Gestalt im Reich der Mitte erfunden ward; die Lebenssteigerung, welche die Anschauung Japans bewirkt, wird China in seinen größten Zeiten nie haben auslösen können. Wie belehrend ist dieser Vergleich! Wahrhaftig: das allermeiste von dem, was an der japanischen Kultur objektiv wertvoll erscheint, ist in China erfunden nicht nur, sondern auch ungleich tiefer verstanden worden. Nie haben die Japaner die Bewusstseinslage erreicht, welche die Gestaltungen der buddhistischen Kunst aus sich heraus gotthaft hervorbringen konnte, nie den Sinn des Rituals verstanden, welcher der Chinoiserie einen so tiefen Hintergrund verleiht. Aber in Japan, nicht in China, hat der Sinn die Erscheinung bis zum äußersten durchdrungen. Eine Süßigkeit ist der Grundton der Atmosphäre japanischer Buddhatempel, die kein chinesisches Heiligtum kennt, und dem Chinesengeist, der die einzelnen Formen erfand, vielleicht unfasslich ist; die Idee der Rücksicht, die in China aufkam und dort die tiefstbegründete systematische Ausgestaltung fand, trägt in Japan den vollkommensten Körper. Dem Chinesen fehlt die natürliche Sensibilität, das feinvibrierende Nervensystem; trotz seines hochentwickelten ästhetischen Sinns hat er nie unter dem Schmutz gelitten, trotz wunderbar tiefen Verständnisses der Harmonie diese Idee nie seinen Empfindungen eingebildet. Er ist höflich wie keiner, seine ganze Lebensroutine ist auf Rücksicht aufgebaut; aber diese äußert sich im Befolgen objektiver Höflichkeitsnormen, ohne Beachtung dessen, was im Bewusstsein der anderen vorgehen mag. Eine Chinesin, wird mir erzählt, die einer Europäerin ihren Besuch machte, befremdete diese dadurch, dass sie, anstatt sich vor ihr zu verneigen, ihre Bücklinge nach der entgegengesetzten Seite ausführte, womit sie ihrer Gastgeberin den Rücken kehrte: diese hätte eben, der Etikette gemäß, auf der entgegengesetzten (südlichen) Seite des Zimmers stehen sollen; dass sie nicht tatsächlich dort stand, war jener gleich. — In Japan ist gerade die lebendige Rücksicht bis zum äußersten durchgebildet; nirgends auf der Welt erscheint das Empfinden so fein nuanciert. So trägt die chinesische Erfindung erst hier ihre schönsten Früchte. In Japan ist die Idee der Harmonie der lebendig-beweglichen Erscheinung eingebildet; nichts geschieht, außer in harmonischen Proportionen, nichts steht da, außer am rhythmisch besten Ort. So fühlt man sich wohl und beglückt, wohin man sich wendet. Schließlich kommt es überall in der Welt doch am meisten auf Kleinigkeiten an. Eine Nuance scheidet Taktlosigkeit von Takt, eine Nuance Zuvorkommenheit von Frechheit. Der Japaner hat den ausgebildetesten Sinn für das Kleine. So konnte er, nachdem das Große ihm gegeben war, Ergebnisse erzielen, die einem Größeren unerreichbar blieben.

Die Kehrseite freilich… doch ich will mir meine Stimmung des Beglücktseins nicht verderben. Wozu soll denn ein Mensch oder ein Volk alle Vorzüge besitzen? Die Völker dieser Erde ergänzen sich. Die einen spielen den Baß, die andern den Diskant; einige wenige schlagen die Grundtöne an, viele andere singen die Melodie. Die Menschheit ist ein vielstimmiges Orchester; der Philosoph lauscht ihrem Zusammenspiel. Und wenn er reisen muss im Raum, um den Eindruck der Einheit zu gewinnen, so liegt darin kein ernsterer Einwand gegen die Weltordnung als in dem, dass sich die Einheit einer einzelnen Melodie nur im Verstreichen in der Zeit realisiert.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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