Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Kyoto: Kunstliebhaber

Ich erkenne mich nicht mehr: nicht allein, dass ich stundenlang bei Antiquaren und Kuriositätenhändlern herumstöbere — ich kaufe ein und denke über Zimmereinrichtungen nach. Das ist ein ganz ungewohnter Zustand. Noch nie, dass ich wüßte, ist mir an Besitz gelegen, am wenigsten dessen, was meinen Augen wohlgefällt. Meinem persönlichen Bedürfnis entspricht es besser, wenn das Schöne sich dort befindet, wo ich es sehen kann, aber nicht muss, bei Freunden oder in öffentlichen Sammlungen; steht es immer vor mir, so stört es mich, und desto mehr, je größer sein Eigenwert. Dann muss ich Rücksichten nehmen, meinen Lebensstil dem Kunstwerke anpassen; vor allem fühlt sich meine Phantasie in solcher Gegenwart nicht frei. Wie soll ich aus unbewusster Tiefe unbefangen Gedanken zutage fördern, wenn der Raum vor mir nicht leer ist, wenn meine Sinne wieder und wieder von Vollendetem außer mir gefangen werden? Allerdings: das bloß Gefällige wirkt nicht so bannend; dafür bedarf ich seiner nicht. Meinen Freundinnen bin ich wohl gram, wenn sie ihren Lebensrahmen nicht möglichst schön gestalten, denn während ich bei ihnen weile, ist mein Bewusstsein der Außenwelt zugekehrt und leidet unter deren Mängeln; vom meinen verlange ich bloß, dass er mir nie zum Bewusstsein komme: das soll seine Vollkommenheit sein. — Hier nun, unter dem Einflüsse Japans, werde ich zum Genießer, zum Kunstliebhaber. Hier ist eben alles Sichtbare auf den Menschen zugeschnitten; alle Natur wirkt als Rahmen des Menschenlebens, jeder Gegenstand ist zum Gebrauche da, jedes Kunstwerk setzt den Beschauer voraus. So kommt es, dass der von der Außenwelt sonst noch so Unabhängige, im Falle er eindrucksfähig ist, sich bedrückt und ungemütlich fühlt, sobald etwas in diesem Sinne nicht stimmt, dass ich zu Kyōtō meine Gedanken unwillkürlich darauf richte, wie ich mich mit meiner Umgebung in den ästhetisch besten Einklang versetzen könnte, ja während dessen im Glauben lebe, diese Bedürfnisse hätte ich auch daheim. — Ich muss lachen über mich selbst. Ein klein wenig weniger Selbstkritik, und ich könnte mir wahrhaftig einbilden, ich sei ein Kunstverständiger. Heute früh, auf der Eröffnung einer Auktion, schaute ich zu, wie japanische Kenner Porzellan besichtigten. Was diese bemerkten, dafür bin ich wahrscheinlich blind, allein mir schien im Augenblick ganz ernstlich, als dürfte ich mitreden über Porzellan und wirklich scheine ich etliche Male nicht falsch geurteilt zu haben. Das verdanke ich ausschließlich der Suggestion des Milieus; von Natur fehlt mir jeder Sinn für Kunstgewerbe. Aber ich bin es wohl zufrieden, wenigstens auf Augenblicke in der Haut eines Mannes von Geschmack gesteckt zu haben, weil mir dadurch eine neue Seite der japanischen Veranlagung deutlich geworden ist.

Goethe bemerkt irgendwo, das Theater habe die zweischneidige Eigenschaft, im Beschauer die Einbildung wachzurufen, auch er könne dramatisch produzieren. Woran liegt das? Offenbar daran, dass der Mensch wenigen Geschehnissen gleich intensive Aufmerksamkeit schenkt, wie dem Ablauf eines Bühnenspiels; und wirklich Gesehenes liegt, vom Geiste her betrachtet, auf einer Ebene mit dem Eingefallenen. Also scheint es dem Zuschauer unwillkürlich, er hätte das Drama eines anderen selbst verfasst, oder — da dies nachweislich nicht der Fall ist — er sei doch einer gleichen Leistung fähig. Ganz so gelangt in kunstsinniger Umgebung auch der Barbar irgendeinmal zur Überzeugung, dass er eigentlich ein Kunstkenner sei, denn hier beachtet er das, was ihm sonst entgeht. Hiermit ist aber dieser Gedankengang nicht abgeschlossen: durch Erziehung der Aufmerksamkeit zum Beobachten bestimmter Dinge entwickelt sich das Vermögen, sie wirklich zu sehen; ja er führt noch weiter: man wird durch andauerndes Aufmerken schöpferisch. Dieses nun scheint mir der Schlüssel zum Verständnis des japanischen Kunstschaffens zu sein. Die Japaner sind von Hause aus nicht produktiv in dem Sinne, wie es die Chinesen einstmals waren; aber sie sind auf die Dauer schöpferisch geworden, weil Phantasie und Technik, Produzieren und Rezipieren einem ideellen Zusammenhange angehören. Eine starke Phantasie schafft sich die Ausdrucksmittel, wo die Technik vollkommen ist, dort strömt der Geist, der Sinn von selber ein; wer vollkommen beobachtet, wird am Ende durch Einfälle überrascht. Die Japaner sind von Hause aus nun zweierlei: unvergleichlich scharfe Beobachter und Virtuosen alles technischen Könnens. Dank welchem sie sich nicht allein die Errungenschaften aller der Völker, denen sie es gleichtun wollten, haben aneignen können — es ist ihnen gelungen, ohne dass sie eigentlich Ideen hätten, doch Ideen darzustellen, sogar solche, die keiner vor ihnen gehabt hat.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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