Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Kyoto: Die Welt des Sichtbaren

Wie sehr ich bereits Japaner bin! Ihre Sinne sind die meinigen geworden; wie selbstverständlich wende ich die Kategorien ihrer Ästhetik an, bemerke und beachte ich tausenderlei, was mir sonst niemals auffällt; vom Denker scheine ich mich ganz und gar zum Augenmenschen verwandelt zu haben. Und ich staune über den Reichtum der sichtbaren Welt. Bisher hatte ich häufig gefunden, dass diese mehr verschleiert als enthüllt; dass die Wirklichkeit, welche das Auge berührt, arm ist neben der von Geist und Seele. Nun aber erkenne ich, dass sie ganz wunderbar reich ist, dass es nur von der Anlage des Beschauers abhängt, wieviel sie ihm bietet und bedeutet; im Spiel der Farben und Linien kann genau so viel Sinn zutage treten, wie in der geistreichsten Gedankenverknüpfung. Aber allerdings ist es ein Sinn anderer Art. Es heißt, die Götter redeten in Farben miteinander; das mag wohl sein; dann aber reden sie von anderem, als wir. Ich weiß nicht ob Menschen, welche dauernd mit den Augen leben, sich dessen so bewusst werden, wie ich: die Welt des Sichtbaren ist eine Welt für sich; die Erlebnisse des bildenden Künstlers sind mit denen des Denkers auf keinen konkreten Generalnenner zu bringen. Daher bedeutet es eine absolute Bereicherung meines Daseins, dass ich für den Augenblick als japanischer Maler auffassen kann.

Für den Augenblick: denn lange wird diese Einstellung nicht anhalten. Gewiss lebt in mir die Möglichkeit zum Japanertum, wie denn alles Natürliche dem Menschen eingeboren ist; jeder kann, willkürlich oder unwillkürlich, zeitweilig Tiger oder Reh, Wasserfall, Erdbeben oder Pflanze sein; es kommt bloß darauf an, auf welche Elemente seines Wesens er den Nachdruck legt. Aber auf die Dauer ist jegliches Individuum nur in der Einstellung, die es als solches definiert, existenzfähig; sie allein ist dem Tiefsten in ihm ein zuverlässiges Ausdrucksmittel, weshalb sich Einfühlung in gar zu Fremdartiges leider selten als so produktiv erweist, wie es der Theorie nach sein sollte — sie führt nicht dahin, wohin man wollte. Heute Nachmittag, wo ich durch Stunden auf waldigem Hügel saß, unter blühenden Azaleen, vor mir die weite Fläche des Biwa-Sees, habe ich das wieder einmal am eigenen Leib erfahren. Ich stellte mich zum Augenmenschen ein; ich versenkte mich in die reine Form der Pflanzen, bald vermochte ich sie so zu sehen, wie ein japanischer Maler sie sieht, und der Sinn jeder Linie ward mir offenbar. Aber wie ich tiefer und tiefer konzentriert ward, da verschwand das Sichtbare; nicht absolut, aber seinem selbständigen Eigen-Sinne nach, mit dem allein Kunst es zu tun hat. Immer deutlicher begann ich zu erfassen, was mir überhaupt, mehr und mehr, zur eigentlichen Wirklichkeit wird: der Erscheinung Möglichkeit; wieder einmal kam ich mit der Potenz in unmittelbaren Kontakt, die von Innen her das Da- und Sosein bedingt, das Werden und Vergehen regiert; und wenn dann Blitze der Reflexion vorüberschössen, dann wunderte ich mich, wie so oft, warum es mir denn versagt ist, in der reinen Möglichkeit mein persönliches Zentrum zu haben, und indem ich mich aktualisiere, bald das Ganze, bald nichts, und bald ein beliebiger Teil zu sein. Und auf die Verwunderung folgte, wie immer, die Betrübnis.

Es ist tragisch, in seinem Verstehen dem Können voraus zu sein. Weshalb bin ich kein Gott? — Nur, weil es mir an physischer Kraft gebricht; das verfügbare Energiequantum ist es, sonst nichts, das den Metaphysiker vom Gotte unterscheidet. Besäße ich genügende Mittel, so würden meine Ideen von selbst zu physischen Gestalten werden, und während meine Gedanken wanderten, löste Welt auf Welt sich ab. — So aber kann ich nicht einmal, so lange es mir beliebt, Japaner sein; die Grenzen, die ich in der Idee nicht anerkenne, beherrschen mich doch. Aus jeder neuen Gestalt entpuppt sich zuletzt doch wieder der alte Keyserling, und dieses meist lange bevor ich deren Möglichkeiten erschöpft hätte. Was also tun? — Wäre ich eine rein betrachtende Natur, so könnte ich mich wenigstens hinwegtäuschen über den Tatbestand, wie dies die meisten Mystiker getan haben: ich könnte so konsequent nicht handeln, so andauernd in Gedanken im Reiche des Möglichen wohnen, dass ich des Bewusstseins meiner Schranken verlustig ginge, bis dass der Prozess des Geschehens sie einmal wirklich sprengt. Aber ich bin leider viel zu aktiv, als dass solches für mich in Frage kommen könnte. Mir bleibt nichts Besseres übrig, als den unüberwindlichen Keyserling zu einem soweit biegsamen Werkzeuge zu erziehen, dass ich auf sein Dasein während der Arbeit wenigstens keine Aufmerksamkeit zu verschwenden brauchte.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME