Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Kyoto: Freudenhaus

Nun habe ich so manche Nacht in japanischen Gast- und Teehäusern zugebracht, bin ich so manchen frischen Morgen in niedrigem, mattenbedecktem Raum erwacht. Japan bei Nacht ist voll des intimsten Reizes. Das äußere Bild der Straßen hält den Vergleich mit chinesischen wohl nicht aus; sie sind einförmig, dunkel und still und selten wird das Auge, wie dort, durch malerische Volksbilder angezogen. Japans Nachtleben spielt sich jenseits der Straße ab. Hier, hinter papierenen Wänden, von außen noch als Schattenspiel erkennbar, hört heiteres Treiben von der Dämmerstunde bis zum späten Morgen nicht auf; Nacht ein, Nacht aus klingt Lautenspiel und helles Mädchenlachen gedämpft auf die Gasse hinaus.

Wie stimmungsvoll waren jene Nächte in den ländlichen Herbergen, wo es selten gelang, eine Stunde des ungestörten Schlafes zu erhaschen, weil die Pilgerscharen unter und neben mir des Lachens und Plauderns nimmer müde wurden! wie stimmungsvoll jene späten Stunden in der Stadt, wo ich in abgelegenem Viertel von den Anstrengungen des Tages Erholung suchte, indem ich dem zirpenden Gesang der Geishas lauschte oder der kunstvollen Pantomime geschminkter, bunter Kinder zuschaute! Wie stimmungsvoll ist hier gerade das, was in Europa des Stimmungswerts so sehr entbehrt! Flaubert behauptet zwar: il manque quelque chose à celui qui ne s’est jamais réveillé dans un lit sans nom, qui n’a pas vu dormir sur son oreiller une tête qu’il ne verra plus; aber damit kann er nur das Schreckhafte gemeint haben, dessen Höhepunkt die danse macabre ist, denn dem Leben der Hetären Europas fehlt der Lieblichkeits-Reiz, welchen echter Frohsinn besitzt. Geächtet, erscheinen sie verbittert, sofern sie nicht von Hause aus stumpfe Tiere sind; sie sind zu bewusst, zu besorgt, um wirklich heiter zu sein, daher wirkt ihre Fröhlichkeit aggressiv, und ihre Liebe steht, wie groß ihre Kunst auch sei, doch immer im Zeichen des Gemeinen. In Japan scheint sogar den niedrigsten Dirnen Gemeinheit fremd. Hier geht alle Weiblichkeit auf Anmut aus, wird zur Anmut als Selbstzweck erzogen; und da das Weib nichts Entehrendes darin sieht, sich für Geld dem fremden Manne hinzugeben, und der Mann nichts Beschämendes darin, dass er Freudenhäuser besucht, so herrscht in diesen eine Atmosphäre harmloser Heiterkeit, wie bei uns etwa bei Kindern unter dem Weihnachtsbaum.

Es ist belehrend, die Europäer zu beobachten, die zum erstenmal ein japanisches Lupanar besuchen: anfangs tragen ihre Züge auch hier jenen häßlichen Ausdruck, der sich auf dem Gesicht jedes Mannes zeigt, der den Pfad des Lasters betritt; aber lange hält er bei den Stumpfesten nicht an; bald werden sie harmlos-heiter, wie die Mädchen, und ihnen schwindet jedes Bewusstsein dessen, dass sie nach den Begriffen ihrer Heimat auf schlechten Wegen wandeln. Hier ermisst man die Wahrheit des Worts, dass den Reinen nichts unrein mache. Für die Japaner versteht es sich von selbst, dass die geschlechtlichen Bedürfnisse befriedigt werden, im Akte selbst sehen sie nichts Häßliches; die Mädchen kommen sich nicht ehrlos vor, die den Beruf wahlloser Nächstenliebe ausüben. Und da sie also denken und empfinden, so haftet nicht allein ihnen selbst nichts Unreines, Häßliches an — der Gast nimmt einen Abglanz ihrer Reinheit aus dem Bordelle mit nach Haus. Wie tief steht unser typisches Empfinden in diesen Dingen unter dem japanischen! Allerdings ist es ein objektiver Übelstand, dass es Prostituierte gibt und Nachfrage nach ihnen, allein ganz abzustellen wird er niemals sein; so wie die Menschennatur einmal beschaffen ist, kann kein Versuch, den außerehelichen Geschlechtsverkehr zu unterdrücken, glücken, wird jeder aufgehobene Übelstand durch einen neuen, häufig schlimmeren ersetzt. Ist es da nicht besser, dem Übel dadurch zu begegnen, dass man ihm, wie in Japan, den Charakter eines solchen nimmt? Ich weiß wohl, auch dieses hat Übles zur Folge, wie denn alles in diesem Leben einiges Übel nach sich zieht. Aber da die Männer vor der Ehe niemals enthaltsam leben werden und ihr polygamer Instinkt nie absterben wird; da immerdar Weiber zur Welt kommen werden, die einzig im Rahmen des Hetärendaseins existieren und glücklich werden können: ist es da nicht ersprießlicher, dem Tatbestand eine Stellung entgegenzubringen, die ihn nicht noch schlimmer macht als er schon ist?

In Japan steht nichts dem entgegen, dass eine Dirne rein an Seele bleibe; so braucht sie den, der sie besitzt, nicht zu vergiften. In Japan gibt es einen Weg aus dem Freudenhaus ins bürgerliche Dasein zurück. In Japan ist deren Ende nicht notwendig trostlos, deren Daseinsmöglichkeit an Jugendfrische gebunden schien. Der Courtisanenstand ist öffentlich anerkannt; er wird geachtet in seiner Art, wie jeder andere; gleich jedem anderen, ist auch er ein geschlossenes Ganzes einerseits und andrerseits auf Stoffwechsel angewiesen. Ja, er hat eine öffentliche Aufgabe, was ihm jenes spezifische Selbstgefühl gibt, dessen kein Stand entraten kann. Ich schrieb schon von dem Privileg, das die Geishas besitzen, durch Bewahrung der Tradition in Tanz, Gebärde und Spiel die Seele Alt-Japans wach zu erhalten. Eine ähnliche ideale Aufgabe, die auch entsprechend gewürdigt wird, scheint sich so manches Bordell gestellt zu haben; in manchen von ihnen wird das Höchste gepflegt, was an Stil und Bildung überliefert ist. Ein Mädchenhaus zu Kyōtō gehört zu den historischen Denkmälern; seit Jahrhunderten steht es da, von der ursprünglichen Dynastie verwaltet. Hier pflegten die Großen des Landes einzukehren, um in heiterem Kreis der Sorgen zu vergessen, oder auch um im Geheimen vertraut schwerwiegende Beratungen abzuhalten; kostbare Wandmalereien berühmter Meister schmücken die Gemächer, von denen jedes, wie in Englands Königschlössern, einen Namen hat. Unter den Bewohnerinnen aber herrscht die exquisiteste Etikette. Nirgends sind die Damen feiner erzogen, tragen sie geschmackvollere Gewänder, reden sie gewähltere Sprache; sie bewahren die Tradition des höfischen Stils. Und dieses Verdienst wird vom Staat insofern sanktioniert, als sie das Recht haben, bei der Kaiserlichen Jahresfeier als erste im Zuge zu schreiten.

Japans Stellungnahme geschlechtlichen Fragen gegenüber steht innerhalb der Grenzen, in welcher sich meine heutige Betrachtung bewegt, nicht niedriger, sondern höher als die unsrige. Wohl bezeichnet die bestehende Wirklichkeit nicht die höchstmögliche Verkörperung des Ideals — fern davon —, aber das Ideal als solches ist das höhere; dem Sinne nach wüßte ich keine bessere Stellungnahme als die japanische. Tatsächlich gravitieren denn auch unsere Reformbestrebungen, so wenig dies deren Vorkämpfer wahrhaben möchten, automatisch dem japanischen Ideale zu. Es soll die Unmoral ausgerottet werden, was schlecht gelingt, unterwegs aber wird Besseres erreicht: die gefallenen Frauen werden mit freundlicheren Augen angesehen; es wird das Möglichste getan, um das Selbstbewusstsein der Hetären zu heben; der unverheirateten Mütter harrt weniger und weniger das trostlose Los, das ihnen ehemals gewiss war. Was bedeutet dieses anderes, als dass auch die christliche Menschheit einzusehen anfängt, dass einem naturgemäßen Übel nur dadurch abzuhelfen ist, dass man ihm den Charakter des Übels, soweit als nur irgend möglich, nimmt? — Das gefallene Mädchen, das sich seines Falls nicht schämt, braucht in der Stufenleiter der Wesen nicht niederzusteigen. Besser als zu moralisieren, ist eine Welt zu erschaffen, in der alles Negative zum Positiven umgewandelt wird. Jede Gestaltung kann ein Positives bedeuten; an uns ist es, diese Sinngebung zu vollziehen. Der neue Sinn erzeugt dann aus sich selbst einen neuen, besseren Tatbestand.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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