Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Tokyo: Jiu Jitsu

Meine Eindrücke schließen sich mehr und mehr zu einem Gesamtbild zusammen. So viel ist mir ganz klar: die Japaner, oder vielmehr die sozialen Schichten derselben, die politisch in Frage kommen, sind keine Orientalen, wenn deren Begriff so verstanden wird, dass er das Wesentliche des Chinesen und des Inders auf einmal einschließt; sie stehen uns näher, als den Chinesen und haben insofern ein Götterrecht, uns nachzueifern. Ihre Ähnlichkeit mit China beruht zum größten Teil auf der Importierten chinesischen Kultur; der Naturanlage nach sind sie, gleich uns, ein fortschrittliches Volk, wie dies ja auch ihre Geschichte vom Anfang an bis auf heute unzweideutig zum Ausdruck bringt; genau in dem Sinn, wie sie uns heute nacheifern, sind sie vormals bei Korea und China in die Schule gegangen. Daher darf die Verwestlichung Japans nicht im gleichen Lichte betrachtet werden, wie diejenige Indiens oder Chinas. Als ich durch das Binnenmeer einfuhr, war ich nicht wenig überrascht durch den Eindruck, in eine mir ganz neue, von der chinesischen durch eine tiefe Kluft geschiedene Welt hineinzukommen; mir schien, als umwehte mich eine Luft wie die im griechischen Archipel, eine Luft unternehmenden Seefahrertums; ich spürte nicht allein nichts von der kosmischen Ruhe, dem majestätischen Frieden des Chinesentums, sondern auch nichts von dem Japan, das Lafcadio Hearn geschildert hat. Dieses Japan existiert allerdings. Aber doch darf ich heute sagen, dass mein erster Gesamteindruck richtig war: das Wesentliche am Japanervolk ist das Unternehmende, Ausnutzende, Praktisch-Geschmeidige, nicht die Japonerie.

Der Japaner ist typischerweise kein Schöpfer, aber er ist auch kein Nachahmer, wie gemeiniglich behauptet wird — er ist wesentlich ein Ausnutzer und zwar im Sinn des Jiu Jitsukämpfers: der Jiu Jitsu ist das Symbol des Japanertums. Wessen bedarf es, um Meister dieser Kunst zu sein? Keiner schöpferischen Initiative, dafür einer außerordentlichen Beobachtungsgabe, des augenblicklichen Verständnisses für die empirische Bedeutung jedes Eindrucks und der Fähigkeit, aus diesem sofort den größtmöglichen praktischen Nutzen zu ziehen; es bedarf im äußersten Maß jenes besonderen Zusammenarbeitens von Kopf und Hand, wo alle Erkenntnis momentan zur zweckmäßigsten Reaktionsbewegung führt, wo alle Erinnerung sich motorisch äußert. Auf gleichem Können beruht alle spezifisch-japanische Kultur, gleiches bedeutet das japanische Nachahmen. Der Japaner ahmt eigentlich gar nicht nach — er profitiert, wie der Ringkämpfer aus einer Gebärde seines Gegners Vorteil zieht; er kopiert nicht, sondern er wechselt seine Einstellung; ihm ist es gegeben, sich mit unvergleichlicher Leichtigkeit aller Erscheinung dergestalt einzubilden, dass er ihre Sonderart (nicht ihr Wesen!) innerlich versteht, zu sich selbst in organische Beziehung bringt und sie dann nutzt, soweit sie zu nutzen ist. So hat er einst die chinesischen Kulturgestaltungen ausgenutzt. Vielleicht hat er sie nie wesentlich verstanden, aber auch bloß äußerlich nachgeäfft hat er sie nie — er hat sich in ihre Erscheinung vollkommen hineinversetzt und dann in chinesischer Einstellung gelebt. Allen Formen sind spezifische Möglichkeiten immanent, die sich verwirklichen in relativer Unabhängigkeit davon, ob ihre jeweiligen Träger sie verstehen, ob sie ihnen etwas bedeuten oder nicht: so haben die Japaner vieles Chinesische dessen eigenstem Geist entsprechend fortgebildet. Sie waren nie vom chinesischen Geiste beseelt; sie trugen bloß chinesische Leiber. So sind sie innerlich fast unberührt geblieben. Schon früher wies ich darauf hin, wie wenig sie sich innerlich verwandelt haben trotz aller Einflüsse, denen sie sich hingaben: das liegt an ihrer vorher gekennzeichneten Anlage. Der Japaner darf von allen Menschen der Erde am meisten Fremdes sich aneignen, ohne Schaden befürchten zu müssen, weil er im Tiefsten unbeeinflussbar ist.

Die chinesische ist Ausdrucks-, die japanische Einstellungskultur: ein schrofferer Gegensatz lässt sich kaum denken; wo jene in der Tiefe wurzelt, erschöpft sich diese an der Oberfläche. Der Japaner ist unsubstantiell, kein Zweifel: wo die Attitüde die letzte Instanz ist, dort fehlt es an innerem Gehalt. Eben hierin aber liegt Japans Bedeutsamkeit begründet:, es zeigt, wie weit man kommen kann ohne wesenhaft zu sein. Man kann unglaublich weit kommen. Die Japaner haben Werte in die Welt gesetzt, die ohne sie unverkörpert geblieben wären, eine Kultur der Oberfläche geschaffen, wie es keine reizvollere je gab. Darum ist es ungerecht, bei ihren Unzulänglichkeiten zu verweilen. Substantialität ist überall nicht häufig; auch unter Indern kommen Japaner vor, soweit diese durch ihr Negatives definiert werden; aber die unsubstantiellen Nicht-Japaner haben die Vorzüge des Japaners nicht. Kein Wesen kann etwas für seine Anlage; es gibt Geschöpfe, die das letzte Wesen zum geistigen Ausdruck bringen, es gibt andere, deren Äußerstes die Einstellung ist. Gott gelten sie allesamt gleich, sofern sie vollendet sind in ihrer Art. Wir Menschen aber sollten endlich lernen, jedes Geschöpf dessen Eigenart gemäß zu bewerten, nur das von ihm zu verlangen, wessen es fähig ist.

Die Japaner dürfen sich getrost verwestlichen, welches Inder und Chinesen nicht dürfen, weil es sich bei ihnen um keine wirkliche Verwandlung, sondern nur um eine fechterische Neueinstellung handelt. Immerhin ist mit dieser Erkenntnis ihr Problem nicht erschöpft: bei aller Versalität hat der Japaner eine Seele, und scheint diese auch geringeren Gefahren ausgesetzt, als von den meisten gilt, die sich fremden Einflüssen hingeben, so ist sie doch nicht gefeit; wird sie aber überhaupt getroffen, dann steht es schlimmer mit ihm als mit jedem anderen. Zwei Grundgefühle dürfen nie zersetzt werden, wenn Japan nicht zugrunde gehen soll: das eine ist sein Naturgefühl, das andere sein spezifischer Patriotismus.

Über beide Punkte habe ich mich schon ausgesprochen; hier brauche ich nur Gesagtes zusammenzufassen und meinem heutigen Zweck entsprechend zuzuspitzen. Das Naturgefühl des Japaners entspricht dem Weltgefühl des Inders und dem Harmoniebewusstsein des Chinesen; es ist die gleiche Synthese en miniature, hat den gleichen tiefen Grund, und entschwände sie seinem Bewusstsein, so verlöre er eben damit den Zusammenhang mit seinem tiefsten Selbst. Alles, wodurch er das Ursprüngliche zu ersetzen versuchen wollte, wird eine Oberflächenerrungenschaft bleiben, ohne unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Seele. Ein Inder versuche sich zum Griechen umzuwandeln: er würde dadurch sicherlich flach; nicht deshalb, weil seine ursprüngliche Art, den Menschen als Teil der Natur zu sehen, gegenüber der hellenischen, welcher diese ein Äußerlich-Bildhaftes bleibt, die objektiv tiefere ist, sondern weil er die griechische Weltanschauung auf sein Tiefstes zu beziehen außerstande wäre. Beim Japaner ist die gleiche typische Gefahr bedeutend größer, weil sein Gesichtskreis viel beschränkter ist, weil ungleich weniger Phänomene einer Verknüpfung mit seiner Seele fähig sind. So würde Naturalismus die japanische Kunst nicht allein herunterbringen, wie bei uns, sondern buchstäblich töten, so macht Unhöflichkeit den Japaner nicht bloß unangenehm, wie jeden anderen, sondern flach. Pflegt also Japan sein Naturgefühl nicht desto mehr, je intensiver es uns in anderen Hinsichten nacheifert, so kann es geschehen, dass sich sein Organismus eines Tages entseelt befindet. — Das andere Gefühl, das Japan um keinen Preis verlieren darf, ist seine Vaterlandsliebe; die eigentümliche, in Europa ausgestorbene, nur in Kriegszeiten kurzfristig wiederauflebende Gefühlssynthese zwischen Individuum, Gruppe, Heimat und Herrscherhaus. Die Japaner sind noch nicht Individuen in unserem Sinne; ihr Zentrum ruht in der Gruppe; daher wird ihnen Verwestlichung zunächst nur so lange frommen, als die neue Organisation auf die alte Basis bezogen werden kann.

Während das Fortschreiten bei uns eine Folge der Individualisierung war, ist es in Japan bis heute ein Ausdruck unter anderem des unindividualisierten Gruppenbewusstseins gewesen, und könnte zum Stillstand kommen oder zur Zersetzung führen, wenn der Einzelne sich seiner selbst im westlichen Sinne bewusst würde. Letzteres beginnt schon; und es beginnt zu früh. Die junge Generation gibt den Führern viel zu denken, denn bedenklich neigt sie dazu, ihre alte Basis zu- verleugnen. Sollte dieser Prozess sich nicht aufhalten lassen, so kann es geschehen, dass der bewundernswerte Bau Mutsuhitos und seiner Minister zusammenstürzt. Also muss er aufgehalten werden, um jeden Preis. Das bezweckte Nogi, indem er sich entleibte — er hoffte, seine Tat möchte die angestammten Samuraigefühle bei den Jungen aufs neue zum Aufflammen bringen; das betreibt die Regierung, indem sie sich nach Kräften bemüht, eine Renaissance des Shinto herbeizuführen. Möchte es ihr gelingen; Japans Zukunft macht mir Sorge. Je unvermeidlicher es scheint, dass die alte Basis zerfällt, desto mehr muss das mögliche dafür getan werden, dass neue Verknüpfungen zwischen Körper und Seele entstehen, damit ein haltbarer Neubau wenigstens begonnen worden ist, wenn das alte Haus zu Staub zerfällt…

Ja, Japan darf sich verwestlichen; aber nachdem ich solange streng objektiv gewesen bin, drängt es mich, auch meinem persönlichen Empfinden Luft zu machen, und da spreche ich’s denn aus: persönlich bedauere ich es tief, dass dieses Land sich verwestlicht; das modernisierte Japan ist ganz reizlos; die Atmosphäre Tokyos zumal ist niederdrückend trivial. Die normale Entwickelung führt leider nicht notwendig aufwärts. Gleichwie einzelne Individuen als Kinder im besten Sinne sie selbst sind, weitere als Erwachsene, wieder andere als Greise, so gibt es für jedes Volk einen Entwickelungszustand, der ihm am besten liegt; entwächst es diesem, in noch so günstiger Richtung, so verliert es an Reiz, Bedeutung und Wert. In diesem Sinne ist es mit den Franzosen seit dem 18. Jahrhundert abwärts gegangen, obgleich von Dekadenz noch heute nicht die Rede sein kann; im gleichen Sinne wird England, dessen Höhepunkt das 19. war, fortan an Kulturbedeutung abnehmen. Jeder bestimmte Zustand gibt der Seele bestimmte Ausdrucksmittel, von denen nur einige ihr in dem Verstand gemäß sind, wie ein bestimmtes Können einem spezifischen Geist. Der Augenblick oder die Epoche, wo innere Anlagen und Gelegenheiten sich entsprechen, bezeichnet den Höhepunkt einer Nation; da äußert sich das Nationalgenie. Später gleicht sie, mehr oder weniger, einem Raffael ohne Hände.

Die Japaner leisten auf ihrer neuen Bahn Erstaunliches; was die Leistung als solche betrifft, so ist nicht einzusehen, warum sie es uns dereinst nicht gleichtun sollten. Aber dieses Leisten bedeutet nichts. Hier arbeiten sie mit dem Verstand allein, oder allgemeiner, mit den Werkzeugen ihrer Seele, ihr inneres Wesen spricht nicht mit; und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Zeit eine wesentliche Besserung bringen wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich die japanische Seele in der Sprache okzidentalischen Könnens nie unmittelbar und vollwertig ausdrücken lernen; sie wird günstigsten Falls stammeln in ihr, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie verstummt; aus dem feinsinnigsten, künstlerischsten Menschen mag noch der dürrste werden. Vom Standpunkte seiner Substanz her beurteilt, tut der Japaner unrecht, gar zu ernsthafte Dinge zu treiben: er realisiert sich am besten, indem er spielt; alles wirklich Originale liegt auf der Linie des ἀγών, des Sports, der heiteren Künstlerschaft. Hier offenbaren sich die Tiefen seiner Seele. Wo er Wichtiges anstrebt im Sinne der Welt, dort wirkt er abstrakt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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