Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

Auf dem Stillen Ozean: Albatros

Nicht satt sehen kann ich mich am Flug der Albatrosse, deren uns nun schon sieben das Geleit geben. Manchmal bleiben sie auf Stunden zurück, wohl um abseits gelegene Jagdgründe abzusuchen oder ein wenig auf den Wellen einzunicken; dann sind sie auf einmal wieder da, als wäre der Dampfer indes überhaupt nicht weiter gekommen. Und wie sie segeln! Dieser Gleitflug scheint mir die Vollkommenheit selbst zu sein. Sind sie einmal im Schwung, wird nie mehr eine Ruderbewegung vollführt: durch bloßes Ändern des Winkels, den ihre Schwingen mit dem Meeresspiegel bilden, durch rythmisches Sichheben und Sichsenken, durch kluges Benutzen der Luftströmungen erzielen sie, mit geringstem Kräfteverbrauch, eine Geschwindigkeit, der die Zeit nichts anzuhaben scheint. Wunderbar sieht es aus, wie diese lebendigen Segelschiffe kreuzen; am schönsten vielleicht, wenn eine scharfe Kurve beschrieben werden soll und der Vogel zu dem Zweck, sich überwerfend, einen Flügel tief ins Wasser taucht, um stärkeren Widerstand zu finden.

Diese Hochseevögel gehören zu den bewundernswertesten Naturschöpfungen. Wesen, die, ohne Wassertiere zu sein, des Festlands nicht bedürfen; die auf den Wellen rasten, vom Wind getragen werden; denen die einförmige Weite des Weltmeers ein ebenso übersichtliches Gebiet ist, wie dem Städter der Bezirk, den er bewohnt. Ohne Zweifel sind sie mit Sinnen ausgerüstet, von denen wir keine Vorstellung besitzen. Die Grundtatsachen der Geographie sind ihnen irgendwie a priori, bekannt; sie sind Meister der Meteorologie; unmittelbar empfinden sie die Entfernung, die sie jeweilig von fester Erde scheidet. Dabei sind sie für unsere Begriffe dumm. Ohne Sextant, ohne Verstand, ohne irgendeins der Werkzeuge, die dem Kulturmenschen zur Verfügung stehen, und vermutlich ohne deutliches Bewusstsein, weiß der Albatros doch besser auf dem Meer Bescheid, als der erfahrenste Kapitän.

Es wäre gut, wenn die Menschheit etwas zurückhaltender würde mit dem Herabsehen auf die Fähigkeiten des Tiers. Es gibt viele Arten, zur Welt in Beziehung zu stehen, und die unsere ist nicht in allen Hinsichten die beste. Jedes Wesen ist eingespannt in den Totalzusammenhang und besitzt in allgemeinen Umrissen die Eigenschaften, deren er zur Selbstbehauptung bedarf. Wo die Stellung nun eine sehr ungünstige ist, dort bedarf es der bedeutendsten Fähigkeiten. Die Amöbe ist in vielen Hinsichten begabter als wir; der Wurm, welchem ständig Zerstückelung droht, regeneriert sich wie ein indischer Gott; wahrscheinlich kann der Mensch mancherlei, um das ihn die Götter beneiden. Absolute, unkompensierte Vorzüge sind in diesem Universum nicht nachzuweisen. So mag man im Albatros ein Ideal verehren, das dem Menschen unerreichbarer ist, als der Zustand des Gottes.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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