Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Kandy: Idealisierung der Mittelmäßigkeit

Schon bin ich die Gegenwart der guten Mönche so gewohnt, dass ich sie ungern missen würde. Es hat etwas überaus Beruhigendes, sie stets zu den gleichen Stunden das gleiche verrichten zu sehen: jetzt gehen sie mit ihren Bettelschalen zur Stadt, um von beflissenen Spendern ihre tägliche Mahlzeit abzuholen, dann wieder baden, meditieren sie, geben sie Unterricht in der Schrift und Religion — ein jedes zu seiner Zeit. Schon beginne auch ich, gleich den Singhalesen, sie als einen Teil meiner selbst zu empfinden. Diesen bedeuten sie ihre fleischgewordene Idealität, das lebendige Sinnbild dessen, wie alle eigentlich sein sollten. An nichts hängt der Mensch wohl stärker als an solchen Sinnbildern, sogar dort, wo sie ihm, nach Goethes Wort, ein ständiger Vorwurf sind. Dem Singhalesen nun sind die Bhikkhus Sinn- und Vorbilder, ohne ihm auch nur irgendwie Vorwürfe zu sein: die Lebenslehre Buddhas in ihrer Weisheit hat allem Ressentiment von vornherein vorgebeugt. Wenn der Mönch auch das beste Leben lebt, so widerlegt seine Wahrheit doch keine andere; ein jeder hat auf seiner Stufe recht. Wie gern dient man einem Ideal, das so verständnisvoll, so großmütig ist! Zumal so wenig dazu gehört, es zu erreichen! — Man pflegt den Buddhismus eine pessimistische Weltanschauung zu heißen, und das ist sie auch dem strikten Buchstaben nach. Da ferner der Buchstabe, wo er stetig wiederkehrt, auf den Geist dessen, welcher ihn niederschrieb, unzweifelhaft Rückschlüsse gestattet, so ist auch die Möglichkeit nicht abzuweisen, dass Buddha selbst, zeitweilig wenigstens, als Pessimist in unserem Sinn empfunden hat. Wozu hätte er sonst ständig vom Leiden gesprochen, das Leiden gar zum Angelpunkt seiner Heilslehre gemacht? — Aber dem heutigen Buddhismus fehlt jeder pessimistische Unterton; er verklärt das Leben im Gegenteil mit einem milden Glänze stiller Freude. Zunächst bedeutet das Nirwana dem Tropenbewohner das gleiche, wie dem Westländer die ewige Seligkeit; beinahe alles, was uns Anlass gibt, den Buddhismus als pessimistisches System zu beurteilen, charakterisiert ihn im Bewusstsein seiner Bekenner als frohe Botschaft. Aber das ist nicht alles. Was den Buddhisten von Ceylon ein so stillfreudiges Dasein sichert, ist vor allem die Gewissheit dessen, dass das Heil nicht schwer zu erringen ist. Wie einfach sind die zu befolgenden Vorschriften! Wie wenig strapazenreich ist das Dasein sogar derer, die sich als Mönche endgültig auf den Pfad der Erlösung begeben haben! Da wird keine Austerität verlangt, keine Anspannung, die nicht jeder sich zumuten dürfte. So schauen die Herren im gelben Gewand nicht allein freudig, sondern meistens gemütlich drein. Mir scheint: die Lehre Buddhas hat eben das dem tropischen Menschen gewonnen, was das Luthertum dem Nordländer erobert hat: die Möglichkeit eines gottseligen Daseins in der Welt Buddha sowohl als Luther haben die Autorität der Kirche verleugnet und den Menschen für mündig erklärt; beide haben einen Glauben gelehrt, in dem alle Unterschiede zwischen den Menschen aufgehoben wurden, nach dem der Inspirierte Gott nicht näher steht als der Einfältige; beide haben dem Leben des Alltags den Heiligenschein verliehen. Zwar hat Buddha die Mönchsorden nicht abgeschafft, sondern im Gegenteil zu unerhörter Bedeutung emporgehoben, aber in Indien bedeutet Mönchtum nicht das gleiche, wie bei uns, keine abnorme, außerordentliche Gestaltung: in ihm erscheint nur der Zustand organisiert, in dem jeder normalerweise lebt, nachdem er sich von den Geschäften zurückgezogen hat. Weilte ich lange genug auf Ceylon, auch mich erfasste wohl einmal der Wunsch, die gelbe Toga anzulegen.

Ja, diese Mönche sind liebe Leute. Reflektiere ich freilich über ihre Eigenart, dann kann ich nicht umhin zu erkennen, dass in ihnen die aurea mediocritas idealisiert erscheint; nichts an ihnen ist bewundernswert. Im buddhistischen Mönchtum treten, deutlicher vielleicht als irgendwo sonst, die Nachteile eines allzubilligen Idealismus zutage. Die Idealisierung der Mittelmäßigkeit verklärt diese zunächst tatsächlich: sie wird vertieft; die lutherische Innigkeit, die buddhistische Duldsamkeit bedeuten eminent positive Zustände, die nur dank jener Idealisierung zu erzielen waren. Aber gleichzeitig verlegt sie den Weg zu Höherem; sie entsteigert, entspannt, wirkt hohem Streben entgegen. Das ist überall so, wo dem ganzen Menschengeschlecht ein Ideal zur Nacheiferung vorgehalten wird, und dieses Ideal nicht im Reich des Unmöglichen liegt, denn nur auf Unmögliches hin ist eine Nivellierung denkbar in der Idee, die nicht nach unten zu verliefe. Beim Buddhismus wirken diese Nachteile nicht so schwerwiegend, wie innerhalb des Luthertums, weil hoher Idealismus in der Tropenluft ohnehin nicht gedeiht; aber vorhanden sind sie. Wahrscheinlich könnten auch unter Singhalesen bedeutendere Typen entstehen, als dies geschieht, wenn der Bhikshu nicht das äußerste Ideal verkörperte.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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