Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

Nach Amerika

Jetzt gilt es keine Zeit verlieren: bis ich in Kalifornien angelangt bin, muss meine Seele sich allen Bindungen des Ostens entwunden haben; sonst erklingen dort unreine Töne in mir, wie wenn ein noch so schöner Akkord durch das Pedal in eine Melodie anderer Tonart hinübergedehnt wird. Es gilt mich zusammennehmen, denn leicht wird mir die Umstellung nicht werden. Nicht allein keine Sehnsucht zieht mich nach Amerika — ich fürchte mich, mir graut vor diesem Land. Aber persönliche Neigungen und Abneigungen sind niemals ernst zu nehmen, sie beweisen immer nur die Beschränktheit dessen, der sie hat. Ohne Zweifel sind die Vereinigten Staaten sehenswert, finden sich dort Möglichkeiten verwirklicht, wie nirgends sonst, und nur beim Positiven lohnt es zu verweilen.

Aber wenn ich nun in ablehnender, unsympathetischer Stimmung in San Francisco lande, dann werde ich dieses Positiven nicht gewahr werden, werde ich mich in den Geist des Landes nicht hineinversetzen können. Es ist nicht möglich, ohne liebende Hingabe auch nur irgend etwas zu verstehen; solange die leiseste Neigung zur Kritik im Mittelpunkte des Bewusstseins lebt, ist es aussichtslos, einem Fremden gerecht zu werden. Wie stelle ich’s nur an, um im Lauf einer knappen Woche meine Verfassung von Grund aus zu verändern? Ich muss eine Psychoanalyse vornehmen; feststellen, was der sachliche Grund meines persönlichen Empfindens ist. Wenn ich diesen erkannt habe und damit die Unmotiviertheit meines ablehnenden Verhaltens — denn es gibt nichts, was eine subjektive Verstimmtheit objektiv rechtfertigte — dann werde ich meiner unersprießlichen Stimmung wohl Herr werden.

Wenn ich mir’s nun recht überlege, so finde ich, dass ich nicht dem Amerikanischen als solchen Antipathie entgegenbringe, sondern dem Abendländertum überhaupt; und jenem nur insofern, als es dessen extremster Ausdruck ist. Wir Europäer dünken uns von den Amerikanern durch mehr als den Ozean geschieden: desto lehrreicher war mir die Erfahrung, dass der Asiate nur insoweit einen Unterschied bemerkt, als diese ihm die typischeren Europäer scheinen; seiner Ansicht nach verkörpern sie keinen anderen Geist als wir, sondern den gleichen in eindeutigerer Gestalt. Ohne Zweifel ist er im Recht; das Wesentliche eines Volks im Sinn des Unterschiedlichen erkennt der Fremdling immer am besten. Also muss ich wohl voraussetzen, dass ich in der Erscheinung des Amerikanertums das Wesen des Westländers verabscheue.

Was ist nun dieses Wesen im Unterschied von dem des Asiaten? Die üblichen Schlagwörter vom materialistischen Westen im Gegensatz zum spiritualistischen Osten, von unserer Würdelosigkeit, Hast und Gier im Gegensatz zur Weltüberlegenheit, Würde und Ruhe der Orientalen, von unserem Tatendrang gegenüber ihrer Erkenntnistiefe, ergreifen es nicht. Allen noch so berechtigten Einwänden gegen unsere Art begegnet der Hinweis darauf, dass unsere Idealität unzweifelhaft die größere ist, weswegen alles, was bei uns nicht ist, noch werden kann; leicht kann es geschehen, dass der Materialismus unserer Zeit noch einmal als günstiges Stadium auf dem Wege zur Spiritualisierung betrachtet werden wird, denn das Materielle verkörpert dem Westländer ein Ideal und zieht ihn daher, ob er will oder nicht, hinan. — Auch dass er auf die Mittel zum Leben größere Aufmerksamkeit verwendet als auf das Leben selbst, unterscheidet ihn nicht wesentlich vom Orientalen. Auch wir sehnen uns letztlich nach dem Einen was not tut, diese Sehnsucht wird immer mehr zur Dominante unseres Strebens, nur wollen wir überdies die Erscheinung vervollkommnen, und wenn dieser Wille zurzeit im Vordergrunde steht, so liegt das daran, dass der Mensch nicht zwei Ziele zugleich mit gleicher Energie verfolgen kann. Falsch ist es auf jeden Fall, uns unsere Sucht, die Erscheinungswelt zu vervollkommnen, zum Vorwurf zu machen: hierauf beruht vielmehr unsere Überlegenheit, denn das östliche Verfahren, sich von ihr um des Sinnes willen abzuwenden, ist billig im Vergleich zu dem unserigen, das allen Sinn in der Erscheinung zum Ausdruck bringen will. Freilich haben wir unser Ideal noch nicht verwirklicht, aber wir werden es sicher dereinst verwirklichen, denn wir bewegen uns geradeswegs ihm zu. — Nein, die Umstände, welche die üblichen Schlagwörter bezeichnen, bestimmen nicht meine Antipathie; das weiß ich gewiss, denn die Effikazität unserer Zivilisation habe ich nie als negatives Moment empfunden. Lärm und Hast gibt es auch im Osten übergenug; aber im Westen führen sie zu mehr.

Es handelt sich offenbar um ein anderes; und dieses andere, das mein ablehnendes Verhalten tatsächlich bedingt, ist, wenn ich recht sehe, der Umstand, dass im Westländer alle Formen flüssig geworden sind; das muss es sein, denn ich empfinde keine Abneigung gegen die, welche, als Individuen oder als Klassentypen, eine vollendete Gestaltung darstellen. Der Gegensatz zwischen Orient und Okzident, mit dem ich mich in diesen Betrachtungen zu befassen habe, stammt ja erst aus der Zeit, da wir im Eilmarsch fortzuschreiten begannen oder genauer: hat immer nur zu den Perioden bestanden, da wir in schneller Umwandlung begriffen waren. Zwar hat er der Idee nach immer existiert: im Prinzip ist der Westen immer beweglich gewesen, auf Neuschöpfung und Neugestaltung bedacht, der Osten immer einem statischen Gleichgewichtszustande zugeneigt; wie vom Standpunkt der griechisch-orthodoxen Kirche Katholizismus und Protestantismus als eines Geistes Kinder erscheinen (die Reformation mit ihren Folgen nur als äußerste Konsequenz jenes Triebes zur Erneuerung und Wandlung in der Zeit, welcher die weströmische Kirche von jeher gekennzeichnet hat), so lässt sich wohl überall und jederzeit wenigstens der Keim zu dem Gegensatze nachweisen, der heute zwischen Ost und West besteht. Aber dieser Keim ist erst neuerdings ausgereift. Zwischen der Antike und den Glanzzeiten asiatischer Kultur, zwischen dem Frankreich des 17. Jahrhunderts und dem China etwa der Sung-Dynastie bestand, soweit das Aktuell-Gegebene in Frage kommt, nur ein Unterschied der Erscheinung, nicht des Wesens; auch im Abendlande hat bis zum Anbruch der Neuzeit das statische Ideal dominiert, sogar im alten Hellas und dem Italien der Renaissance, denn das Leben daselbst, so bewegt es war, orientierte sich doch an zeitlos gültigen Werten. Wenn wir moderne Europäer Ost und West als prinzipielle Gegensätze einander gegenüber stellen, so halten wir tatsächlich weniger den Orient dem Okzident, als das klassisch-mittelalterliche Ideal dem der Moderne entgegen, das ein wesentlich protestantisches ist; und das heißt: das Ideal der Vollendung dem Fortschrittsideal. Hiermit habe ich es wohl: ich ziehe das Orientalen- dem Okzidentalentum vor, weil ich die Vollendung in jeder Form höher schätze als den Erfolg.

Im modernen Menschen, und in erster Linie dem Amerikaner, sind alle Formen flüssig geworden. In der neuen Welt gelten die altbewährten Unterschiede zwischen den Klassen und Typen nicht mehr; was einstmals ein Definitives war, stellt sich heute, wo überhaupt vorhanden, als Stufe dar, auf welche jeder hinauf- oder hinabsteigen mag. Damit sind aus Lebensformen Bühnenrollen geworden. Eine Rolle nun besitzt keine Bildungskraft; man legt sie an und ab, wie ein Gewand; sie ganz ernst zu nehmen scheint unmöglich. Dieses ironische Verhältnis zur Gestaltung wäre ein Höchstes dann, wenn vertieftes Seinsbewusstsein mit ihm zupaar ginge und der Akzent des Lebens auf diesem ruhte. Beim Modernen aber liegt er auf einem ganz anderen: dem Rollenwechsel an sich, dem Vorwärtskommen. Deshalb ist er kein höherer Mensch.

Hie und da sind mir Geister begegnet, die den Haupteinwand gegen die Moderne in dem erblicken, dass sie die Quantität der Qualität vorziehe; dass sie keinerlei Grenzen anerkenne, wo doch Selbstbescheidung in irgendeiner Form die Basis aller wahren Werte sei. Freilich trifft dieser Einwand zu; was ich selber gesagt, ist dem Sinne nach wesentlich das gleiche. Allein die Fassung, welche Quantität und Qualität in gleichsam ewigen Gegensatz setzt, verfälscht die Wahrheit. Dass der Moderne unersättlich scheint, bezeichnet kein Unglück, weil auch dieses ἄπειρον mit Unvermeidlichkeit an irgendeinem Punkt seine Grenze finden, was seinerseits automatisch Selbstbescheidung einleiten wird; und indessen wird die quantitative Norm gehoben. Der Zug ins Rein-Quantitative ist ein Vorläufiges, wird sich aus äußeren sowohl als inneren Gründen von selbst in andere Tendenzen umsetzen, sobald die neue Menschheit ihre Flegeljahre hinter sich hat. Es beweist Phantasielosigkeit, im Überschreiten der altbewährten Grenzen ein Verhängnis zu sehen, denn keine verkörpert als solche ein Ideal; an sich bezeichnen alle einen Nachteil; je weiter sie hinausgeschoben werden, desto besser. Das wirklich Bedenkliche ist, dass unsere Zeit Erfolg und Vollendung verwechselt; dass sie die alten Werte nicht verleugnet, sondern dieselben auf einer höheren Stufe, als alle früheren Epochen, zu verwirklichen wähnt; dass sie ihren Zustand nicht als vorläufig, sondern ideal beurteilt. Dieser Umstand bedingt die Minderwertigkeit ihrer Vertreter.

Die Natur verwirklicht und vollendet sich in der Gestaltung; wo sie noch ungestaltet, d. h. unfertig ist, dort tritt das Wesen nicht rein zutage: daher das Unreife des Okzidentalen im Vergleich zum Orientalen. Nun kann ein noch so unreifer Bengel, wo er nicht mehr als ein Bengel sein will, sehr liebenswert erscheinen; abstoßend wirkt er nur, wo er sich als Vollmensch gibt, dies aber kennzeichnet das Amerikanertum. In Europa erkennt man es mehr und mehr, dass das Flüssige, so wie die Menschen einmal sind, nur als Übergangszustand nicht vom Übel ist, und strebt daher über die Flüssigkeit hinaus, denn noch liegen uns die Beispiele höheren Menschentums nicht fern. Der Amerikaner ahnt nur in Ausnahmefällen, dass es ein Höheres als den Fortschritt gibt. Deshalb wirkt er wie kein anderer barbarisch.

Hiermit hätte ich wohl festgestellt, weshalb ich dem Westländertum nicht hold bin, und mein Empfinden schelten kann ich nicht. Hiermit hätte ich aber zugleich den Ansatz gefunden, von dem aus ich mein negatives Verhalten in ein positives dürfte umwandeln können.

Ich war in China zum Ergebnis gelangt, dass die Chinesen auf einer höheren Kultur- aber auf einer niedrigeren Naturstufe ständen als wir; dass der höhere Grad der Vollendung bei ihnen mit einem geringeren Grad des Fortgeschrittenseins zupaar ginge. Hieraus folgt, dass wenn wir von unserer Naturstufe aus den gleichen Grad der Vollendung erreichten, wie die Chinesen, wir diesen durchaus überlegen sein würden; was seinerseits den Übergangszustand rechtfertigt. Von einer fertigen Gestalt zu einer neuen führt der Weg nur durch Gestaltloses hindurch, von einer Vollkommenheit zu einer anderen nur durch Unzulänglichkeit. Das moderne Europa hat die alten Formen zerbrochen; damit begab es sich auf lange Zeit der Möglichkeit vollendet zu erscheinen; es verfiel zurück in die Barbarei, in der es noch mitten inne steckt, ja vermutlich noch lange immer tiefer einsinken wird; im Sinn der Vollendung geht es gewiss nicht vorwärts mit uns. Aber ebenso gewiss geht es vorwärts im Sinn der Naturentwickelung, und damit treten Vollendungsmöglichkeiten in die Welt, welche den Kulturvölkern des Ostens nicht innewohnen. Diese Möglichkeiten sind der Verwirklichung noch so fern, dass nur der Embryolog sie mit einiger Sicherheit vorausbestimmen könnte; was sich heute dem Blicke zeigt, ist meistens häßlich. Aber unser Zustand ist vielversprechend, kein Einsichtsfähiger kann das leugnen. Von diesem Gesichtspunkte aus will ich fortan dem Abendländertum entgegentreten.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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