Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

Nach Amerika: Barbarentum der Moderne

In Adyar, wenn ich nicht irre, habe ich mich des längeren über die allgemeinen Beziehungen zwischen Vollendungs- und Fortschrittsstreben auseinandergesetzt. Damals legte ich den Hauptnachdruck darauf, dass der Ehrgeiz, biologisch weiterzukommen, direkt abführt von der möglichen Vollendung, dass indes Vollendungsstreben umgekehrt den Fortschritt indirekt begünstigt. Aber diese einfachen Bestimmungen erschöpfen die Frage nicht; der Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungsrichtungen ist vielfältig und verstrickt. Heute will ich mir über die merkwürdigste Beziehung, die ich zwischen ihnen erkennen kann, Klarheit verschaffen.

Vergleiche ich die fertigen Kulturen des Orients mit unserer werdenden, so finde ich, dass der innere Mensch innerhalb jener wohl ungleich gebildeter ist, dass in dieser dafür das, was im Orient die höchste Subjektivität kennzeichnet, zur objektiven Macht exteriorisiert erscheint. Ich glaube nicht, dass irgendein nicht hochbegabter Christ so tief zu lieben weiß, wie ein indischer Bhakta, so human empfindet, wie der typische Buddhist, von moralischem Sinn so tief beseelt ist, wie ein hochstehender Konfuzianer; dafür sind bei uns die Liebe, die Moralität und die Humanität zu objektiven Mächten geworden, und das sind sie im Osten nicht. Während bei uns der innerlich noch so rohe bis zu einem gewissen Grade gezwungen ist, im Sinn des Höchsten zu handeln, zwingt nichts den Asiaten, gebildet zu erscheinen, wo er es nicht ist, weshalb das praktische Verhalten östlicher Durchschnittsmenschen mehr zu wünschen übrig lässt als das der westlichen. Wir handeln im Ganzen besser als wir sind.

Wir sind mit unseren Institutionen unserem Wesen vorausgeeilt. Unser Verstand hat als für Alle wünschenswert erkannt, was aus innerem, persönlichen Drang nur ein Heiliger anstreben würde, und eine Maschinerie erfunden, welche die Realisierung des Ersprießlichen automatisch sichert. Die Nachteile dieses Weges liegen auf der Hand: die Möglichkeit, das Gute von außen her zu verwirklichen, macht oberflächlich, denn wo sie vorliegt, dort gewöhnt der Mensch sich daran, alles Heil von äußeren Umständen zu erwarten und vernachlässigt entsprechend seine innere Bildung. Aber unser Weg hat auch sehr große Vorzüge, und bei diesen allein will ich heute verweilen, da mir ja darum zu tun ist, eine sympathetische Stimmung dem Westen gegenüber in mir zu wecken. Jede Seele ist vielfacher Gestaltung fähig, entwickelt sich verschieden, je nachdem, welche ihrer Bestandteile zur Vorherrschaft gelangen, und die Form, die sie schließlich gewinnt, hängt in hohem Grade davon ab, in welcher Umwelt sie wächst — wie in wilden Zeiten die meisten verwildern, weil alle Gelegenheiten der Bestie hold sind, so gewinnt in günstiger Umgebung bei den Meisten das Beste die Oberhand; deshalb ist es ein Glück, wenn die äußeren Verhältnisse möglichst gute sind. Es ist unzweifelhaft möglich, von außen nach innen zu wirken, ja, im Falle uneinsichtiger Wesen gibt es nur diesen einen Weg, sie des Höchsten teilhaftig werden zu lassen. Die alten Kulturen verlangten in diesem Sinn, dass der Unmündige dem Wissenden blind gehorche, und allerdings war es besser, die Masse also zu bevormunden, als sie ihrem eigenen Gutdünken zu überlassen, um so mehr, als sie eine dritte Möglichkeit nicht kannten. Unsere Zivilisation nun hat eine solche ins Leben gerufen: innerhalb der modernen Organisation des äußeren Lebens erweist sich das Gute als immer zweckmäßiger; selbst Schurken macht heute die Klugheit in Geschäften solid; der stumpfste Geist wird durch die Erfahrung zur Erkenntnis genötigt, dass es in unserer Welt im ganzen und auf die Dauer vorteilhafter ist, sich dem Ideal entsprechend zu verhalten. Mag dieser Umstand noch so sehr einem gröbsten Utilitarismus zugute kommen, — immerhin wirken die idealen Forderungen als reale Mächte und formen die Seelen, so dass ein unter halbwegs günstigen Verhältnissen erwachsener Durchschnittsmoderner unwillkürlich humaner und rechtlicher denkt als seine Altvorderen. Nun findet eine naturnotwendige Höherentwickelung der Menschheit in moralischer Beziehung nachweislich nicht statt; ihre moralische Erbanlage ist im Ganzen die Gleiche, wie vor Jahrtausenden; aller ethische Fortschritt der Massen geht auf geistige Einflüsse zurück, die als solche nur den Einzelnen betreffen können und, von seiner Physiologie her gesehen, außenher stammen. Deshalb bedeutet der durch unser System bewirkte Erfolg, dass der seelisch Unmündige sich — gleichviel weshalb — aus eigenem Antrieb zum Guten bekennt, ein überaus Wichtiges.

Denn damit erwacht in ihm eine innere Kraft, die frei dem gleichen zustrebt, worauf der Druck von außen hinarbeitet, und auf diese Weise hebt sich, langsam aber unaufhaltsam, das allgemeine Niveau. Nach dem orientalischen System muss der unmündig geborene unmündig bleiben, und so hoch der Mündige stehe — ein Erwachsen der Masse erscheint ausgeschlossen; die Menschheit als Ganzes verharrt auf der ursprünglichen Daseinstufe. Innerhalb des unserigen besteht die Möglichkeit, dass gerade die Masse dahin gelangte, wo bisher nur Bevorzugte standen; und die ist eben dadurch geschaffen worden, dass die äußeren Umstände es dem Unmündigen nahelegen, aus eigenem Antrieb dem Guten nachzueifern, so dass geistige Mächte ihn nun hinausführen können über die Grenzen seiner ererbten Natur. Dank diesem Umstand ist ein erstaunlich hoher Prozentsatz nicht hochgeborener Weißer innerhalb eines Jahrhunderts auf eine Stufe hinangestiegen, wie solche die Shastras dem indischen Çudra erst nach Jahrtausenden rastlosen Strebens durch unzählige Wiedergeburten hindurch in Aussicht stellen.

Von hier aus wird nun sehr deutlich, inwiefern das Streben nach Fortschritt der Vollendung doch zugute kommt. Wohl ist diese auf jenem Wege nicht zu erreichen; dies bedingt das Barbarentum des Modernen. Aber das Streben nach Fortschritt innerhalb eines Kultursystems, in dem die höchsten Ideale als objektive Mächte wirken, bringt es andrerseits dahin, dass mehr und mehr Menschen auf die Naturstufe gelangen, auf der in Indien allein der Brahmane steht. Auch dieser wird ja nicht vollendet geboren — was seinen Vorzug macht, ist eine bessere Erbanlage, die ihm ermöglicht, unmittelbar, ohne Umwege dem irdisch-Höchsten nachzustreben; unser Kultursystem kann es einmal dahin bringen, dass alle Menschen als Brahmanen anheben werden.

Dies muss dem Gleichheitsideal zugute gehalten werden, so sehr es die Menschheit sonst herabdrückt und oberflächlich macht. Stellte der jetzige Zustand einen Endzustand dar, dann müsste er bekämpft werden; das Nivellement nach unten zu, das die Demokratie zunächst mit Notwendigkeit bewirkt, zieht eine ungeheure Entwertung der Menschheit mit sich, deren Andauer den Ruin bedeuten würde. Allein sie wird nicht andauern; die Demokratie bedeutet nur eine Arbeitshypothese, die sich, wenn die Zeit dazu gekommen, von selbst erledigen wird. Kaum dass das Gesamtniveau sich genügend erhoben hat, werden neue Schichtungen entstehen, neue Berge sich auftürmen, neue Talkessel sich bilden; nur wird die neue Aristokratie auf höherem Niveau beruhen, als es die alte tat, deren Eigenschaften nunmehr zum Erbteil der Masse geworden sein werden.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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