Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

Nach Amerika: Neuorganisation

Wo mehr als zehn Amerikaner versammelt sind, kann man sicher sein, dass einer unter ihnen ein crank ist; eine Original von der exzentrischen Sorte. Auch auf diesem Dampfer habe ich einen entdeckt: einen Missionar, dessen Spezialität der Dämonenglaube ist. In China will er gesehen haben, wie die Geister toter Mädchen von anderen Besitz ergreifen, und wie Taufe allein diesem Verhängnis vorbeugen könne; auf diese Idee und deren Ableitungen reist er seither. — Während ich heute, in sympathetischer Verfassung, dieser Erscheinung nachsann, fiel mir ein, dass ich unter Asiaten auch nicht einem crank begegnet bin. Der Fakir könnte, äußerlich betrachtet, wohl als Exzentrik gelten: aber seine Art ist ganz unpersönlich; er folgt einem exzentrischen System, ohne selbst nur im mindesten exzentrisch zu sein. Die spezifisch individuelle Note fehlt.

Diese Note dominiert unter uns; desto mehr, je typischerwestlich wir sind. Und im gleichen Verhältnis blüht unter uns der crank. Das Streben nach Individualisiertheit kann unter Durchschnittsmenschen nicht zu wertvollen Ergebnissen führen; diese werden nur exzentrisch, wenn sie sie selbst sein wollen, und wirken unvollkommener als noch so beschränkte Klassentypen, weil die Tradition immer weiser ist als der mittelmäßige Einzelne. Ja, aber andrerseits können nur dort, wo alle sie selbst sein wollen, wo die Rechtmäßigkeit dieses Strebens vorausgesetzt wird, wirklich große Neuerer emporkommen; im alten China wäre ein Edison undenkbar gewesen. Dieselben Umstände, welche das Zerrbild des Exzentrik begünstigen, kommen auch dem Genius zugute. Oberflächlich betrachtet, ist eben auch dieser ein Crank. Das Streben nach Anders-Sein ist die notwendige Voraussetzung aller erfinderischen Originalität.

Somit müssen wir uns wohl dabei bescheiden, unsere im Einzelfalle höhere Originalität durch eine größere Unvollkommenheit des Durchschnitts erkauft zu sehen. Jede Neuerung qua Neuerung ist ein Kulturfeindliches, insofern als Kultur das Fleischgewordensein eines gegebenen Geistes bedeutet und einem Neuentstehenden das Fleisch noch fehlt. Neuerungsstreben macht ferner oberflächlich; wessen Aufmerksamkeit auf die Verwandlung der Erscheinung geheftet ist, verliert leicht indes die Fühlung mit seinem Grund. Je erfinderischer wir wurden, desto mehr sind wir verflacht und sollten wir noch lange diese Entwicklungsrichtung einhalten, so könnten wir verderben. Allein ich kann nicht glauben, dass es noch lange so fortgehen wird. Ich bin vielmehr überzeugt, dass unser Verlieren an Tiefe den gleichen Sinn hat, wie das vorläufige Minusmachen dessen, der ein Landgut verbessert: es handelt sich in Wahrheit um Investierung. In uns werden, unter ungeheueren Kosten, neue Organe herangebildet; wo früher die Gruppe der Träger aller Kulturgedanken war, soll es fortan der Einzelne sein. Diese Neuorganisation bedingt ein vorläufiges Verzichten auf die Erträge, die durch die alte Ordnung gesichert schienen. Aber wenn die neuen Betriebe erst im Gange sind, dann wird das Gut vielleicht das Zehnfache abwerfen. Wohl schwerlich wird die weiße Menschheit der Zukunft aus lauter Edisons bestehen; aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Zahl der cranks stetig abnehmen und einem neuen Typus Platz machen, der einerseits so wurzelecht, wie der alte Klassentypus, andrerseits so selbstbestimmt erscheinen wird, wie der extremste moderne Individualist. Nur der Oberflächliche bekennt sich nämlich zum Individualismus, der Vertiefte fühlt unmittelbar den Zusammenhang. So wird die Zukunft scheinbar wohl zu einer Wiederherstellung der alten Ordnung führen. Die Exzentriks werden abnehmen, die Durchschnittsmenschen ausgeglichener erscheinen. Und doch wird es sich um ein völlig Neues handeln: alle werden Individualitäten sein. Dann wird die individuelle Form der Masse die gleiche Vertiefung ermöglichen, wie bisher nur die typische.

Dieser Tage schreibe ich, als wäre ich Evolutionist, als glaubte ich so fest an den Fortschritt, wie ein Yankee. Das tue ich wirklich, sofern es sich um Abendländer handelt, und soweit von Fortschreiten überhaupt die Rede sein kann. Dass unser Fortschrittsbegriff dem Naturprozess unangemessen sei, erscheint gewiss, und diese Erwägung erledigt Spencers Theorie. Nicht bloß Pflanzen und Tiere bleiben von sich aus durch Äonen die gleichen und verwandeln sich bloß in Reaktion auf eine sich wandelnde Außenwelt — auch von den Menschen gilt gleiches überall, wo kein Jenseits des Physiologischen ihr Leben regiert; so weist die russische Geschichte vom fünfzehnten Jahrhundert bis auf gestern, vom Menschen und seinen Motiven her besehen, nur Wiederholungen auf. Aber jene Theorie hätte so großen Anklang nicht gefunden, wenn sie dem Intellekte nicht gemäß wäre. Dieser ist wesentlich zielstrebig, notwendig fortschreitend; er steht nie still, ist unfähig sich zu bescheiden, jedes Erkannte weist auf neue Erkenntnisse hin, die sich schnurstracks dem Ideale zubewegen. Wo Intellekt daher das Leben dominiert, muss dieses fortschreiten seinen Normen gemäß. Wir Westländer haben uns jenem ganz verschrieben; unsere besondere Natur ermöglicht uns, seiner Eigenbewegung in hohem Grad zu folgen, seine Ideale sind unsere Ziele; also verändern wir uns gemäß dem Fortschrittspostulat. Wie weit dies gehen wird, bleibt abzuwarten; die an sich konservativ gesinnte Physis mag den Forderungen des Geistes Schranken setzen, die er nicht überwinden kann. Immerhin ist Fortschreiten ins Unbegrenzte hinaus denkbar. Und da Glaubensinhalte reale Mächte sind und Ideale überaus mächtige Attraktionszentren, so mag die Zukunft der weißen Menschheit noch Erfüllungen bringen, die keine Gegenwart versprach.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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