Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

Nach Amerika: Geist der Freiheit

Mit den Missionaren kann ich mich aber trotz besten Willens nicht befreunden. Freilich gibt es große und edle Menschen in diesem Beruf, aber sie sind gar undicht gesäet und erfüllen ihn dann auch entsprechend schlecht: sie wollen nie eigentlich bekehren. Es ist und bleibt eine Beschränkung, seine Meinung anderen aufzudrängen, was sich praktisch deutlich genug darin erweist, dass alle richtigen Missionare beschränkt sind. Hier an Bord habe ich mich mit einigen unterhalten, welche jahrelang in China gewohnt haben: die haben es tatsächlich zu Wege gebracht, von den Vorzügen des Konfuzianismus nichts zu merken! Solche Blindheit ist wahrlich gottbegnadet, nur auf übernatürliche Weise zu erklären. Die christlichen, zumal die protestantischen Missionare sind mit verschwindenden Ausnahmen verständnislos, engherzig und seelisch roh. Wie kläglich wenig gilt von ihnen, was von den Aposteln des Bahaitums gilt, denen Baha’u’llah, ihr Messias, die schöne Weisung gab:

O Kinder von Baha! Verkehrt mit allen Völkern der Welt, mit den Bekennern aller Religionen im Geist vollkommener Freudigkeit. Erinnert sie daran, was allen frommt, aber hütet euch davor, das Wort Gottes zum Stein des Anstoßes oder zur Quelle gegenseitigen Hasses zu machen. Wenn ihr wisst, was der andere nicht weiß, so sagt es ihm mit der Zunge der Freundlichkeit und Liebe. Nimmt er es an und auf, so ist das Ziel erreicht; weist er es ab, so betet für ihn und überlasst ihn sich selbst; nie dürft ihr ihn belästigen

Wahrscheinlich sind die Missionare des Anfangs unserer Zeitrechnung nicht viel besser gewesen. Und wenn ich nun dessen gedenke und der Höherentwickelung, die sie trotzdem eingeleitet haben, dann wird meine Stimmung denen von heute gegenüber milder. Freilich ist es ein Unglück, dass sie Indien und China heimsuchen, denn die Bewohner dieser Länder stehen teilweise geistig, teils moralisch und teils spirituell zu hoch über denen, die sie belehren kommen, als dass sie irgendwie förderlich wirken könnten. Aber zu roheren Völkern mögen sie gehen; denen werden sie ebenso nützen können, wie ihre Vorgänger unseren barbarischen Vorfahren genützt haben. Ja, denen werden sie sich förderlicher erweisen, als die Verkünder tieferer Weisheit es vermöchten, denn unzweifelhaft eignet dem Christentum eine einzigartige formende Macht; es ist die einzige spiritualistische Religion, welche solche besitzt. Und sie besitzt sie anscheinend ganz unabhängig von der Qualität derer, welche sie verkünden, und von dem geistigen Wert ihrer Dogmen, denn dieser Wert ist, verglichen mit dem des Brahmanismus und beider Buddhismen, gering. Er hat sich sogar stetig verringert im Lauf der Jahrhunderte, denn wenn die frühesten Kirchenväter spirituelle Einsicht besaßen, so gilt dies schon wenig von Luther und Calvin, und gar nicht von den Handwerkern und Schwarzarbeitern, die in Amerika als Religionsstifter auftraten. Aber nahezu im gleichen Verhältnis, wie der geistige Wert des Christentums sank, ist der praktische, die Effikazität, gestiegen. Es kann nicht geleugnet werden, dass der Protestantismus Menschen von größerer Idealität formt, als der Katholizismus, und dass die noch so alberne Dogmatik der amerikanischen Sekten den Geist des Christentums in ihren Bekennern zu einer Macht herangebildet hat, wie er dies früher nie gewesen ist. Wie ist dies zu verstehen? — Eben dahin, dass der Geist des Christentums ein Geist der Praxis ist, weswegen es nicht allzuviel bedeutet, an welche dogmatische Vorstellungen er jeweilig geknüpft erscheint.

Von hier aus allein ist es möglich, dem Christentum gerecht zu werden. Es ist nicht wahr, dass die Lehren Jesu Christi an philosophischem Tiefsinn ein Maximum bedeuteten; selbst das Johannes-Evangelium wirkt unzulänglich, verglichen mit der Bhagavad-Gîta. In den Lehren Sri Krishnas und der Mahāyāna-Religion stehen die Grundideen des Heilandes des Westens in tieferer Fassung da, erscheinen überdies in einen Zusammenhang hineinbezogen, der jenem wohl ganz verborgen geblieben war, und ihnen doch erst ihren eigentlichen Sinn gibt. Vom Standpunkt metaphysischer Erkenntnis her betrachtet, stellt das traditionelle oder buchstäbliche Christentum sich als ein ganz Vorläufiges dar. Aber es ist überhaupt keine Religion der Erkenntnis, sondern eine der praktischen Tat, und als solche überragt sie alle anderen. Wie ich’s schon schrieb: unter den christlichen Völkern allein sind die Ideen der Liebe, der Humanität, der Barmherzigkeit zu objektiven Mächten geworden und dies bedeutet, dass das noch so unvollkommen erkannte Metaphysisch-Wirkliche durch das Christentum in der Erscheinung besser verwirklicht wird, als durch irgendeinen anderen Glauben. Dessen Stifter waren eben wohl oberflächlichere Erkenner, aber tiefere Täter als Krishna und Açvagoshas; ja, insofern beide Teile die Erscheinung gestalten wollten, waren jene die tieferen schlechthin, denn in der Sphäre des aktuellen Lebens ist die Fassung einer Idee die absolut beste, die sich am besten bewährt — gleichviel, wie weit sie geistig befriedigt. Dies ist der Sinn jener Überlegenheit des Christentums, welche die Geschichte beweist, so sehr der einseitige Geistesmensch an ihr zweifeln mag. Und dieses rechtfertigt zugleich die Mission. Die beschränkten Menschen, welche ausziehen ihre unmaßgeblichen Meinungen anderen Leuten aufzudrängen, verkünden durch ihr Sein doch ein echtes Evangelium: das der Arbeit und der schöpferischen Tat. Sie geben ein Beispiel hohen Opfermuts, nie ermüdender Initiative, unbeirrbarer Konsequenz, des festen Willens dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Das ist ja das Wesentliche der westlichen Kultur, dass sie nichts als unabänderlich gelten lässt. Wir halten für möglich, die Welt von Grund aus umzuwandeln, unsere höchsten Ideale der Wirklichkeit einzuverleiben. Dieser Geist der Kampflust, des Muts, des Optimismus ist dem Orient fremd; er steht Menschenkraft zu skeptisch gegenüber, er weiß zu viel… Oder hat er am Ende Wichtiges übersehen? Hätte ich, bei meinen bisherigen Betrachtungen, den Nachdruck auf den falschen Ort gelegt? — Die ersten amerikanischen Möven kommen geflogen. Die psychische Wasserscheide ist überschritten, unaufhaltsam zieht es mich zu okzidentalischer Seinsgestaltung zurück. Und nun erkenne ich, dass die praktische Überlegenheit des Christentums ihrerseits Ausdruck eines unbedingten metaphysischen Vorzugs ist: es verkörpert, wie keine andere Religion, den Geist der Freiheit. Auf zwei Weisen allein kann der naturbedingte Mensch sich frei erweisen: indem er innerlich ja sagt zum Geschehen, und indem er ihm initiatorisch die Richtung gibt. Dementsprechend resümieren die christliche Ethik zwei Gebote: dass jeder sein Kreuz auf sich nehmen soll und jeder furchtlos und opferfreudig kämpfen für den Sieg des Guten. Diese leiten wahrhaftig einen jeden zu einem Leben der Freiheit an. Wenn die Inder, die tiefsten Erkenner, praktisch versagen, so liegt dies daran, dass sie innerhalb der Erscheinung ihr freies Wesen nicht auszuprägen wissen. Anstatt ihr Kreuz auf sich zu nehmen, gedenken sie seiner Unwesenhaftigkeit, was sie ebensowenig entbindet, wie das Verleugnen eines unliebsamen Verwandten die Verwandtschaft aufhebt; anstatt ihre Erkenntnis ihrer Wesenseinheit mit Brahman, der sich in dieser Welt immer voller und voller manifestieren will, zur Tat werden zu lassen, indem sie überall Initiative bekunden im Sinn des Gottgewollten, schauen sie bloß zu, wie Gott sich selber hilft. Wir nun wissen nicht entfernt so viel wie jene; aber Christi Lehre leitet uns an, unbewusst im Sinn ihres Wissens zu leben. So sind wir zur Tat berufener als sie. Wir sind Gottes Hände. Diese Hände als Hände sind blind und ihre Blindheit hat viel Unheil angerichtet. Aber werden sie einst geführt vom erkennenden Geist, so wird ihnen gelingen, soweit solches überhaupt möglich ist, das Himmelreich auf Erden zu begründen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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