Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Im Yellowstone Park: Kultur der Aufrichtigkeit

Somit lassen sich Bedeutung und Eigenart der modern-okzidentalischen Kultur mit einem Begriff erschöpfend bestimmen: sie ist Kultur der Aufrichtigkeit. Mehr als alle Menschen gestehen wir uns ein, was wir wollen und sind. Was immer wir vorläufig gelten lassen mögen — eigentlich und letztlich glauben wir an uns selbst allein und rasten nicht, bis unsere Stellung in und zu der Welt mit unserer individuellen Überzeugung harmoniert. Demgemäß sind Überzeugungstreue und empirische Wahrhaftigkeit uns höchste Ideale. Wir wissen nicht, wie die Inder, metaphysische Wahrhaftigkeit mit Lügenhaftigkeit nach außen zu vereinen, oder gleich den Chinesen, unverbrüchlich treu eine vorgeschriebene äußere Ordnung einzuhalten, ohne zu fragen, inwiefern sie uns selbst entspricht: unserer Gesinnung gilt als besser, an persönlichem Irrtum zugrunde zu gehen, als einer unverstandenen Wahrheit zu dienen, besser durch mutiges Auswirken dessen, was wir glauben, in metaphysischen Sinn zu lügen als eine empirische Unwahrheit zu reden. Auch hier leitet uns die Grundidee, die aller westlichen Kulturgestaltung zugrunde liegt: dass Menschenbestimmung sei, den Sinn der Erscheinung restlos einzubilden.

In China verweilte ich bei den Nachteilen der Aufrichtigkeit. Diese fördert den Einzelnen weniger als blinde Hingabe an ein Äußeres, sofern dieses einem objektiven Optimum entspricht und die persönliche Meinung irrig ist; in diesem Sinn rührt unsere Roheit zum großen Teil von unserer Aufrichtigkeit her. Aber unsere Barbarei hat andrerseits mehr Zukunft, als jede auf Autorität begründete Kultur, weil Mut und Wahrhaftigkeit, und sie allein, notwendig vorwärtsführen, weil vor allem sie allein den Entwickelungsprozess beschleunigen. Der Natur der Dinge nach müssen auch unsere Irrtümer Segen bringen.

Ich überfliege im Geist die Geschichte unserer Wissenschaft und Philosophie. Auf wieviel Abwegen sind wir nicht schon gewandelt, wie viele Umwege haben wir nicht gemacht! Wie vieles Vorläufige haben wir als letztes Wort gefeiert, mit wie viel einseitigen Formeln den Sinn der Welt zu erschöpfen gewähnt! Aber jeder Fehltritt hat doch Gutes zur Folge gehabt. Indem die einen nur Sein anerkannten, die anderen nur Werden, erfuhr jede Möglichkeit im Kampf der Schulen eine so scharfe Herausarbeitung, dass ihr Zusammenhang heute vollkommen deutlich scheint. Indem kühne Revolutionäre die überkommene Moral verwarfen und unbefangen die Selbstsucht zum Panier erhoben, zwangen sie die übrigen, die Gründe ihrer entgegengesetzten Überzeugung aufzusuchen, wonach das Wahre sich als desto wahrer erwies und mancher Irrtum aufgehoben ward. Der Kirchenfeindschaft, der Freigeisterei, der Antireligiosität verdankt man’s vor allem, dass heute endlich der Sinn religiösen Glaubens einzuleuchten beginnt, womit denn das, was vormals dunkler Glaubensinhalt war, zur lichten Erkenntnis wird. Jede Kritik bringt Segen auf die Dauer, so einseitig sie sei, soviel Schönes sie im Augenblick zerstöre. Denn auch hier heißt es: stirb und werde! Nur aus zersetztem Samen erwächst neues Leben, nur aus der Zersetzung des blind Übernommenen entsteht deutliches Wissen. Wenn der Mensch autonom werden soll, voll verantwortlich für alles, was er will, denkt und tut, dann muss er seiner Gründe voll bewusst werden. Alle Dogmen als solche muss er sprengen, alles Vorurteil, auf alle Rückversicherung in der Rassenerfahrung verzichten. Diesem Prozess war die Neuzeit gewidmet; der geistige Kosmos ist damit wieder einmal in ein Chaos zurückverwandelt worden, es gärt und kocht in ihm und was schließlich kommen wird, ist im Einzelnen nicht abzusehen. Aber das allgemeine Ziel ist schon gewiss: unsere Kultur der Aufrichtigkeit muss dahin führen, dass die auf Heteronomie beruhende Harmonie sich zuletzt in eine auf Autonomie begründete umsetzt, dass alles Wahre, was vormals auf Autorität hin geglaubt ward, zur persönlichen Erkenntnis wird und das persönliche Selbstbewusstsein durchaus zum Träger des Menschheitswillens. Und sie allein kann dahin führen. Mögen das indische, das chinesische, das katholisch-christliche System noch so erfreuliche Bilder erreichter Vollendung darbieten — sie bergen keine Entwickelungsmöglichkeit. Ein Neues kann nur auf unserem Wege werden.

Der jüngste und typischste Abendländer, der Amerikaner, ist der aufrichtigste Mensch; dies erkauft seine Unkultur. Aus ihm kann noch alles werden. Wie wenig das Vorläufige als solches den Vergleich mit dem Vollendeten verträgt — in einer Welt des Werdens hat es Daseinsberechtigung. Und schließlich steht dieses Vorläufige der äußerst denkbaren Vollendung näher in der Idee, als die indische Vollkommenheit. Ich rufe mir meine Betrachtungen über deren Eigenart ins Gedächtnis zurück: der Inder, des Sinnes tief bewusst, hat nie für notwendig befunden, bei dessen Ausdruck den Eigen-Sinn des Mittels zu berücksichtigen, nie Kongruenz beider Bedeutsamkeiten postuliert; dementsprechend gelten ihm Tatsachen und Einbildungen, Wirklichkeiten und Mythen, Lügen und die Wahrheit reden, Aberglauben und exaktes Wissen als gleich, sofern nur der Sinn an sich erfasst erscheint. Allein dieser realisiert sich ganz nur dort, wo er restlos die Erscheinung durchdringt, wo keinerlei Widerspruch zwischen Innerem und Äußerem besteht. Deshalb sind Einbildungen und Tatsachen, Lügen und Wahrheiten nicht gleichwertig; der widerstreitende Ausdruck nimmt dem Sinn seine Wirkungskraft; hierher rührt das Versagen der Inder als Menschen und im praktischen Leben. Der Abendländer nun ist Fanatiker der Exaktheit; daher sein beispielloser Erfolg in der Erscheinungswelt. Vom Sinn weiß er noch wenig. Allein erfasst er ihn je, dann wird er ihm auch zu vollkommenem Ausdruck verhelfen, die vollkommene Harmonie herstellen zwischen Wesen und Phänomenalität.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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