Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Salt Lake City: Das amerikanische Sektenwesen

Wesentlich interessanter erscheint das amerikanische Sektenwesen, wenn man es nicht an sich selbst, sondern als Exponenten und Repräsentanten okzidentalischer Religiosität betrachtet; denn hier wie überall treten die typischen Züge des Abendländers in Amerika stärker zutage als in Europa und haben vorgeschrittenere Entwickelungsstadien erreicht. Was unterscheidet unsere Religiosität grundsätzlich von der indischen? Dass in ihr, im Gegensatz zu dieser, das Principium individuationis die Gestaltung herrschend bedingt. Die Religion hat es im Westen mit dem Verhältnisse des Einzelnen als solchen zu Gott zu tun; über dem Einzelnen, zum Menschen zu, gibt es keine Instanz. Damit wird das Individuelle zum Wert. Gleichviel, wie dies Verhältnis im besonderen verstanden werden mag — im Sinn eines unendlichen Werts der Menschenseele schlechthin (Christus), der Persönlichkeit als höchsten Glücks (Goethe), des Übermenschen (Nietzsche), des Gottmenschen (Johannes Müller, New thought), den jeder Einzelne aus sich herausbilden oder in sich wecken soll — es ist die Wertbetonung des Individuellen als solchen, die der okzidentalischen Religiosität ihren eigenartigen Charakter gibt. Hierauf sind die meisten und jedenfalls die wichtigsten Unterschiede zwischen östlichem und westlichem religiösen Wesen zurückzuführen. Nirgends gibt es mehr Sekten, als in Indien; nirgends sind die Unterschiedsmerkmale bestimmter herausgearbeitet; aber da das Unterschiedliche nicht wertbetont erscheint, so ergeben sich aus dem Tatbestand die Konsequenzen nicht, die ein gleiches im Westen immer zur Folge gehabt hat. Bei uns hat Unterschiedlichkeit immer Feindschaft bedingt, sieht eine Sekte auf die andere herab, bekriegt sie, verfolgt sie, sucht sie auszurotten oder zu bekehren; wenn der Wert an die individuelle Form gebunden sein soll, dann entwertet natürlich die jeweilig anerkannte sämtliche anderen, woraus sich die Berechtigung, ja die Pflicht ergibt, sie so oder anders aus der Welt zu schaffen. Wo hingegen das Individuelle nicht als Wert, sondern als Sonderausdruck eines Höheren aufgefasst wird, dort ist der Intoleranz, der Ausschließlichkeit, der Bekehrungswut, ja dem bloßen Missionseifer der Boden unter den Füßen entzogen. Deshalb hat sogar die Mahāyāna-Religion, die ihren Anhängern Missionieren zur Pflicht macht, nie Intoleranz geübt: dem indischen Geist widerstrebt es absolut, eine Sondergestalt an sich als Wert zu beurteilen.

Nun ist kein Zweifel, dass die indische Auffassung prinzipiell die richtige ist: das Individuelle ist an sich kein Wert. Aber es kann zum Träger von Werten gemacht werden, und geschieht solches, so erhält es eine spirituelle Dichtigkeit, die sein Wesen von Grund aus verwandelt. Daher die ungeheure, einzigartige Effikazität, die den westlichen Geist in all seinen Äußerungen kennzeichnet. Was hat die bloße Tatsache des Verschiedenseins bei uns von je für Kräfte entfesselt! Man denke an die Kämpfe zwischen Christen und Ungläubigen, Katholiken und Protestanten, Traditionalisten und Fortschrittlern: so wenig sie innerlich berechtigt erscheinen, so ungeheure Wirkungen haben sie ausgelöst, und zwar segensreiche Wirkungen. Jeder Kämpfer sah eben in seinem Sonderbekenntnis das einzigmögliche Gefäß der absoluten Wahrheit, er füllte es mit dem gesamten Gehalt an Idealen, den er besaß, und ward sich derer so deutlicher und innerlicher bewusst, als dies möglich gewesen wäre, wenn er sie an sich und parteilos kontempliert hätte. Hierher rührt es, dass unsere beschränktere Erkenntnis für den Menschheitsfortschritt mehr bedeutet hat als die tiefere und weitere der Inder: was wir wussten, haben wir unserem persönlichen Leben eingebildet und auf diese Weise unseren Ideen die ganze lebendige Kraft persönlichen Wünschens und Strebens mitgeteilt. Auf diese Weise löst sich das Rätsel, weshalb Albasche und Cromwellsche Unduldsamkeit mehr zum Sieg der Gewissensfreiheit beigetragen haben, als eines Erasmus Allverstehen: Toleranz läuft praktisch auf Gleichgültigkeit hinaus, kann die Welt daher von sich aus nicht verändern, während jedes einseitige Wirken, dank den Gegenwirkungen, die es auslöst, darauf hinarbeitet, dass sich der alte Gleichgewichtszustand in einen neuen umsetzt. Auf diese Weise löst sich auch das Paradoxon, auf das ich im Laufe dieser Aufzeichnungen öfters hinzuweisen Gelegenheit fand — das Paradoxon, dass der Wert einer Idee als Idee so wenig ihren praktischen Wert garantiert, dass beschränkte, ja ungeheuerliche Vorstellungen sich oft segensreicher erwiesen haben als tiefere —: wo der Akzent des Wesens auf der Erscheinung ruht, ist diese transfiguriert; sie bedeutet nun, was zu ihrem Eigen-Sinn in gar keinem Verhältnis, ja kaum in Beziehung steht; sie wird zum Ausdruck des Absoluten. So haben die Völker des Westens, trotz ihrer Seelenblindheit, ihrer Beschränktheit, ihrer Einseitigkeit und Intoleranz, ja man kann beinahe sagen, wegen ihrer, von allen am meisten bisher für die Menschheit als Ganzes geleistet; sie allein haben es unternommen und verstanden, die Ideale, die sie fortschreitend erkannten, in dieser Welt auch fortschreitend zu verwirklichen.

Das Medium dieser Verwirklichung war nichts anderes als der Parteigeist, das Grundmotiv der Glaube an den absoluten Wert und die Substantialität des Individuellen; aber die wirkende Kraft war das Ideal. So führt der normale Weg des Fortschreitens von selbst aus den Beschränkungen hinaus. Niemand wohl ist in engerem Sinne religiös gewesen, als die amerikanischen Pilgerväter; lange hat jenseits des Ozeans die grausamste Intoleranz geherrscht; furchtbar zumal waren die Verfolgungen, welche die Mormonen ausstehen mussten. Aber weil das principium individuationis in Amerika auf die Spitze getrieben ward, brach diese dort am frühesten ab. Sekten über Sekten entstanden dort, jede wähnte sich zuerst im Alleinbesitz der Wahrheit, schloss sich streng von allen übrigen ab. Aber da von allen Amerikanern die schlechthinige Freiheit des Individuums als Grundprinzip einer politischen Weltanschauung anerkannt ward, so konnte es auf die Dauer nicht fehlen, dass ein Individuum das andere gelten ließ; Duldsamkeit löste langsam aber auch unaufhaltsam die ursprüngliche Unduldsamkeit ab. Damit nun war etwas angebahnt, was unzweifelhaft einen Höhepunkt in der bisherigen Menschheitsentwickelung bezeichnet: eine Praxis, welche ideell auf der indischen Weitherzigkeit fußt, die alles Besondere als selbstverständlich gelten lässt, aber de facto von der ganzen Kraft beseelt wird, die persönliches Wollen beruft. Mit anderen Worten: die neueste Entwickelung der westlichen Menschheit führt unter Wertbetonung des Individuellen zum gleichen Zustand, wie unter Indern die Nichtachtung des Individuums.

Wird die westlich-christliche Lebensstimmung jemals vom Geist metaphysischen Wissens beseelt, dann mag sie wohl noch dereinst das vollkommenste Leben aus sich hervorbringen, das hienieden theoretisch denkbar erscheint. Wenn die christliche Liebe bis heute ebensoviel Unheil wie Heil verursacht hat, so liegt dies daran, dass sie noch allzu sehr mit dem naturhaften Gefühl zusammenfällt, das mehr ein Nehmen- als ein Gebenwollen ist und beinahe durchaus mit einem weiteren Egoismus zusammenfällt. Wenn die christliche Stellung zum Sterben im Ganzen unedler wirkt, als die buddhistische, so beruht dies darauf, dass sie den Nachdruck nicht auf das Opfer, sondern das Behalten legt, auf Vergeltung des Leids und ein Wiederfinden alles Verlorenen in einer besseren Welt. Allein keine dieser Auffassungen hängt mit unserer Lebensanschauung notwendig zusammen. Was diese wesentlich kennzeichnet, unabhängig von allen zeitbedingten Vorstellungen, sind die Wertbetonung des Individuellen und das Jasagen zum persönlichen Schicksal; diese jedoch, vom Geiste wahren Wissens beseelt, bedingten ein höheres und volleres Leben, als das indische Detachement. Auch die Inder reden vom Opfer, das jeder bringen soll: doch was bedeutet das Aufgeben dessen, woran einem nichts liegt? Wer das Leben nicht ernst nimmt, hat leicht verzichten. Das Nicht-Ernstnehmen aber beweist, außer in seltenen Ausnahmefällen, Unaufrichtigkeit. Wir sind nun einmal Individuen, irdische, leidensfähige Wesen, hängen mit unserem ganzen empirischen Bewusstsein zusammen mit dieser Welt; also lügen wir, indem wir behaupten, sie wäre uns nichts; oder lügen wir nicht, so offenbaren wir damit in den meisten Fällen, nicht dass wir weltüberlegen sondern stumpf und gefühllos sind. Jedenfalls aber beweisen wir physiologische Opferunfähigkeit. Als Opfer kann nur das Hingeben gelten, welches weder auf größeren Gewinn hin geschieht, noch ein als wertlos erkanntes betrifft. Im freudigen Opfernkönnen und -wollen allein nun sind wir entworden, wie Meister Eckhart sagt, unseres Ich entkleidet, und insofern praktisch eins mit Gott — keine Lebensstellung aber legt solch wahres Opfern näher als die westlich-christliche. Sie ermöglicht in der Idee die weitaus freieste zum Tod. Wer da stirbt, gibt wirklich sein Leben hin; denn mag seine Seele fortleben — der Mensch, als welcher er sich kennt und anderen lieb ist, ist auf immer dahin. Im vollen Bewusstsein dessen gern zu sterben oder ein geliebtes Wesen willig hinzugeben, bedeutet buchstäblich ein Überwinden des Todes, denn wer so schenken kann, rein hingeben ohne wieder nehmen wollen, ist hinaus damit über alle Natur. — Nicht anders steht es mit der christlichen Liebe. Besser entschieden als sich und die Welt gleich gering zu schätzen, ist seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, schon deshalb, weil sich selbst doch jeder liebt. Nur muss die Liebe, um einen Ausdruck metaphysischen Wissens zu bedeuten, rein geberisch sein, ein sonnenhaftes Strahlen, Wärmen, Lebenspenden, ohne Vorbehalt, Absicht und Ausschließlichkeit. Weil sie dieses nicht ist in der christlichen Welt, sondern im Ganzen ein Ausdruck von Selbstsucht, bietet diese ein häßlicheres Schauspiel dar, als die gleichgültigere des Orients. Allein sie kann es, muss es werden bei fortschreitender Erkenntnis; der psychische Körper ist da, bedarf bloß der Durchgeistung, und diese geschieht schon. Ist sie aber vollendet, dann wird das göttliche Licht an der christlich gestimmten Seele ein vollkommenes Medium besitzen. Anstatt, wie in Indien, nur in der geistigen Sphäre zu leuchten, oder in der des Empfindens, wie im buddhistischen Japan, oder allein, wie im Westen bisher, dem Handeln die Richtung zu weisen, wird es den ganzen, vollen Menschen beseelen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME