Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Ostwärts: Relativität aller Gestaltung

Je weiter ostwärts ich gelange, desto intensiver erscheint die Kultur, desto selbstherrlicher der Mensch im Naturzusammenhang; fast möchte man glauben, hier bestimme er durchaus ohne seinerseits bestimmt zu werden. Geringeren Witterungszufällen hat er durch regulierende Eingriffe (Wasserableitung, Stauung, Düngung) vorgebeugt, katastrophalen durch Versicherung; sein Acker trägt nicht, was er mag, sondern was er soll, seine Kühe sind milchergiebiger, als ihrer Natur entspricht, fehlende Hände ersetzen Maschinen. Und durch vorausschauende Abstimmung seiner Privatproduktion auf die Erfordernisse des Weltmarkts hat er recht eigentlich im ökonomischen Weltzentrum Fuß gefasst, so dass er sich ohne weiteres dem anschmiegen und dergestalt zu seinem Vorteil nutzen kann, wem er sonst als einem Fatum unterläge. Meine Gedanken ziehen zaumlos diesen Möglichkeiten nach, ich verliere sie aus den Augen. Auf einmal entdecke ich, dass sie zum Gegenpol des amerikanischen Lebens hinübergeschweift sind, dem Zustande, der nicht in schöpferischem Tun, sondern in Hinnehmen und Erleiden wurzelt. Und wie es in solchen Fällen leicht geschieht, sehe ich diesen jetzt in einseitig günstigem Licht. Die spezifische Kultur, welche dort erwächst, wo der Mensch sich der Natur nicht überlegen dünkt, wo er sich, im Gegenteil, unterworfen fühlt einem übermächtigen Geschicke, wird in Amerika niemals entstehen, — und doch umfasst sie einen großen Teil des Höchsten, was die Menschheit für sich anzuführen hat. Wie edel ist der Stolz des Wüstensohns, der sich vom Schicksal schlechthin abhängig glaubt! Wie tief ist das Naturgefühl des indischen, des russischen Bauern, die sich beide als geringste Elemente fühlen im All! Und wie Erhabenes hat das gleiche Wurzelbewusstsein in China hervorgebracht! Nein: Demut, Bescheidenheit, Nichtigkeitsgefühl bedeuten nicht, wie Amerika wähnt, ein durchaus Negatives, auch sie können Quellen sein der höchsten Kraft. Sie waren es zu allen Glanzzeiten des Christentums. Ich gedenke der Bachschen Musik: diese Tiefe, diese Kraft offenbart sich nur dort, wo der Mensch sich nicht als Herr, sondern als Knecht empfindet; nicht als wesentlich Handelnder, sondern als einer, mit dem wesentlich geschieht. Die Bewusstseinseinstellung, die der jüngsten Weisheit des Westens als einzig richtige gilt, ist in Wahrheit nur eine unter vielen, und ihre Vorzüge ändern an der Tatsache nichts, dass sie die Erlebnisse eines Laotse und eines Augustin, eines Bach und eines Luther, eines Tolstoy und eines Buddha ausschließen.

O über die Relativität aller Gestaltung! Jede ist fähig, das Tiefste zum Ausdruck zu bringen, aber keine sagt alles und keine absolut mehr, als andere, scheinbar geringwertige. Gewaltiges wirkt das Bewusstsein, mit der Gottheit eins zu sein: gewaltiges nicht minder der Glaube an die eigene Erbärmlichkeit. Beide Auffassungen des Verhältnisses von Mensch und Gott sind eben empirisch gleich richtig, oder können es doch sein. Sündbewusstsein entsteht notwendig bei seelischer Vertiefung, weil bei deutlicherem Innewerden des Atman auch die persönliche Unzulänglichkeit fortschreitend deutlicher wird; wer sich mit seiner Person, nicht seinem überpersönlichen Selbst identifiziert, der muss erfahren, dass nicht er handelt, sondern dass mit ihm geschieht, dass er allen Fortschritt der Gnade dankt. Keine Form tangiert den Atman an sich selbst: nur darauf kommt es an, wie tief der Mensch sich selbst in beliebiger Form realisiert. Wie die Mystiker Persiens aus den rohen Suren des Koran sublime Weisheit herauslasen, wie die Ilias den Griechen als Moraltextbuch galt und die züchtigste Christenheit an den verfänglichsten Stellen ihrer Bibel niemals ein Ärgernis fand, so kann jede Gestalt zum Ausdrucksmittel des Höchsten werden; aber in jeder stellt dieses sich besonders, ausschließlich und einzig dar. Die jüngste Auffassung des Christentums wird die älteren nie überflüssig machen. Unheilbar Kranken frommt Leugnen des Krankseins nicht; die kommen geistlich weiter durch den Glauben an eine Prüfung. Als Jüngerin der christlichen Wissenschaft wäre Adèle Kamm nie zur Heiligen geworden, sie hätte sich im Gegenteil verhärtet in fruchtlosem Widerstand. Den Vorzügen der Karma-Lehre stehen die Nachteile entgegen, dass sie alles Unglück als Sühne mithin als Abschluss deutet, wodurch dieses seines produktiven Einflusses verlustig geht, und in ihren Bekennern die schlimme Neigung großzieht, in jedem Missgeschick eines anderen eine verdiente Strafe zu sehen. Wer mit dem New thought den positiven Charakter des Übels leugnet, macht die günstigen Wirkungen, die es als Strafe, Prüfung oder Ansporn aufgefasst ausübte, erst recht unmöglich, und wird im übrigen der Tatsache nicht gerecht, dass es unstreitig kein absolut-Negatives ist: des einen Unheil bedeutet immer zugleich eines anderen Heil, denn kein Einzelnes hat seinen Sinn in sich, es empfängt ihn vom Ganzen. Hinnehmen, Ausharren, Mit-sich-Geschehen-lassen hat sein absolut-Gutes. Und es erweist sich als einzig-ersprießliche innere Stellung zum Weltprozess zu kritischen Zeiten, wo Naturkatastrophen, Revolution und Krieg alles Wollen des Einzelnen zunichtemachen, wo das Fatum alle Menschenordnung zerreißt. Denn es gibt wirklich ein überpersönliches Schicksal, fasse man es als Vorsehung auf im christlichen Sinn, als Rassen-Karma, oder unbefangener und gegenständlicher, als Moira, eine allgemeine kosmische Notwendigkeit, die Resultante alles des, was je geschah, die meist unmerklich waltet und oft zusammenfällt mit den Ergebnissen menschlicher Voraussicht, sich manchmal jedoch zu souveräner Persönlichkeit verdichtet und völlig eigene, unerkennbare Ziele verfolgt, — der Moira gegenüber aber hilft alles Pochen auf Selbstherrlichkeit nichts. Und selbst wenn es anders wäre, selbst wenn die ganze moderne weiße Menschheit sich zum amerikanischen Optimismus bekehren könnte, bedingte dies doch keinen absoluten Fortschritt: es bedeutete nur, dass zu gewisser Zeit eine bestimmte Gestalt dem Leben die besten Gelegenheiten bietet, dass der Hippos dem Hipparion gefolgt ist; und bewirkte zugleich das Aussterben der Form der Größe, die uns an Luther, Augustin und Bach so einzig verehrungswert scheint.

Der selbstherrlich-selbstbewusste Mensch, gleich allen Vollendungstypen, schließt die übrigen nicht ein sondern aus. Gleichwohl ist es gut, dass er zum Ideal ward: dies bezieht aller Dasein auf einen tieferen Grundton. Der Atman ist schöpferische Spontaneität; wer sich selbstherrlich weiß, wurzelt tiefer in ihm als wer sich abhängig fühlt. Indem der Mensch sich aus einem wesentlich bestimmten zum bestimmenden Teil der Natur verwandelt, durchmisst er in der Sphäre des praktischen Lebens die gleiche Entwickelung, die den Theisten zum Mystiker hinaufführt. Empirisch hat jener so recht wie dieser; Gott wird als Du oder als Ich erlebt, je nachdem wo das Bewusstseinszentrum ruht; doch wer Ihn als Ich erlebt, erlebt Ihn tiefer. So wurzelt der selbstherrlich-bestimmende überhaupt unmittelbarer im Sein als der hinnehmend-Erleidende. Und dass dem so ist, beweist hier nicht allein, wie beim Mystiker, das subjektive Gefühl, sondern die objektive Erfahrung: diese tut dar, dass der Mensch wirklich zum Herrn der Schöpfung berufen ist. In unserer Welt besitzt die Moira nicht ein Tausendstel der Macht, über die sie unter den Griechen verfügte, welche hemmungslos ihre Leidenschaften auslebten und dergestalt selbst die Gewalten schufen, die sie verdarben; die Elementarkräfte haben wir uns zum großen Teil botmäßig gemacht. Gewinnen wir je gleiche Herrschaft über uns selbst, und üben sie mit vollem Verständnis aus, so mag es dahin kommen, dass einer pessimistischen Weltansicht, weil kein Erleiden mehr verhängnisvoll erschiene, aller Boden entzogen sein wird; dass der Mensch, äußerlich Herr der Natur, über allen Zufällen innerlich erhaben, des Sinns des Guten wie des Bösen voll bewusst, der Vorsehung Amt übernimmt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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