Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Ostwärts: Die fortschrittliche Menschheit

In Amerika schweift meine Einbildungskraft unaufhaltsam in eine bessere Zukunft voraus. Dies beweist, wie sehr der Fortschrittsbegriff dieser Welt gemäß ist. Hier hat das reflektierende Bewusstsein das ganze Leben soweit durchdrungen und erfasst, dass seine Eigenart bestimmt, seine Normen das Geschehen regulieren und seine Ideale als schöpferische Kräfte wirken. Wieviel Macht besitzt der Geist über die Natur! An Originalität, Beweglichkeit, Erfindungsgabe stehen die führenden Völker der Moderne den alten Griechen hundertfältig nach. Allein die Entwickelung dieser, so vieldimensional sie war und so weit sie führte, fand nicht unter dem Zeichen des Fortschritts statt. Sie lebten richtungs- und hemmungslos ihre Gaben aus, unbefangen wie die indische Phantasie, und nach knapp zwei Jahrhunderten der Herrlichkeit waren sie am Ende; seitdem faulten und verdarben sie nur, so viel geistige Fermente sie auch weiter ausschieden. Jene nun pflanzen ihre Ideale unter dem Fortschrittsgesichtspunkt systematisch dem Leben ein, was den physiologischen Prozess, der an sich endlich ist, dem unendlichen geistigen unterordnet. Darum ist keine Ursache abzusehen, weshalb sie je im Ganzen verderben und sich fortzuentwickeln aufhören sollten.

Die neue fortschrittliche Menschheit hat zum Beruf, in progressives Leben umzusetzen, was von den Ideen aller Zeiten im Guten irgend fortwirken kann. Zu diesem Umsetzen ist sie, ihrer besonderen Physiologie nach, einzig begabt, so sehr sie in anderen Hinsichten versage. Die hellenischen Ideale sind realere Mächte in unserer Welt als in der antiken; irgendeinmal wird gleiches von den indischen Einsichten gelten. Heute freilich sind kaum die Vorarbeiten zum ersten Anfang dessen erledigt, was unsere Bestimmung scheint, die gegenwärtigen Zustände bedeuten embryonale Phasen. Wer in ihnen aufgeht, leistet wenig für die Dauer. Ich persönlich bin von zu alter Kultur, um am Vorläufigen Befriedigung zu finden; ich könnte nicht Bastillen stürmen, auf Barrikaden kämpfen, weil ich weiß, dass es dabei nichts Wesentliches gilt. Zum Revolutionär-, zum Pioniertum bedarf es der Blindheit. Allein wo ständen wir, gäbe es die Blinden nicht? Die Phagozyten, die im Blut todbringende Mikroben bekämpfen, wähnen gewiss, dieser Krieg sei ein Endzweck; und dächten sie anders, kein Mensch würde leben. Mehr als alle haben die Sehenden Grund, die Blinden zu achten, denn ihnen danken sie ihre Daseinsmöglichkeit. Der Versteher ist möglich nur deshalb, weil Millionen von Unverständigen sich opfern. Eine Welt, in der deren Meinung dominiert, kann ihn freilich nicht freuen, aber worauf hat er auch Anspruch?

Nous n’avons pas le droit d’être fort difficiles, schrieb schon Renan. Dans le passé, aux meilleures heures, nous n’avons été que tolérés. Cette tolérance, nous l’obtiendrons bien au moins de l’avenir. Un régime démocratique borné est, nous le savons, facilement vexatoire. Des gens d’esprit vivent cependant en Amérique, à condition de n’être pas trop exigeants. Noli me tangere est tout ce qu’il faut demander à la Démocratie. Et peut-être la vulgarité générale sera-t-elle un jour la condition du bonheur des élus.
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME